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m seinem Ladoralormm sand. Ware der Augenblick nicht so traurig gewesen, sie hätte zum erstenmal nach langer Zeit lachen müssen. Der Graf sak in seinem Lehnstuhl am Jnslrumententisch, eine hohe Spitzmütze aus Zucker papier auf dem Haupt, die ihm das Ansehen eines Zauberers aus den Kindermärchen gab. Seine Miene hatte den Aus druck schmerzlicher Trauer, als er sagte: „Verzeih, Hertha, ich hab den Wagen gehört und gedacht, das kannst nur du sein, — aber ich habe den elek trischen Strom nicht unterbrochen." Sie trat näher und sah nun, daß von einem kleinen Induktionsapparate zwei Drähte in die Spitzhaube mündeten. „Du hast keine Idee", fuhr er fort, „wie mich diese Tage hergenommen haben! Ich bin ganz auf den Hund gekommen und kann kaum noch kriechen." Er wies nach der Papiermütze. „Da drinnen kreisen die Ströme, und das tut wohl, das stärkt. Ja Kind, das waren sehr schreck liche Tage! Die arme, arme Mama! Sie war mit allen ihren kleinen Schwächen eine gute, brave Frau. Das seh' ich erst so recht, nachdem ich sie verloren hab'!" Während er sprach, rannen ihm die Tränen über die Backen, und die Brust hob sich in Schluchzen. Hertha, die sich in der Nähe niedergelassen hatte, er hob sich und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Armer Papa! Ich glaub dir's, daß dich der Verlust doch schwer trifft. Wenn man so im alltäglichen Leben beisammen ist, hat man keine rechte Vorstellung, wie es wäre, wenn bas mit einemmal ein Ende hätte. Man lebt in den Tag hinein, ohne recht zu denken, daß das einmal auch anders werden kann." (Fortsetzung folgt.) ^ante Pküme. Von Walter Meiberg. (Nachdruck verboten.) Es schlummern in der gewaltigen Symphonie des Alltages hier und da Melodien, die oft erst nach langer, langer Zeit wieder aufklingen in wehmütigen Akkorden, wie ein stiller Grub aus längst vergessenen Tagen. Sie erwecken die Nachbarfiguren zu blüheudem, singendem Leben, mit ihnen erwachen wieder alle Stimmungen, die früher einmal traurig oder froh machten: es sind die Erinnerungen. Auch Tante Philine ist so eine Erinnerung. Noch junger Junggeselle, war ich frisch von der Universität herab nach Perblitz gekommen, um in dem weltvergessenen Nest meine Laufbahn als Beistand eines jovialen, alten Amtsrichters zu beginnen. Die ledige Jungmannschaft des Örtchens pflegte ihre Mahlzeiten in einem kleinen Gasthofe am Markt zu erledigen, in der „Krone". Auch ich schloß mich diesem guten Brauche an und fand in einer stillen Ecke ein heimliches Plätzchen, von wo aus ich bei Kalbsbraten und Backpflaumen gut beobachten konnte, wie ich es gerne tat. Das Speisezimmer war mittelgroß, voll gestellt mit kleinen Tischen, an denen sich junge Kaufleute, Beamte, und was sich sonst des Goldes werten, eigenen Herdes nicht erfreute, zur Mittagsmahlzeit einfanden. Einige aßen in kleinen Gesellschaften an zusammen gerückten Tischen, und es ging dort meist recht lustig und laut zu. Ein alter Kellner, der in der „Krone" grau geworden war, und dessen fettiges Notizbuch guten Aufschluß über die wirtschaftliche Lage so manchen Stammgastes geben konnte, befriedigte mit unendlicher Geduld und stets freundlichem Lächeln auf dem faltigen, bartlosen Gesicht die mannigfachen Wünsche seiner Gäste. Durch die niedrigen, mit weißen Gardinen verhängten Fenster konnte man auf den weiten, holprigen Marktplatz blicken, und besonders mittags um 12 Uhr, wenn die Blüte der Perblitzer weiblichen Jugend unter dem feintönigen Läuten der alten Marienkirchglocken mit blonden und braunen Zöpfen aus der Mädchenschule nach Hause huschte, ließen die Don Juans von Meier u. Co., Grün berger u. Sohn und wie die Lädchen alle hießen, die dampfende Nudelsuppe noch einen Augenblick stehen und Machten hinter den kleinen, viereckigen Scheiben ihre be scheidenen Eroberungen. Man war anspruchslos in Perblitz. Dann setzten sie sich geräuschvoll, knoteten die Servietten hinter den Ohren zusammen und ergingen sich zwischen Rindfleisch und roten Rüben in lebemännischen Wendungen über dir „Weiber". Neven meinem Platze stand vereinsamt ein gedeckte- Tischchen und wartete mittags auf seinen Gast. Es dauerte auch gar nicht lange, da ging die Tür auf und Tante Philine trippelte herein. So wurde die alte Dame von den Stammgästen genannt. Ihren Familiennamen nannte niemand. Tante Philine war ein kleines, zierliches Persönchen mit unendlich guten, klugen Augen. Das Haar verdeckte in altmodischen, noch glänzend schwarzen Wellm die schmalen Ohren, ein dunkles Spitzenhäubchen thronte auf dem dünnen, fest geflochtenen Zöpfchen, das keck in ein Nest gewunden obenauf saß. Das Gesicht war von tausend feinen Runzeln und Fältchen durchzogen und sah gütig und schmerzlich zugleich in die Welt. Tante Philine mußte viel erlebt haben, aber wenig Gutes. Vorsichtig schritt sie durch die Stuhlreihen, und überall wurde ihr freundlicher Gruß freundlich erwidert. Sie setzte sich dann still an ihren Platz, legte ein abgegriffenes Handtäschchen neben sich und holte ein weißes Tüchelchen daraus hervor, mit dem sie sich flüchtig Mund und Stirne betupfte, legte es wieder in das schäbige Ledertäschchen, und schloß es behutsam. Heinrich brachte ihr die Suppe, und nun entspann sich alle Tage ein eingehendes Gespräch zwischen den beiden alten Leuten über das Menü. Tante Philine hatte zu allem ihre kleinen Anweisungen zu geben und machte das bescheidene Mittagsessen zu einer Haupt- und Staatsaktion. Der gutmütige Kellner hörte andächtig zu und mußte ein über das andere Mal beteuern, daß er es auch ganz gewiß recht machen werde. Dann löffelte sie bedächtig und befriedigt die Suppe ohne aufzublicken. Der alte Treff, ein schwarzer Pudel, der scheinbar noch vor Heinrich rangierte und mit zum Inventar gehörte, stellte sich hierbei mit achtenswerter Pünktlichkeit schweifwedelnd bei dem stillen Gast ein. Er setzte sich neben den Stuhl und sah verständig zur Tante Philine auf. Manchmal legte er ihr wie fragend die wollige Pfote aufs Knie, und sie gab sich dann Mühe, recht entrüstet zu sein. „Aber Treff!" Das klang jedoch immer gütig und fast fröhlich, gerade als ob sie sich freute, daß wenigstens einer sich um sie bekümmerte. Während sie dann vorsichtig den heißen, dampfenden Kaffee löffelte, hörte sie den meist überlaut geführten Gesprächen der andern zu, lächelte wohl ein wenig über einen Scherz oder schüttelte mahnend den Kopf, wenn es einmal zu ausgelassen zuging. Das junge Volk! Aber sonderbar: selbst die tollsten zogen sich stets hinter die rechte Grenze zurück, wenn sie Tante Philines Mißbilligung bemerkt hatten. Gegen ^^2 Uhr winkte sie regelmäßig den Kellner heran, setzte das sicherlich schon ein paarmal wieder modern gewordene Kapotthütchen auf und trippelte unter freudlichem Großen aus dem um diese Zeit schon ziemlich vollgerauchten Lokal, bis an die Tür von Treff begleitet. Tante Philine begann mich zu interessieren. Man er zählte sich, daß sie sich schon lange mit derselben Pünktlich keit mittags in der „Krone" einfand; seit wann, wußte selbst der alte Heinrich sich nicht zu erinnern. Sie stammte aus einer alten Perblitzer Familie, die früher ihres Reich tums wegen im Örtchen hoch angesehen war. Ein widriges Schicksal hatte über Nacht diesen zerbrechlichen Ruhm in Trümmer geschlagen. Die Eltern hatten den Zusammenbruch nicht lange überlebt und die Tochter mit einer kleinen Rente allein in der Welt gelassen. Dann ging es ihr, wie es heute einem großen Heere allein stehender Mädchen geht: es hieß, selber Geld verdienen. Sie hatte in der Stadl Handarbeitsstunden zu geben ver sucht. Wer auch dieser spärliche Erwerb war nichts für sie, die bei ihrer großen Gutmütigkeit nicht geeignet war, die jungen Mädchen im Zaume zu halten. Sie machten sich über sie lustig, und so hatte sie sich verbittert ganz zurückgezogen. Die sogenannte Gesellschaft kümmerte sich auch nicht viel um das verschüchterte, alte Mädchen, von dem sich der berechnende Egoismus jetzt keinen Vorteil mehr versprach. So waren es eigentlich nur zwei Orte, an denen sie noch mit der Welt in Berührung kam: die Kirche und die „Krone". Gerade in der Krone fand sie in dem kleinen Kreise froher, junger Leute, unter denen sie als das einzige weibliche Wesen täglich eine Stunde saß, alles, was sie sonst vermißte: rücksichtsvolle Höflichkeit, verschwiegene Teilnahme und wohltuende Achtung vor ihrem einsamen Schicksal. Das tat dem vergrämten Herzen der alten Tante Philine wohl. (Schluß folgt.)