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letztes Mal helfen? Dieses Mal soll es gewiß nicht nutzlos gewesen sein." Ich aber sagte bestimmt: „Nein, Jürgens, mit so einem Ton lasse ich mir nicht kommen. Ich kann auch gar nicht mehr helfen, es ging das letzte Mal schon über meine Verhältnisse. Wenn Sie es ehrlich meinen mit Ihrem Besserwerden, wird sich schon ein Mittel und ein Weg für Sie finden. Aber zu essen will ich Ihnen geben, denn L>ie sind hungrig, das sieht inan Ihnen an." Meine letzten Worte schien er gar nicht mehr gehört zu haben, er trat dicht an mich heran und seine Stimme klang heiser vor Erregung: „Ich werde mir ein Mittel und einen Weg schaffen! Wer wie ich tn der Hölle ge wesen ist, für den gibt es kein Hindernis zum Leben!" Was es gewesen ist, das mir eine geradezu unglaub liche Ruhe gab, weiß ich heute noch nicht. Ich glaube aber, wir empfinden zuzeiten schon während der Gefahr ihren Ausgang, wenn es uns auch nicht klar ins Pe- wußtsein tritt. So sagte ich, an den Tisch tretend und mich dann nicht vom Fleck rührend: „Es ist gut. Das Leben wird schon wissen, was es mit uns Menschen > macht, und auch mir geschieht nur, was mir bestimmt ist. Also wenn Sie die Stirn haben — nach dem, was ich ! ohne jede äußere Veranlassung aus freier Entschließung und in bester Meinung für Sie getan habe — Gewalt an mir zu üben, so hindert Sie freilich nichts, denn meine Körperkräfte sind den Ihren gegenüber gleich Null. Ich füge aber noch hinzu, daß dieses Geld hier bittersauer ver dient ist, und daß ich selbst es notwendig gebrauchen muß." „Nicht so notwendig wie ich!" Und er sah mir einen Augenblick mit einem unvergeßlich — ich möchte fast sagen — mörderischen Blick in die Augen, während seine ! Brust keuchte. Dann ergriff er mich bei beiden Hand gelenken, schleuderte mich zurück, daß ich mich an einem Möbelstück anklammern mußte, um nicht zu fallen, raffte die drei Zwanzigmarkstücke und das Silbergeld zusammen und stürzte davon. Er hätte nicht zu stürzen brauchen. Ich folgte ihm nicht und ich dachte nicht daran, vom Balkon aus die Leute anznschreicn, daß sie den Räuber und Dieb halten möchten. Still setzte ich mich in einen alten ausgesessenen Korblehnstuhl, den ich noch aus Großmutters Zeiten besaß und der mein liebster Ruheplatz und zugleich mein „Sorgen stuhl" war und fing an bitter zu weinen. Nicht in erster Linie des Geldes wegen, das wäre wohl schließlich — trotzdem ich selbst tast in einer Notlage war daina.s — kindisch gewesen. Aber ich weinte, weil das, was da innen zu mir zu sprechen pflegte, so wenig echt und zuverlässig war. Ich weinte, weil ich mich nicht mehr aus mich selbst verlassen konnte. Denn ich hätte auf den unglückseligen Menschen geschworen, der durch zerrüttete Familienverbältnisse von Stufe zu Stufe gesunken war. Ich hielt ihn wohl für sehr haltlos und unselbständig, aber sür durch und durch ehrenhaft, wenn es darauf an kam. Und ich hatte mir von jeher eingebildet, einen be sonderen Blick für das menschliche Auge zu haben. Einen psychischen Fühler möchte ich sagen, der eben durch das Auge in die verschwiegensten Tieren einer Menschenseele hinabreichte. Kurz, ich glaube, ich weinte, weil ich für mich selbst in meinen eigenen Augen plötzlich sehr stark entwertet war. Es war mir, wie es uns ist, wenn blitz artig die Nöte aus den unbekannten Ecken von uns selbst heraufkommen, die sich bei allen denkenden Menschen aus Leben und Sterben ergeben. Und ich verlor mich immer weiter in meine eigenen Gedanken. Grübelte über Dinge und Geschehnisse, die noch kein Mensch begriffen hat und je erfassen wird, als es abermals heftig läutete. Es war mir fast eine Gewißheit, wen ich draußen finden würde. Und er war es, der Unglückselige. Und wenn ich zwei Menschenalter statt eines zu leben hätte, nie würde je der Eindruck jener Minuten aus mir ent schwinden können. Das Geld hatte der Ärmste noch so in der Hand wie er es mit sich fortgetragen haben mußte. Wie Krallen saßen seine Finger darum und er riß sie förmlich aus einander, daß die klirrenden Metallstücke überall auf dem Flur umherrollten. Dann warf er sich vor meine Füße und preßte seinen Mund darauf, daß seine Zähne nahezu in das Leder meiner Schuhe drangen. Sprang auf, schlug die Tür ins Schloß und ich habe ihn niemals wieder- gesehen. Wohl aber habe ich noch Zellen von seiner Hani erhalten, und zwar schon am nächsten Tage. Sie lauteten: „Ich habe das Leben so über jedes vernünftige Maß lieb gehabt, daß ich es keinem Menschen sagen kann. Aber fast alles ist von Anbeginn gegen mich gewesen. Tausenderlei hat es mir verleiden wollen. Ich wäre dennoch niemals freiwillig gegangen, wenn es nicht so weit mit mir gekommen wäre. Nun bin ich mir selbst zum Ekel geworden und nun gehe ich. Der Hunger muß mich toll gemacht haben Ich bin in diesem Augenblicke nicht verzweifelt, sondern wie man so sagt in unheimlicher Ruhe und trage sogar noch einen Wunsch in mir: daß Sie denken mögen: Also hatte ich mich doch nicht in ihm getäuscht. Friedrich Jürgens." Sie fanden ihn im Hafen. Verunglückt hieß es! Ich war der einzige Mensch, der hinter einer nackten schwarzen Holziiste herging. In ehrlicher Trauer. Der Geistliche sagte nicht viele Worte, aber sie waren schlicht und gut. Und mir gab er die Hand, ohne zu fragen. Der Totengräber, der mich für eine nahe Angehörige halten mochte, vielleicht gar für die Frau des Unglücklichen, war still davongegangen. Ich legte meinen schlichten Kranz aus Efeublättern — den ich selbst gewunden und in den ich nicht ein freund liches Blümlein verflochten hatte — neben den auf geworfenen Sand und setzte mich selbst auf ein großes flach gehauenes Stück Granit, das am Wege dicht an der Mauer des Friedhofs lag und ließ schwere Tränen in mich hineinträufeln. Jede Träne war wie eine heiße Bitte um alles ver zeihende und niemals verurteilende Menschenliebe. Jede Träne war eine Bitte, mich besser, reifer und duldsamer werden zu lassen. Denn aus Verdienst oder aus gutem Willen werden wir Menschen es nie. Das Leben selbst ist die Vaterhand und unsere Füße find Kinderfüße, die nebenhertrippeln. Da lag er nun in dem häßlichen Holzkasten in der feuchten Erde, er, der das Leben über jedes vernünftige Maß lieb gehabt hatte. Und der sterben mußte, weil der Hunger ihn toll gemacht hatte. Hunger! Ach, lieber Gott, wenn du es jedem Menschen einmal in die Brust brennen wolltest, was Hunger ist! Denn alle Nöte der Seele sind kaum von dieser Welt. Aber der Hunger, der ist von dieser Welt. Und seine Krallen sind von deni härtesten Stahl, und was i er würgt, das würgt er unerbittlich, bis alles tot ist außer ! ihm, denn er ist ein Alleinherrscher, der Hunger. Und i nicht anders kennen sie ihn, bei denen er war, als mit ! Schwanz und Pferdefuß. Hunger! Ja, das wäre gut, wenn er uns allen ein mal in die Brust gebrannt würde! Nicht von dem Gott, den der eine hat und den der andere hat, sondern von dem Gott, den wir alle haben, und dem gegenüber kein Leugnen etwas nützt, solange wir noch seinen göttlichen Odem durch unsere winzige Menschenbrust aus- und ein gehen fühlen. Ja, also dann müßte es wohl anders unter uns Menschen aussehen. Dann würden wir mit unseren be gehrlichen Händen wohl nicht immer nach dem gleißenden Schimmer irdischen Genießens Haschen, sondern wir würden vielleicht gar lieber über die trüben grauen Schatten streichen, um einen der brennenden Buchstaben i nach dem andern auszulöschen aus unserer Brust mit den ! befreienden Tränen anderer. Der Name Friedrich Jürgens ist nirgends mehr zu i finden. Nur ein schmaler, schwarzer kleiner Holzstab steht noch, an dessen Spitze ein winziges, rundes Täfelchen sitzt Nr. 53 steht darauf. ! Nie kampflos wird dir ganz Das Schöne im Leben geglückt sein — Selbst Diamantenglanz Will seiner Hülle entrückt sein, Und windest du einen Kranz: Jede Blume dazu will gepflückt sein. Kodenstebt.