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NM lleise Mi. Roman von H. C o u r t h s - M a h l e r. 58> Ivtachd'.l ck verdctrn.) Einige Stunden später saßen mehrere Her ren vom Gericht nm aas Bett der Kranken. Der Oberarzt und die Schwester standen zu Seiten ihres Lagers. lind die Kranke legte ihre Beichte ab und besiegelte ihre Aussage mit ihrem Eid. Auch berichtete sie den Herren, daß in ihrer Wohnung an einem bezeichneten Plaß allerlei zu sindcn sei, was ihre Aussage mit Beweisen unterstütze. Auf demselben Plaß befinde sich ein Brief, in dem sie für alle Fälle schon vorher ihre Beichte niedergeschrieben habe. Dieser Brief sollte an seine Adresse befördert werden. Den Schlüssel zu ihrer Wohnung — Fran Hartmann stand ganz allein in der Welt — händigte sie den Herren ein. Zugleich bestimmte sic, daß ihre kleine Hin terlassenschaft zu Nutz und Frommen armen Waisenkinder Berwendung finden solle, da sie keine direkten Erben hatte. Als sie ihr Herz er leichtert hatte, fragte sie die Herren vom Ge richt ang-woll, ob sie, wenn sie wieder gesund würde, eine schwere gerichtliche Strafe zu gewär tigen habe. Ter Oberarzt hatte den Herren vor her mitgcteilt, wie es um die Kranke stand und daß er nur geringe Hoffnung habe, sie durch eine Operation zu retten, daß diese Hoffnung aber noch geringer sein würde, wenn es nicht gelang, die Kranke zu beruhigen. Er sah nun die Herren verstohlen mahnend an und der eine von ihnen räusperte sich und antwortete der Kranken, daß ihre Schuld verjährt sei und daß sie keilte Gefängnisstrafe mehr treffen würde. Da sank die Kranke weinend, aber iin Her zen beruhigt in ihre Kissen zurück. Die Herren entfernten sich mit dem wichtigen Schriftstück und begaben fick, in die Wohnung der Frau Hart mann. Dort fanden sie an dem bezeichneten Ort die angegebenen Beweisstücke nebst einem an Baron Rudolf Hochberg auf Schloß Eckarts berge adressierten Brief, der mit zu den Akten genommen wurde, damit er rechtsgültig beför dert werden konnte. Die Operation der Frau Hartmann glückte zwar am nächsten Tage, aber die Kranke ver schied dennoch am Tage daraus infolge einer unvermeidlich gewordenen Komplikation ihres Leidens. * Frau von Saßneck hatte Annis Brief er halten und übergab ihrem Neffen die für ihn bestimmte Einlage. Norbert las Annis Zeilen — und stumm ging er aus dem Zimmer. Sein Gesicht war wie versteinert Um Schmerz. Er konnte und wollte es nicht fassen, daß Anni für ihn verloren war. Und daß sie ihm nicht einmal ein letztes Wiedersehn gestattete, brachte ihn der Verzweiflung nahe. Er hatte sich noch in keiner Weise zu be ruhigen und zu trösten vermocht und er wußte, daß alle Sonne ans seinem Leben verschwunden war, wenn Anni für ihn verloren war. Stundenlang lief er, immer wieder ihren kurzen Brief lesend, auf den beschneiten Pfaden umher. Die schneidende Januarkältc durchdrang ihn, so daß er meinte, das Blut in seinen Adern müsse erstarren. Aber sein heißes Herz spottete der Kälte und trieb das Blut unruhig durch die Adern. Todmüde, wie nach langer, schwerer Arbeit, kehrte er endlich heim, und nachdem er sich um gekleidet hatte, suchte er seine Tante auf. l „Tu hattest doch auch Nachricht von Anni, Tante Elisabeth?" fragte er mit unruhig bren nendem Blick. Sie sah ihn kummervoll besorgt an. „Ja, Norbert" „Hat sie Dir ihre Adresse angegeben?" „Nein, 'ich soll ihr postlagernd schreiben." Er lächette bitter. „Wie sorgsam sie ist, um sich vor mir zu verbergen. Aber Du kannst nur doch wenig stens sagen, wohin sie sich gewandt hat, wo hin Du diese postlagernden Briefe senden sollst!" Frau von Saßneck seufzte leise und sah ihn fest und entscküossen an. „Ich möchte Dir auch das nicht sagen, Nor bert, jetzt noch nicht. Werde erst ruhiger." Er blickte mit düsteren Augen in ihr Ge sicht. „Meinst Du, daß ich ruhig werden kann, wenn ich nicht weiß, was aus Anni geworden ist, wo sie sich befindet, in welchen Verhältnis sen sie lebt?" „Darüber kann ich Dir Auskunft geben. Sie lebt in einem Pensionat, ist gut aufgehoben und mit genügenden Mitteln vorläufig versehen. Daß ich ihr meine weitestgehende Hilfe angebo ten habe, habe ich Dir bereits gesagt. Ich bat sie auch um ihre Adresse, doch verweigert sie auch mir vorläufig dieselbe, aus Angst, Du könntest sie erfahren und ein Wiedersehen erzwingen wollen." Wieder umflog seinen Mund ein bitteres Lächeln. „Weil sie weiß, daß ich sie nicht mehr von mir lassen würde, und weil sie dann nicht mehr den Mut hätte, sich mir zu verweigern. Sie sehnt sich nach mir, wie ich nach ihr, das fühle ich. Und sie fürchtet sich selbst, viel mehr noch, als mich." „Um so mehr müßtest Du ihren Entschluß ehren." Er biß die Zähne zusammen. Dann sagte er düster: „Ach, Tante Elisabeth, wie leicht ist das zu sagen — und wie schwer, es zu tun. Wenn Du wüßtest, in welchem Zustand ich mich befinde, io würdest Tu einsehen, daß solche Worte kei neu Eindruck auf mich machen können. Ihren Entschluß ehren? Einen Entschluß, den sie sich mit tausend Oualen abgerungen hat in ihrer Herzensangst, mir zu schaden, einen Entschluß, den sie ianchzend aufgeben würde, könnte ich sie überzeugen, daß er mich unglücklicher macht, als wenn ich Saßneck aufgeben muß. Das ist cs ja, was mich am ärgsten quält, die Gewiß heit. daß sie leidet, Hürter noch als ich. Meine Gedanken suchen sie Tag und Nacht da draußen im Ungewissen. Sie ist allem Möglichen preis- gegeben, sie, der ich meine Hände unterbreiten möchte, daß sie an leinen rauhen Stein stößt. Wie sich ibre Seele wund reiben wird unter den fremden Menschen, die verständnislos an ihrem Leid vorübergehen. Ich ertrage den Ge danken nicht, daß ich es war, der sie aus Saß neck trieb, aus dem sicheren Hafen, in den Du sie gebracht hattest. Wenn ich geahnt hätte, wie sic meine Eröffnung au nehmen würde, ich hätte ja geschwiegen von meiner Liebe und wäre glücklicher gewesen, wenn sie hier still neben mir lebte, als jetzt. Was mir erst unerträglich schien, ersehne ich jetzt in heißer Angst um sie. Alles wäre mir erträglicher als der Gedanke, daß sie allein da draußen in der Welt umher irrt mit ihrem Schmerz." Frau von Saßnecks Augen füllten sich mit Tränen. „Mein armer Norbert — arme Anni! Auch mir ist der Gedanke schmerzlich. Aber daß An ni jetzt noch in Saßneck leben könnte, ist aus- geschlosicn. Tas mußt Du Dir doch sagen. Ich bitte Dich, gib auch der Vernunft Gehör. Du bist ja ganz aus dem Gleichgewicht. Und beruhige Dich über Annis Schicksal. Mein Wort darauf, ich sorge in liebevollster Weise für sie. Wie, das weiß ich noch nicht. Aber in erträg liche, lebenswerte Verhältnisse soll sie kommen, das verspreche ich Dir. Es ist mir doch selbst Bedürfnis. Vorläufig niuß ich sie erst zur Ruhe kommen lassen, und auch Du solltest ver suchen, ruhig zu werden. Laß noch einig« Wochen dahingehen, dann wird sie mir schon ihre Adresse geben. Und dann will ich sie selbst aufsuchen und dafür sorgen, daß sie in eine freundliche und friedliche Umgebung kommt. Jetzt will sie auch mich noch nicht sehen, ich kann ihr das nachfühlen. Solche Stunden muß man allein durchkämpfen." Norbert trat ans Fenster und starrte hin aus. Die Welt schien ihm unter der Schnee decke wie unter einem großen Leichentuch ver graben zu sein. Ihm war zumute, als wenn alles, was wann und schön war, erstarren! müßte. Sein Herz wand sich unter Qualen und seine Gedanken suchten die serne Geliebte. Wo mochte sie weilen? Daß sie sich nach Berlin gewandt hatte, erschien ihm wahrscheinlich, weil sie sich ihre Sachen hatte dahin schicken lassen. Und wenn es auch nicht leicht war, dort jemand zu fin den, so nahm er sich doch vor, dorthin zu rei sen und nach ihr zu forschen. Was dann wer den sollte, wenn er sie wirklich fand, das wußte er jetzt nicht. Er wußte nur, daß er sie so nicht lassen konnte. Sein ganzes Sehnen gipfelte jetzt nur darin, sie wiederzusehen. Der Gedanke, daß er in Berlin nach ihr forschen wollte, belebte ihn etwas. Es stand doch wieder eine Tat vor ihm, nicht dieses tödliche Stillhalten und Ab Watten. Er gab aber diesem Gedanken nicht Worte, weil er wußte, daß Tante Elisabeth ihn würde zurückhalten wollen. Unter welchem Vorwand er sich von Saß neck entfernen sollte, das war ihm noch nicht klar. Darüber mußte er erst nachdenken, und dann einen günstigen Zeitpunkt abpassen. So verabschiedete er sich jetzt von der alten Dame und ging auf sein Zimmer zurück. Einige Tage vergingen, ohne daß etwas geschah. Norbert schien etwas ruhiger zu wer den. Er vermochte sich wieder mit Tante Eli- sabetb über alltägliche Sachen zu unterhalten und lief nicht mehr so rastlos und finster nm her. Frau von Saßneck atmete auf. Sie glaubte, das Schlimmste sei überwunden. Daß Norbert nur ruhiger schien, weil er sich entschlossen hatte, Anni in Berlin zu suchen, ahnte sie nicht. Und als er ihr endlich davon sprach, daß er 'm der nächsten Zeit auf einige Wochen verreisen wollte, um sich etwas zu zerstreuen und abzu lenken, pflichtete sie ihm eifrig bei. Sie hoffte, daß er anfange, sich in sein Schicksal zu er geben. Und nun wurde auch sie wieder ruhiger. Sie überlegte, was nun aus Anni werden sollte. Und da siel ihr Baron Hochberg ein. Dieser wußte noch nichts von dem, was ge schehen war. Auch er würde es tief beklagen, daß Anni fort war von Saßneck. Aber viel leicht konnte er ihr einen Rat geben, was sie in der ganzen Angelegenheit tun konnte. Und vielleicht sprach er einmal mit Norbert und half, ihn zur Vernunft zu bringen. So setzte sich Frau von Saßneck eines Tages an ihren Schreibtisch, berichtete ihrem Vetter alles, was geschehen war, und bat ihn um Rat, am liebsten um seinen Besuch. Es wurde ein langer, ausführlicher Brief, der ihr das Herz etwas erleichterte. (Fortsetzung folgt.)