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Nr. 89 Pulsnitzer Tageblatt. — Freitag, üw l7. April 1931. Seite 6 Artillerie bekämpft die Eisstauungen der Memel. Das Hochwasser vernichtet Millionenwerte. Kowno. Die durch den Eisgang auf der Memel ein getretenen Ueberschwemmungen greifen weiter um sich und haben neuen großen Sachschaden angerichtet. Im Lager der sowjetrussischen Handelsvertretung wurden allein 57 Wag gons mit Zucker und anderen Waren im Werte von über 114 Millionen RM durch das eindringende Wasser ver nichtet. Der Schaden bei Privatfirmen und Einwohnern wird weit über 5 Millionen RM geschätzt. Wahrend der ganzen Nacht haben Abteilungen der Artillerie und Pioniere Eissprengungen vorgenommmen, doch konnten die Eisstauungen nicht restlos beseitigt werden. Die Hoch wassergefahr schwankt immer noch zwischen 6,60 und 6,70 m. Der ,M Capoue New ^orks" beim Kartenspiel erschaffen. Ivo Morde soll der Unterwcltkönig auf dem Gewissen haben. New Park. Der in der New-Parker Unterwelt als „Joi, der Chef" bekannte, oft auch als der Al Capone von New York bezeichnete Bandenführcr Guiseppe Masseria wurde in einem Restaurant auf Loney Island beim Karten spiel von zwei unbekannten Männern durch fünf Kugeln nie dergestreckt und getötet. Die Mörder feuerten im ganzen etwa zwanzig Schüsse ab. Der Getötete war einer der berüchtigsten Unterweltkönige. Ihm werden mindestens 100 Gangstermorde zur Last gelegt, doch konnte man ihn, wie auch Al Capone, nie fassen. Dieser Unterweltsmord erregt in der ganzen Stadt ungeheures Aufsehen. Zollhausbrand in Amsterdam. Große Vorräte an Textilien und Tabakwaren vernichtet. Amsterdam. In einem freistehenden fünfgeschossigen Lagerhaus innerhalb des Komplexes der städtischen Zoll amtsgebäude am Cluquiuswege entstand abends ein Groß- fcuer. Das Gebäude enthielt große Vorräte an Textilien und Tabakwaren. Das Feuer wurde zuerst im fünften Stock werk bemerkt und griff mit rasender Geschwindigkeit auf den vierten Stock über. Die besonders starke Rauchentwicklung in Verbindung mit ungeheurer Hitze erschwerte ein unmittel bares Bekämpfen des Feuers ungemein. Die Mannschaften von sieben Löschzügen der Wehr konnten anfangs nur mit Rauchmasken und bei häufiger Ablösung arbeiten. Von der Wasserseite her griff dann noch ein Löschboot ein, und so gelang es nach mehrstündigem zähen Kampf das erste, zweite und dritte Stockwerk zu schützen. Kostbare Sumatra-Tabake der Ernte 1927 bis 1928, die im Handel als ganz besonders hochwertig gilt, konnten zwar vor der Vernichtung bewahrt werden, wurden jedoch durch Wasser in ihrem Wert erheblich beeinträchtigt. Die Ursache des Feuers steht noch nicht fest. Man glaubt, daß es durch Fahrlässigkeit verursacht worden ist. Der Sachschaden wird auf etwa 200 000 Gulden (gleich 340 000 RM) geschätzt. Das Raketenflug-Problem gelöst? Erfinder Tiling erklärt: Raketenflugzeug bereits konstruier«. Osnabrück. Nach seinen durchaus gelungenen Raketen- flug-Vorführungew auf dem Ochsenmoor machte der Ingenieur und ehemalige Leiter des Osnabrücker Flugwesens, Reinhold Tiling, weitere Ausführungen über seine Forschungen. Er bekannte sich dabei zur Pulverrakete, von der sich die Wissenschaft abgewandt habe. Der Weg zur Flüssigkeitsrakete, mit der sich die Wissenschaft heute befasse, könne nur über die Hochleistungsdauerbrandpulverrakete gehen. Weiter erklärte er, daß die Tragflächen des von ihm konstruierten Flugkörpers in Richtung der Schwanzflossen angelegt seien und sich nach Beendigung des Kraftfluges entfalteten. Ein Raketenflug zeug von sieben Meter Spannweite werde von ihm bereits konstruiert. Seine zweite Konstruktion, die als Postflugzcug Das Raketen-Modell Lilings, gedacht ist, überbrückt die ganze Flugstrecke in schnellem Flug und entfalte sich kurz über dem Ziel derart, daß die Schwanz flosse in rasche Umdrehungen gerät und dadurch fallschirm- artig zu Boden getragen wird. Das Herstellungsverfahren der neuen Pulverrakete gestatte die Erreichung von mindestens 14 000 bis 20 000 Meter Höhe und von mindestens ebenso aroften Entfcrnuuaeu. Aos dem Gerichtssaal Eine Mtterttagödie vor dem Schwurgericht. Opfer der Wohnungsnot. Unter der Anklage des versuchte» Mordes stand die Ma- schinenarbcitcrsehesrau Gläser aus Löbtau vor dem Dresdner Schwurgericht Sie hatte am 27. November 1930 den Versuch gemacht, sich und ihre zwei Knaben im Alter von zwei und drei Jahren durch Gas zu vergiften. Mutter und Kinder konn ten gerettet werden. Die Angeklagte hatte bereits einmal einen Selbstmordversuch unternommen. Da die Familie keine eigene Wohnung besaß, wohnte die Angeklagte bei der Pflegemutter ihres Mannes. Zwischen ihr und der Angeklagten kam es zu Streitigkeiten. Gläser neigte dann stets > er Pflegemutter zu, deren Ermahnungen die Angeklagte nu -hr übel nahm. Am 27. November ging sie mit den Kindern .n die elterliche Woh nung und drehte die Gashähne auf. Der Vertreter der Anklage sah die Tat als vorsätzlich und mit Überlegung ausgeführt an und forderte die gesetzlich zulässige Mindeststrasc von drei Jahren Zuchthaus M. Das Schwurgericht schloß sich der Ansicht des Verteidigers an und verurteilte die Ange klagte wegen versuchten Totschlages zu 6 Monaten Gefängnis Eine lebensgefährliche Staatsstraße. Colditz. Vor dem Leipziger Schöffengericht fand in Colditz die Verhandlung gegen den Geschüstsgehilfen Böhme aus Leis nig statt, der in der Nacht zum 1. Dezember v. I. aus der Staatsstraße von Zschadraß nach Colditz mit seinem Beiwagen- mowrrad gegen einen Baum gefahren war. Die 19jährige Hilde Leuthold aus Crlin wurde damals getötet, die 19jährige Rosa Steinbock ans Podelwitz und der 24jührige Fritz Duscha aus Leisnig erlitten schwere Verletzungen, der Fahrer selbst blieb unverletzt. Er wurde wegen fahrlässiger Tötung zu einer Gc fängnisstrase von zwei Monaten mit Bewährungsfrist ver urteilt. In der Urteilsbegründung wurde zuni Ausdruck ge lenser neuer komsn: SV» Lop^rixbl 1930 d» Karl Köhler L Co., BerUa-Zehtenboxl. bracht, daß die Staatsstraße Colditz—Zschadraß nicht mehr den Anforderungen des modernen Autoverkehrs genügt. Beihilfe zur Flucht des Kommunisten Rölz. Klingenthal. Die 19 Jahre alten Tamburierer Glaß und Zimmermann Leonhardt wurden vom tschechoslowakischen Strafrichter wegen Beihilfe zur Flucht zu je 14 Tagen Arrest verurteilt Beide hatten den Kommunsttenführer und Stadt verordneten Max Rölz aus Falkenstein, nachdem er aus dem Bezirksgericht geflohen war, bei der Flucht unterstützt. Die seinerzeit mit Rölz verhaftete Textilarbeiterin Schmiehauer aus Reichenberg befindet sich noch in Haft. Das Martyrium -er Zeugen. Eine Zeugin bei ihrer Vernehmung angesichts des Massen mörders Kürten zusammengebrochen. Düsseldorf. Der vierte Verhandlungstag begann bei voller Oeffentlichkeit mit der Vernehmung der Zeugen zu den Fällen Scheer, Hahn, Goldhausen, Mantel und Korn blum. Die Vernehmung der Zeugen im Fall Scheer ergab die Richtigkeit der Angaben Kürtens über die Vorgänge bei der Tat. Zum Fall der Maria Hahn wurden 20 Zeugen aufgeru fen. Die 21jährige Hausangestellte Koslowski, die die Ermordete näher kannte, bestätigt, daß Maria Hahn eine Armbanduhr besessen habe und erkennt die ihr vom Gericht vorgelegte kleine braune Handtasche. Gericht, Staatsanwalt schaft und Verteidigung legen in der ganzen Beweisaufnahme Gewicht darauf, daß die Darstellungen Kürtens sich voll und ganz mit den Zeugenaussagen decken. Die folgenden Vernehmungen ergeben sämtlich nichts von Belang. Danach wurde die Zeugin Sage vernommen, die ein Dachzimmer den Kürten vermietet hatte, und nach ihr die Zeugin Görtzinger, die mehrmals mit Kürten zusam mengekommen ist. Kürten wäre auch wiederholt in ihrer Wohnung gewesen, und sie habe ihn dort einmal mit ihrem Kinde allein gelassen. Später wurde sie argwöhnisch. Auf die Frage des -Vorsitzenden an Kürten, ob er sich mit dem Gedanken getragen habe, Frau Görtzinger und ihr Kind zu ermorden, schweigt der Angeklagte zunächst, gibt dann aber zu, er habe mit dem Gedanken gespielt, die ganze Fa milie zu ermorden, allerdings erst, nachdem er in der Wohnung gewesen sei. Die Zeugin Koch bricht bei ihrer Aussage vor dem Richtertisch ohnmächtig zusammen und muß aus dem Saale getragen werden. Der Staatsanwalt verzichtete darauf auf die Vernehmung dieser Zeugin. Kürten gibt zu, die Zeugin gewürgt zu haben; ex ließ von ihr ab, weil sie zu laut schrie. Verlesen wurde dann die Aussage des kommissarisch ver nommenen Kriminalsekretärs Schneider, der erklärte, Kürten habe sich bei der Vernehmung selbst als Bestie be zeichnet. Er habe auch erklärt, daß er noch ganz andere Mordtaten geplant hätte und daß er mit keiner Wimper zucken werde, wenn man ihn köpfte. Berlin. Ein Notar unter Betrugsanklage. Die Staatsanwaltschaft I. Berlin hat Anklage gegen den Rechtsanwalt und Notar l)r. Walter Haver und fünf Ge nossen erhoben. Haver wir« beschuldigt, die Reichsschulden verwaltung in betrügerischer Weise geschädigt zu haben. Bei der Ermittlung sind weitere Fälle des Betrugs und der Amts- Unterschlagung aufgedeckt worden. Halle. Ein Nachspiel des Falles Cuvelier. Der Fall des französischen Schwimmers Cuvelier beschäftigte jetzt auch das Landesarbeitsgericht Halle. Bei dem Zusam menstoß mit den französischen Schwimmern hatte der der NSDAP, angehörende Schulenburg die Schwimmer be schimpft und wurde daraufhin fristlos entlassen. Die Klage Schulenburgs gegen den preußischen Staat auf Gehalts zahlung wurde vom Arbeitsgericht in Zeitz abgewiesen, weil dem Staat nicht zugemutet werden könne, Leute zu beschäf tigen, die sich den Bemühungen des Staates, die internatio nalen Feindschaften zu überbrücken, entgegenstellen. In Halle wurde S.'s Berufung zurückgewiesen. Zlammeu im Schnee. Roman von Friedrich Zeckendors. Vertrieb. Cari Dunckei Benned, Berlin W. M. 45 T«rt«tzune. „Babqlieb!" „Geh. Jochem, geh mein lieber, lieber Bub! Heut' mußt mich allein laßen Ich kann nicht mehr — — Schick mir den Gerstenberger herauf. Ich muß mit ihm reden." Er ließ sich kopfschülie' rd hinausjchieoen. Er verstand nicht ihre plötzlich ausbrechende Leidenschaft, die stets wieder in Traurigkeit umichlug Immer stand etwas zwischen ihnen. Er verstand es nicht Gerstenberger kam nach einigen Minuten. „Wie gehl s ihm?" war ieine erste Frage. „Nei darüber reden. Ich kann s nei mehr ertragen Herr Gerstenberger Wegen einer Bill' hab ich Sie gerulen Ich reise noch heul ab Gehen s. bestellen s nur ein Aulo in zwei Stunde an den Hinteren Ausgang Es soll niemand wißen, daß ich fahr. Kein Mensch außer Ihnen Das Gepäck laß ich hier, damit's niemanden auffällt. Sie schickens mir morgen mit der Bahn nach Wollen s mir den Eeiallen tun?" „Aber um Gaues willen, warum denn io plötzlich?" „Nei fragen Herr Gerstenberger. Ich muß fori. Ich muß halt ton." antwortete sie last heftig Sie ietzie sich an den kleinen Schreibtisch und begann hastig zu schreiben An Hellgrewe einen kurzen Brief: „Lieber Herr Hellgrewe! Nicht böse iein Ich gehe nich: nach Amerika Anbei den Vertrag ich kann ihn nicht unterschreiben. Aber es ist nicht wegen der Zwelschgenknödel. Ihre Baby Sooth" Und an Joachim einen längeren, den sic in fliegeender Eile aufs Papier wart . Als sie ihn fertig Halle, packle sie ihn mi: dem Bild zu sammen und verichnürle sorgfältig das kleine Pakei. Achtlos warf sie ihre Sachen in den Koffer bas Notwendigste in eine kleine Handtasche. Gerstenberger kam pünklich nach zwei Stunden sie holen. Das Amo wartete schon. Sie legte noch^ einige Geldscheine auf den Tisch. „Für meine Rechnung und die Trinkgelder Gelt. Sie sind so gut und erledigen das für mich? Den Rest schicken's mir mit den Sachen. Und diese beiden Briefe lassens morgen früh Herrn Hellgrewe und dem Christ geben. Bielen Dank, lieber Herr Gerstenberger, und grüß Gott. Vergessen's mich nel ganz." Er brachte sie zum Wagen. Sie schien sehr aufgeregt. Mit Geknatter rollte das Auto in die Nacht hinaus. Baby saß. den Körper vorgeneigt, die Ellenbogen auf den Knien, das Taschentuch an den Mund gepreßt. Die Wärme hatte Regen gebracht, der rauschte gleichmäßig in den Tannen Tropfen aus Tropfen eilte auf schräger Bahn über die Scheiben des rüttelnden Wagens Tropfen auf Tropfen rann salzig über Babys Gesicht. Sie schluchzte haltlos in ihr Taschentuch Die groß« Filmdiva, weinte, weime um Joachim Christ, den Eintänzer. 14. Der Regen hatte ausgehört, di« Wärme blieb Ein leichter, vorübergehender Frost hatte die Straßen in Glatteis verwan delt. Der Schnee bekam jene eigentümliche pockennarbige Ober fläche. die Regen und Tauwetter erzeugen. Die Schauspieler reisten ab. Gerstenberger und Hannelore mit ihrem Vater gaben ihnen das Geleit. Frau Dela war trotz allem Zureden nicht mitgekommen. Hellgrewe fragte am Bahnhof noch Gerstenberger: „Sagen Sie mir, was ist Plötzlich in Fräulein Sooth ge fahren?" Gerstenberger gab eine seiner bezeichnenden Antworten: „Herr Hellgrewe, wir Männer können die Frauen nicht ver stehen — wir können sie nur lieben." Toni stand mit Hannelore abseits. Er hielt ihre Hand, die einer seiner schönsten Ringe schmückte, einer der ganz weni gen. die er sich selber gekauft hatte. „Weißt du. Toni ich weiß schon, was ich in Amerika machen werde. Meine Doktorarbeil „über die sozialen und ökonomischen Grundlagen der amerikanischen Filmproduktion." „So furchtbar gescheit ist mein Mädel. Ich Hammel weiß nicht einmal recht was das ist. Aber wenigstens bin ich über eines beruhigt. Ich habe schon geglaubt, du kannst gar nicht küssen, nur klug schnaken." „Schaf, kleines, und ich habe Angst gehabt, daß du gar nicht reden kannst, sondern nur küssen." Taschentücher winkten. Toni sprang aufs Trittbrett. „Nach Neujahr bin ich wieder in Berlin!" schrie ihm Hannelore nach Auf der Rückfahrt ins Hotel warf Hannelore gesprächsweise, aber nicht unabsichtlich hin: „Herr Gerstenberger, wissen Sie eigentlich schon, daß der Baron und die Baronin sich scheiden lassen?" „Pi pa po." jagte Herr Hildebrandt, „es wird sich wieder einrenken " „Pi pa po. Packachen. es wird sich nicht wieder einr«nk«n." gab sie zurück. Ueber Gerstenbergers Mienen huschte es wie ein Lichtstrahl. „Wissen Sie. gnädiges Fräulein, was die Frau Baronin beabsichtigt?" „Vorläufig nichts, sie könnte einen guten Rar gebrauchen," sagte Hannelore Dann sprachen sie nichts weiter bis zum Hotel. Frau Dela empfing Mann und Tochter mit verdrossener Miene. Sie war. seitdem Toni um Hannelores Hanv ange» hallen hatte, ungenießbar. „Du willst also wirklich einen Komödianten heiraten?" — Toni war Plötzlich nur ein Komödiant in ihren Augen — „einen Mann, der Himer ledem Weiberrock her ist?" „Laß nur. Mamachen ich glaube eher sind die Röcke hinter ihm her. Oder bist du anderer Meinung?" Hannelores Gesicht umspielte ein kleines keckes Lächeln. „Ja. Deichen," sagte Herr Hildebrandt und klopfte seiner Frau" gutmütig auf die Schulter, „wenn wir Pech haben, sind wir in einem Jahr Großvater und Großmutter. Dann wird es Zeit, daß wir uns wieder vertragen." Joachim Halle sich in sein Zimmer eingeschlossen Er drückte die Fäuste der aufgestützten Arme in die Schläfen Vor ihn lag Babys Brief auf dem Tisch, daneben stand der Bilder» j rahmen mit dem Bild Joachim las den Brief schon zum drittenmal. „Mein Jochem, mein süßer, geliebter Bub!