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können, ohne daß ein schlecht angeweudetes Verbum, ein unrichtiger Satzbau störten. Dieses Sichselbstleben war es, was sie am meisten entbehrte, wozu ihr die Schule nie Zeit ließ. Denn wie sollte sie es können, bei abgespannten Nerven und müder Stimmung! Diesmal freute sie sich doppelt auf die Ferien. Sie hatte gespart, fast gescharrt, um sich einmal auch etwas zu gönnm. Sie wollte das Meer sehen, sich mit eigenen Augen vou dessen Schönheit überzeugen, dessen stärkende Kraft für abgearbeitete, gehetzte Menschen mitgenießen. Mit klopfendem Herzen und fliegenden Pulsen stand sie zum erstenmal am Ufer und starrte leuchtenden Auges in die wildbewegte See. Es hätte nicht viel gefehlt, sie hätte wie ein Kind in das Toben und Rauschen hinein gejauchzt. Wie schön, wie großartig schön war das, wie nahm es ihr Herz und Sinne gefangen! Sie hätte den murmelnden Wellen, die eilfertig sich überstürzend näher kamen, entgegenlaufen mögen. Ihre Glieder reckten sich, ihre Brust weitete sich — sie vergaß ihr einsames Daheim, den aufreibenden Kampf ums tägliche Brot, den sie seit Jahren führte, ihren sie wenig befriedigenden Beruf. „Fräulein, welche Unvorsichtigkeit, wollen Sie von den Wellen mit fortgerissen werden?" hörte sie plötzlich eine Männerstimme sagen. Zu gleicher Zeit fühlte sich an der Hand gefaßt und mit fortgezogen. Der Warner hatte nur zu recht. Eine große Welle fiel eben prasselnd auf die Stelle, wo sie gestanden. Er schreckt drückte sie die Hand des Fremden, der sie gerettet. Er ließ ihre Hand nicht los, als fürchtete er, sie suche, sie wolle den Tod. Fast hätte sie bei dem Gedanken auf gelacht: den Tod suchen — jetzt — wo sie eben erst er kannt, wie schön das Leben sein kann! Als sie oben am Ufersteig anlangten, ließ er ihre Hand los, grüßte stumm und wollte sich entfernen. Sie sah ihn an: ein von der Sonne gebräuntes, fein geschnittenes Gesicht, mit einem ernsten, fast feindlichen Ausdruck, aus welchem große, dunkle Augen trübe blickten, Augen, wie sie sie liebte. Verwirrt neigte sie den Kopf und ließ ihn gehen. Dann, sich erinnernd, welchen Dank sie ihm schulde, eilte sie ihm nach. „Mein Herr, wie soll ich Ihnen danken? Sie haben mir vielleicht das Leben gerettet." Fast schüchtern kamen die Worte von ihren Lipgen, als schämte sie sich ihrer Vergeblichkeit, ihrer Undank barkeit. Jäh hatte er sich bei ihren ersten Worten gewandt, und ohne die dargebotene Hand zu ergreifen, ohne sie an zusehen, bat er: „Bitte, sprechen Sie, sprechen Sie. Ich muß Ihre Stimme noch einmal hören." Noch verwirrter wiederholte sie ihren Dank. Nun bat er, sie nach Hause begleiten zu dürfen. Sie hatte sich vor genommen, keine Bekanntschaften zu machen, aber in diesem Falle konnte sie nicht nein sagen. So gingen sie nebeneinander her. Er sprach non diesem und jenem, fragte sie manches, lauter unverbind liches Zeug und lauschte, wie es schien, gierig ihren Worten — er wollte sie nur sprechen hören. Seltsam erschien er ihr. Er sah sie gar nicht an. Nur ihre Stimme wollte er hören. Wie sonderbar! An ihrer Tür bat er: „Kommen Sie zum Abend konzert? Ich liebe diese wenig geschmackvolle Musik nicht, aber ich würde in diesem Falle auch kommen." Sie schwieg. Er verstand ihre stumme Frage. „Sie sehen", er deutete auf seine Florbinde am Arm, „ich traure. Ich habe meine Frau, die ich über alles geliebt habe, verloren. Und Sie haben ihre Stimme. Wenn Sie sprechen und ich meine Augen schließe, dann glaube ich, sie, die teure Dahingeschiedene, zu hören." Nun begriff sie seine Bitte. Er war ein Unglücklicher. W.:s seine Augen verrieten, bestätigte sein Mund. Von Mitleid getrieben, versprach sie zu kommen. Und sie kam und ging mit ihm abseits der Menschen, fern der lauten Musik im Mondenschein unten am Strande auf und ab. Von dieser Stunde an war er ihr täglicher Begleiter. Sie hatte eigentlich wenig von dem schweigsamen Manne, -er keine Fröhlichkeit auskommen ließ. Sie hatte sich die Ferienzeit am sonnigen Meer lachender gedacht, aber sie ging ihm doch nicht aus dem Wege. Ja, sie vermied sogar die andern Menschen, die sich ihr genähert, um sich ganz ihm widmen zu können. Er brauchte sie. Und in diesem für jede Frau so sympathischen Gefühl des Nötigseins lag ihr Lohn. Es brachte ihr den füllen verschlossenen Mann von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde näher, ohne daß sie sich's eingestand, eingestehen wollte. Mit einer Angst, für die sie keine Erklärung fand, sah sie das Ende der Ferien heranrücken. Die Stunde der Abreise war nicht mehr fern, das alte Joch winkte bereits. Sie waren, wie er es liebte, im Boot hinausgefahren. Das Segel glitt nur langsam, weil der Wind gering war. Die Schiffer wollten das Segel einziehen und rudern. Er verhinderte es und ließ das Boot treiben. Keiner von beiden sprach ein Wort. Sie hatte ihm eben gesagt, daß sie morgen nach Hause reisen werde. Er hatte sie erschreckt, fast fassungslos angesehen und von dem Augenblick an nicht mehr gesprochen. Sie fühlte seine Trauer über ihr Fortgehen und auch ihr war das Herz zum Brechen schwer. Sie wußte, daß sie von neuem zu überwinden anfangen müsse. Sie schauderte vor den alten Verhältnissen, die ihr jetzt nach diesem Lichtblick noch unerträglicher sein würden. Als sie wieder festen Boden unter ihren Füßen hatten, machte er ihr den Vorschlag, nach der Südspitze zu gehen. Dort wären für gewöhntlich wenig Menschen, und von dort aus konnte man auch so schön die Sonne untergehen sehen. Sie fröstelte bei seinen letzten Worten. Ja, für sie ging die Sonne wirklich unter. Sie nickte stumm, und sie gingen schnellen Schrittes dem Ziele zu. Wäre sie nicht so erfüllt von ihrem eigenen Weh gewesen, so hätte sie bemerken müssen, wie auffallend bleich er aussah und wie er mit einem Entschluß rang. Er hatte sie vorhin, als sie von der Abreise gesprochen, zum erstenmale richtig angesehen. Was für ein liebes Ge sicht, was für gute, treue Augen sie hatte! Sie sah ordent lich hübsch aus trotz ihres einfachen, geschmacklosen Kleides, ihrer unmodernen Jacke. Und als sie nun mit ihrer süßen Stimme, die ihn aus der Lethargie des Schmerzes auf gerüttelt hatte, die ihn an die heißgeliebte Frau erinnerte, ihm für manche Freundlichkeit dankte und ihn bat, auch manchmal ihrer zu denken, da kam es über ihn. Er nahm ihre Hände, die sie ihm willenlos überließ, fest in die seinen, als wollte er sie nie mehr fortlassen. Seine Kinder brauchten eine Mutter, sein verödetes Haus eine Hausfrau, er felbst einen Menschen, der ihn in seiner Trauer verstand. Warum sollte es nicht das sympatifche, gebildete Mädchen sein? Es stand allein auf der Welt und er auch. „Zch kann mich nicht von Ihnen trennen. Wenn Sie nichts Liebes in der Welt haben, wenn Ihr Herz frei ist, so biete ich Ihnen eine Heimat bei mir. Seien Sie meinen armen Kindern eine liebevolle, sorgsame Mutter, mir eine gute Freundin, und ich werde es Ihnen danken. Ich verlange nicht Ihr Herz, denn das meine hat — die Tote mit ins Grab genommen. Schlagen Sie ein. Auf gute Kameradschaft!" Ein tiefes Erröten, ein leichtes Zaudern und — sie schlug ein. Sie bat ihn, sie allein zu lassen. Das Herz war ihr zu voll. Die Abendschatten senkten sich schon tief herab, und sie stand noch immer allein und sah versonnen aufs Meer hinaus. Das Glück war gekommen, jene Welle, die ihr Leben bedrohte, hatte es gebracht. Sie hatte ein glänzendes Heim gefunden und dazu den Mann, den sie heimlich liebte. Das war viel — sehr viel, und doch zu wenig für ihre verlangende Liebe, ihre dürstende Seele, wenn jene Tote ihn nicht freigab. Diese besaß sein Herz — und ihr bot er sich zum guten Kameraden an. Und doch war ein jubelndes Glück in ihr, hoffnungs freudig streckte sie ihre Arme dem flimmernden, glitzernden Meere entgegen, dem sie so viel verdankte, und rief laut in die Lüfte: „Die Lehende hat recht." Und sie war di« Lebend«!