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Grün. ES war von einer ergreifenden, leuchtenden Schlichtheit. Wahrscheinlich haben wir an der Bahre der geliebten und verehrten Frau alle das gleiche eigenartig tiefe Gebet verrichtet. Ein Gebet ohne Worte und bewußte Gedanken. Denn es bestand lediglich in einer Empfindung, wie sie in seltenen Augenblicken wie aus einer weiten Entfernung auf uns zukömmt, uns anpackt und uns in Wonne oder Weh festhält. Oder in einer Verlorenheit, die sich nicht schildern läßt, von der ick mich aber an dieser Stelle zu sagen getraue, daß sie eine Verlorenheit in das unbekannte Stück Land unserer selbst ist, das unser menschliches Leben mit allen Ewigkeiten verbindet. Anstatt daß wir ihm die Hand reichten, reichte er sie jedem einzelnen von uns. Und dann nahm er uns mit hinaus in seinen Garten, den er immer sein und seiner Frau Kind zu nennen pflegte. Fest und aufrecht schritt er vor uns her. Man hätte vergeblich auf den breiten Schultern nach Spuren einer schweren, frischen Last gesucht. Und nicht ein leiser Unterton klang aus seiner Stimme, als er sich in der Nähe eines ausgedehnten und prächtig geordneten Geranien beetes mit uns niederließ und begann: »Wir Menschen find alle Egoisten. Niemals haben meine Frau und ich des näheren von der reichen Geranienpracht in unserem Garten zu Dritten gesprochen. Das war wie ein stilles Einverständnis zwischen uns. Als ob wir e-was zu hüten gehabt hätten, möchte ich fast sagen. Einen lieben lorenen Sohn vielleicht, den wir in seliger verschwiegen.» Freude wiedergefunden hatten. Seit sie nun schläft, die Meine, ist es mir, als hätte ich einen Riegel fort zuschieben. Als wüßte ich nicht zu bleiben in der Brust mit all dem, was so jeden Tag zwischen zwei Menschen hin- und hergeht. Und heute sollen es just die Geranien sein. Sie wissen, meine Freunde, wie fest mir jeder einzelne meiner armen, lieben Sünder ans Herz gewachsen war." (Der ehrwürdige Mann war viele Jahre Anstalts geistlicher.) »Aber unter allen ist mir doch einer der liebste gewesen. Er mußte nach irdischer Gerechtigkeit den Tod er leiden, weil er auch getötet hatte. Er war nach Raubzügen mancher Art eines Nachts bei der Ausübung seines dunklen Handwerks mit dem Besitzer seines Raubes im Hausflur zusammengestoßen, als er gerade entwischen wollte. Und das hatte dem andern das Leben gekostet. Wir tonnten mit unserm Übeltäter nichts beginnen. Meinen Zuspruch wies er ebenso starr zurück als alles andere. Als jedes Wort, das an ihn gerichtet wurde. Irgendwelche Angehörige schien er nicht zu haben. Als ich mich am Tage vor seinem letzten Stündchen mit dem mir sehr befreundeten Zuchthausdirektor besprach, waren wir beide sehr bewegt. Wir waren uns vollkommen einig darin, daß ein einziges Menschenleben mehr wert ist als eine ganze irdische Gerechtigkeit und schüttelten uns beim Abschied bedrückt die Hände. Ganz besonders noch unter der Einwirkung des letzten Wunsches, den der zum Tode Verurteilte geäußert hatte: zwei blühende Geranienstöcke, ein hellroter und ein dunkelroter. Wenn ich je in meinem Leben mit Inbrunst gebetet habe, ist es in jenem Augenblick geschehen, als ich vor der kleinen, finsteren Zellentür stand, um noch einmal mein ganzes Herz aufzubieten, Einlaß in einen Menschen zu finden, zu dem ich schon nach dem nächsten Sonnen aufgang nicht mehr gelangen konnte. Schweigend trat ich in den verdunkelten Raum. Und ohne ein Wort zu sagen, setzte ich mich neben den Mann auf die Pritsche, der seine Hände und seinen Kopf vor sich hängen hatte und von mir nicht die geringste Notiz nahm. Mir wollte das Herz schier zerspringen. Die Brust saß mir so voll Erbarmen gepreßt, daß ich meinte, mein Bruder neben mir hätte mit den Händen mitten Hinein greifen können. Er blieb aber unbeweglich sitzen. Und doch fühlte ich, wie sich Welle auf Welle aus meiner Brust gegen ihn preßte, und wie es sich langsam immer näher kam, was in jedem Menschen weder besser noch ge ringer ist. Und dann faßte ich ihm nach der Hand. Ganz be- hutsam, ganz zärtlich. Zog sie immer näher zu mir herüber, bis sie mir auf dem Schoß lag und Tropfen auf Tropfen meine warmen Tränen darauf niederfielen. Ich ließ sie fallen, und er ließ sie liegen. Und dann lag er mir vor den Füßen. Niemanden hat er gehabt in seinem Leben. Kein Mensch hat ihn jemals lieb und wert gehalten. Einen Vater hat er nie gekannt. Seine Mutter hat ihn immer nur geschlagen. Nur eine Freude hatte er gehabt in seinem ganzen langen Leben. Eine einzige, heimliche Freude, als er noch ein Kind war. Gegenüber von dem kahlen Stübchen, in welches er als kleiner Junge Sommer und Winter über Tag eingeschlossen wurde, lag ein Häuschen, auf dessen Fenstersimsen Sommers schwere Kästen voll blühender Geranien standen. In ver schwenderischer Fülle, hellrote und dunkelrote. An denen entlang und über sie hin schickte der arme, kleine Kerl Tag für Tag seine beklagenswerten Äuglein spazieren und ließ ein großes, mächtiges Verlangen wachsen in seiner schmalen Kindesbrust. In seiner rauhen Freihett hatte er die lieben, freund lichen Blümlein längst vergessen. Aber in der Einsamkeit mit sich selbst hatte er sich der einzigen Freude seines arm seligen Lebens wieder erinnert, und sein letzter Wunsch war ein Zeichen dankbarer Anhänglichkeit. Der Schweiß rann ihm von der Stirn. Ich ver suchte nicht, ihn hochzuziehen. Ich konnte es verstehen und ihm nachempfinden, daß er lieber liegen mochte, wo er lag. Ich strich ihm seinen heißen Kopf und die wirren Haare und neigte meinen eigenen Kopf auf ihn herab. „Ich habe dich so lieb", sagte ich, „wir jeden unter den Menschen, der mir besonders ans Herz gewachsen ist." To "flimmerte er sich noch fester um mich und flehte mich an um einen Trost, den. er auf seinem letzten Wege mit sich nehmen könne. „Ach", sagte ich, „ich bin rin Mensch wie du. Auch ich kann dir keine Gewißheit zutragen, woran du dich mit Heiden Händen festhalten kannst. Aber ich kann dir zeigen, was ich mache, wenn ich mit mir in Not bin. Ich lehne mich nicht auf. Ich lehne mich nicht auf gegen all die verschämten, zaghaften Hoffnungen, die aus dem verstecktesten Winkel aus uns aufstehen, die leise und bittend an eine geheimnisvolle Tür klopfen. An die Tür, die auch der Geringste unter uns in sich trägt. Durch die das Leben in uns eingetreten ist " In diesem Augenblick wurden die beiden Geranien stöcke gebracht. Eng standen die beiden irdenen Töpfe nebeneinander. Das zarte Rot der einen Blüten schmiegte sich bescheiden in das verlangende Leuchten der andern hinein. „Du willst einen Trost", Hub ich nochmals leise nach einer langen Weile an. „Sollte ein Mensch einen besseren geben können als diese Blümlein hier! Sie haben dir dein Herz auf dem Grunde rein erhalten. Sie sind ge wissermaßen in dich hineingepflanzt und haben ruhig und unentwegt weiter ihre zarten kleinen Blätter zur Blüte getrieben unter allem Gekraut und Gestrüpp. Sieh auf dein Leben zurück, und dann steh die un schuldigen Blümlein an. Kann es denn etwas geben, das wunderbarer ist? Wie nur könnte ein Mensch so ver messen sein wollen, mit seinen groben Fingern in ein so feines Gewebe greifen zu wollen!" Ich saß noch bei ihm bis tief in die Nacht. Aber ganz zuletzt wollte er gern mit sich allein bleiben. Er legte mir seine glühenden Lippen auf die Hände, als ich ging, und ich fühlte einen jähen, gewaltigen Strom von seinem Körper in den meinen gehen. Als er am nächsten Morgen zum Smafott icyritt, lenkte er einen Blick in mich, der wie die beste Frucht vom Baum meines Lebens in mir liegen geblieben ist. Das Armsünderglöckchen hatte kaum ausgeläutet, als wir zwei, meine Frau und ich, Hand in Hand unter der aufgehenden Sonne aus der Stadt wanderten und miteinander trugen, was für einen Menschen zu schwer wird. - —" Wir hatten in Andacht verloren ihm zugehörl, und nun sah ich plötzlich mit Erschrecken, wie ihm unaufhörlich die Tränen in den weißen Bart liefen. „Ach ja", sagte er und ließ sie rinnen, „wir sind ja alle miteinander so schwache Kreaturen. Nun schläft sie. Nun macht sie nie die Augen wieder auf, die Meine. Nun muß ich allein mit dem großen Wunder zurecktt kommen. Lieber, lieber Gott, nun muß ich noch mein Geranien pflanzen." Und die blanken Tropfen kamen ins Überhasten. Wir schlichen uns still von dannen.