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Pulsnitzer Fayeblatt 2. Beilage zu Nr. 67 84. Jahrgang Sonnabend, 19. März 1932 Dresdner Brief 2m Keller der Kirche — Letzter Winter — Rundfunknöte — Wahlgang — Auch „Singing DabyS" Still und abgeschlossen steht die russische Kirche an der Reichsftrahe, dort, wo der Weg nach Räcknitz abbiegt. Eine Menge zwiebelsormig gekrönter Türmchen geben ihr den Charakter und das braune Mutter-Gottes-Bild aus goldenem Grund über dem Eingang, zu dem eine hohe Freitreppe hinan- fuhrt, schaut milde aus das Tun der Menschen und auf die sonderbar wechselnd« Zeit hinab. Ja. sonderbar wechseln die Zeiten! Früher war die russische Gemeinde in Dresden groß und reich, jetzt ist sie zusammengeschrumpft und kennt die Rot. Daz merken auch die jungen Studenten aus russischen Familien, wie die allein dastehenden. Sie brachten das Geld für ein Versammlungslokal nicht auf und bauten sich deshalb selbst em solches unter ihrer Kirche, ties im Keller. Run ist es bereits eingeweiht, und die jungen Leute haben eine Unter kunft, die iie weiter nichts kostet. Aber leicht war das nicht. Maurerarbeit, Lichtanlagen, Heizung, alles ist aus ihren Händen entstanden: auch eine Bibliothek befindet sich in den Kellerräumen, die der Sohn des Oberpriesters betreut. Sonst ist trotz der vorgerückten Zeit wieder Wintersport Trumpf. Denn wunderschön ist noch einmal Las Schneepolster gestreut und überall in Dresden freut man sich dessen. Da saufen die Rodel, da flitzen aus langen Hölzern junge Männer und Mädchen in ihren Trainingsanzügen das bergige Gelände hinab oder arbeiten sich mühsam aufwärts. Denn gut hat es die Ratur mit den Dresdner gemeint, dieweil das Terrain so hübsch bucklig ist. Oft kann man gar nicht erkennen, was ein Mannlein, was ein Weiblein ist. Da geht es über Berg und Dal ms raschen Laus, allein und zu zwein, bis nach Lem Wmschberg und durch den schönen Poisenwald abwärts nach ^reitol, oder nach dem Lerchenberg und wie die schönen Gegenden alle heißen. Freilich, an dem letzten wichtigen Sonntag durfte nicht vergessen werden, vor all der Winterlust seine Pflicht zu tun und ins Wahllokal zu pilgern. Ganz schwarz wtmnwlte eS wie von Ameisen um jedes Lokal herum, dre Straßen ab und auf. Uralte Weiblein gingen da wählen, geführt von ihren Angehörigen, und junge Leute trugen den Kopf noch einmal so hoch, denn just auf ihre Stimme kam es ja an. Die Rochbarin hielt ihre Bekannte an, der Mann seinen Stammtischsreund, und das Wort „Pflicht" hört« man in vielen Abwandlungen, Doppelt brav aber ist derjenige, der aus wirklicher Ueberzeugung seine Stimme gibt und nicht aus eigensüchtigem Wollen! Die aber hinterher nicht den Winter draußen in der Ratur genossen, sitzen wohl daheim beim Täßchen Kaffee, — es brauch nicht immer der arg verleumdete Dresdner „Vliem- chenlaffee" zu sein! — und horchen, was der Rundfunk ihnen heute beschert hat. Und wie überall gibt es auch hier beim Genießen auch solche, die sich mächtig ärgern. „Wer ist nur Ler unverschämte Gorkser?" hört man Papa ungeduldig rus«n. Und di« holde Ehehälfte weih gleich Bescheid. Ratür- lich, die Leute über ihnen, Pietschens, die haben doch so 'nen Bengel von Sohn, der den ganzen Tag weiter nichts zu tun hat, als an dem Apparat herumzudrehen, was man im lieben Dresden gemeiniglich „Gorksen" nennt. Und Papa entschließt sich, klingelt bei Pietschens und beschwert sich, wobei es sich schließlich herausstellt, daß der „Bengel" gar nicht daheim ist. Und wenn endlich der Funkheiser erscheint, stellt er einen ganz andern Grund sür dir Störung fest. Drum ist es Wohl besser, zuerst den Helfer zu fragen und dann zu schimpfen. ^Za, der Rundfunk! Die „Singing Babys", die auch in Dresden einen ganzen Monat lang gastierten, find mit ihren Schlagern gesendet worden. Natürlich müssen sich die guten Mädels recht englisch benennen, das ist doch gar nicht anders möglich, sonst könnte man denken, ihre Leistungen taugten nichts. Aber andere „Singing Babys" bereiteten vor Kurzem in den dunklen Straßen der Dorstadt den Vorübergehenden rechte Freude. Cs war so gegen acht Uhr, die Glocken der Johanniskirche schickten ihr melodischen Geläut über die Häuser hin. Da kam ein Straßenhändler mit seinem Obstwagen, um ihn her seine vier Kinder. Und zum Geläut der Glocken sangen die Kleinen ihre lieblichen Kinderlieber, daß es nur so schallte. Das waren „Singing Babys", wie sie im Kabarett nicht zu hören sind. Regina Berthold. «Rundfunk Rundfunk-Bortragsfolge Leipzig (259,3) Zwischensender: Dresden (319) Eleichbicibender Werktags-Programm 6.30: Turnstunde. — anschl. Frühkonzert. » 10, 15.35, 17.50: Wirtschaftsnachrichten (So. nur 10 u. 15.45) » 10.05: Wetter, Berkehr, Tagespr. « 10.10: Was die Zeitung bringt. »11: Werbenachrichien. » 12.00: Wetter, Wasserstände, Schneebericht, Zeit. » 12.10: Konzert. » 13: Wetter, Presse. » 17.30: Wetter, Zeit. » 17.50: Wirtschaftsnachrichten. » ca. 22—22.30 Nachrichten. Sonntag, 26. März. Anschll 14.15: 14.45: 6 .45: Funkgymnastik. 7 .00: Hamburger Hafenkonzert. Glocken vom Trotzen Michel. 8 .00: Dr. Otto: Die Kaltblutpferdezucht in Mitteldeutschland. 8L0: Orgelkonzert. Organist: Prof. Müller. 9 .00: Morgenfeier. Motetten. Ausf.: Kammerchor. 10 .40: Oberlchlesische Landschaft. Prosaskizzen von Alfred Hein. 11.00: Konzert des Sinfonieorchesters. 12LO: Eoetheseier der Universität Leipzig. 14.00: Wetter und Zeil. Anschll. Winke für die Landwirtschaft. - Hermann Eris Busse liest aus leinen „Knitzingcr Geschichten". - c Kammermusik des Bläserquintetts der Staatsoper Dresden. 15.15: Junges sudetendeutsches Schrifttum. Bortrag mit Rezita tionen von L. Nürnberg. 16.00: Nachmittaaskonzett der Dresdner Philharmonie. 1720: Faust, ll. Teil). Von Joh. W. von Goethe. Zum 100. Todestag am 22. März. 1920: Frühlingslieder. Ausf.: Erna Berger «Sopran). Am Flügel: Rolf Schroeder. 20.00: Pros. Dr. Hahne: Götter und Helden des Frühlings. 20.30: Woltershausen iThür.): MMSrkonzert. Ausf.: Musiklorps des 2. Batts., 15. Jnf.-Regt. 22.05: Nachrichtendienst. . Anschi. Unterhaltungskonzert der Kapelle Plietzsch-Marlo. Montas, 21. Marr. 14.00: K. Erünthaler: Die Fürsorge der Berufsverbände für ihre erwerbslosen Mitglieder. 14-15: Mutter Kompe. Eine Erzählung von Georg Oedemann. 1 4.30: Kunstberichte. 1 5.10: Bettine von Arnim: Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. 16 .00: Nachmittagskonzett des Emds-Orchesters. 18 .00: Stunde der Neuerscheinungen- 18.30: Weltliteratur. Sie rufen den Menschen. Deutsche Dichter an die Zeitgenossen. Einleitende Worte Dr. Schirokauer. 1820: Die Sendeleitung spricht. Dr. Kohl: Ist es zweckmätzig, der Sendeleitung anonym zu schreiben? 19 .00: Vortrag von Gey.-Rat Prof. Dr. Schmidt. 19.30: Goethe. Konzert des Städt. u. Gewandhausorchesters. — Solist: H. Janssen tBariton). 20.45: Frankfurt: Aus Goethes Arbeitszimmer im Frankfurter Goethehaus. Ausf.: Rebner-Quattett. Anschi. Frankfurt: Toethes Tod. Hörfolge in zeitgenöllischen Berich ten von Joh. P. Conrad. Anschl. Unterhaltungskonzert des Sinfonieorchesters. Runvfnnk-Bortragsfolge Deutsche Welle (1635) Deutsche Welle. Eleichbleibende» Werttags-Programm. 6.30: Gymnastik. » 6.45: Wetter für die Landwirtschaft. » ca. 6.50: Frühlonzett. » 10.35, 1320: Nachrichten. » 12: Welter für den Landwirt. — anschl.: Konzett u. Wiederholung des Wetterberichts. » 12.55: Nauener Zeit. » 14: Konzert. » 15.30: Wetter, Börse. » 18.55: Wetter für den Landwirt. Deutsche Welle: Sonntag, 20. März. 6.45: Funk-Gymnastik. 7.00: Hamburger Hafenkonzert. 8.00: Mitteilungen und praktische Winke für den Landwirt. 8.15: Wochenrückbiick aus die Markttage. 8.25: K. Koch: Frühjabrsarbeiten am Bienenstand. 8.55: Morgenfeier. l0 .05: Wettervorhersage. 11 .00: Dr. Obenauer: Goethes Religiosität. 11.30: Deutscher Reklame-Tag 1932: Ruf der Werbung. 12.30: Flensburg: Wien vor 1914. Ausf.: Städt. Orchester. 14.00: Eilernstunde: Stud.-Rat Dr. Bork: Versetzt — nicht versetzt! 1420: Kinderchor Schwarzmeierscher Kinderchor. 15.00: Th Bohner: Heitere Seiten aus eigenen Dichtungen. 15.30: Dr Hartmann: Der Kampf ums tägliche Brot. 16.00: Dr Detter: Frömmigkeit als Leidenschaft. 16.35: Unterhaltungsmusik Orchester H. I. Salter. 18.00: Junge Generation spricht: Getrennte Weltanschauungen — Gemeinsame Posttil iDreigespräch). 18.45: Dr. Kamnitzer: Neue religiöse Lyrik. 19.00: Köln: Eine Stunde Kurzweil. 19.50: Svortnachrichken. 20.00: Köln: Der Waffenschmied von Worms. Komische Oper von Albert Lortzing. 22.10: Wetter-, Tages- und Sportnachrichten. Anschl. Tanzmusik der Kapelle Oscar Joost. Deutsche Welle: Montag, 21. März, 9.35: Pros. Dr Amsel: Lehrgang für Linbeitskurzschrist. 10.10: Schulfunk: Goethes letzte Lebenstage. Hörbild. I2D5: Schulfunk: Englisch für Fortgeschrittene. 14.45: Kinderstunde: Kinderzeitung. 15.40: W Stölting: Das Geheimnis von Robert Koch's Bazillrn- sorschuna lb.OO: Mm.-Nat Kestenberg: 5 Jahre Richtlinien für den Musik unterricht an Volksschulen. 1620: Berlin: Nachmittagskonzett. 17.30: Deutsche Charaktere L Kyser: Blücher. 18.00: R. Spörry u Mitw.: Goethe und das deutsche Lied. 1820: Spanisch kür Anfänger 19.00: Dipl.-Landwirt Dr Berndt: Die Erweiterung der Futt«- basis durch zweckmäßigen Anbau. 1920: Leipzig: Konzert der Städt. u. Gewandbausorchrsterr. 20.45: Frankfurt: Au» Goethes Arbeitszimmer im Goethe-Haus. Mitw.: Rebner-Quattett. Anschl. Frankfurt: Goethes Tod. Hörfolge in zeitgenössischen Be richten, von 2oh. P. Conrad. 22.30: Wetter-, Tages- und Sportnachrichten. Anschl. Unterhaltungsmusik des Deutschen Sinfonie-Orchester». Erstndungsschau vom Patentbüro O. Krueger L Co., Dresden-A. 1. — Aus künfte an die Leser: Abschriften. — 2m weiteren Bezirk wurde Gebrauchsmusterschutz einge tragen für Bruno Oswald, Pulsnitz: Bandwebschützen. — Horst Steudel, Kamenz: Rnterwasserauspusf für Bootsmotoren. Dresdner Tischfabrik Herm. Menzel, Großröhrsdorf: Auszieh tisch mit Schwenkplatte. — Bruno Oswald, Pulsnitz: Diesen klammer. — Erhard Käppler-Ohorn: Futterstelle für Vögel. Fa. I. G. Schurig, Großröhrsdorf: Derkaufskasten. — Bruno Oswald, Pulsnitz: Anterhosengürtel. — E. Max Haufe, Groß röhrsdorf: Gürtelschnalle. — (Näheres auf Wunsch durch Patentbüro Krueger, Dresden-A. 1, Schlohstraße 2.) „Wer immer strebend sich bemüht. Betrachtungen zu Goethes „Faust*. Alle Werke des Meisters Goethe überragt der „Faust". Diese Dichtung jft das Meisterwerk des deutschen Schrifttums und das bedeutendste Erzeugnis der Welt- itteratur überhaupt, und sein Dichter Goethe gehört darum, schon zu den größten Köpfen, die das Menschengeschlecht hervorgebracht hat. Die in der Tragödie verflochtenen vienschheitsprobleme sind so vielseitig und umfassend, daß »ie Arbeit eines Jahrhunderts nicht imstande gewesen ist, sie restlos zu ergründen. Immer neue Deutungen, die der iboetheschen Auffassung nahekommen sollen, werden auf- ledeckt, neue Annahmen und Vermutungen von den skorschern aus dem Text der Tragödie, dem umfangreichen Schriftwechsel und den Zeugnissen von Zeitgenossen gezogen, neue Erkenntniswerte aus dem unerschöpflichen Gefäße -eines Geistesproduktes gewonnen. Das „Faust"-Problem er bis m seine letzten Grenzen noch nicht gelöst. Vor dem »llumfassenden Geiste Goethes steht die Menschheit in ehr- mrchksvollem Staunen. Der Dichter war sechzig Jahre 'eines Lebens mit der Gestaltung des „Faust" beschäftigt. Als Zwanzigjähriger griff er den Stoff »us den alten Volksbüchern und Puppenspielen auf, und venige Wochen vor seinem Tode erst hat er den zweiten ^il der Tragödie vollendet. Die mittelalterliche Historie von Doktor Johann Fausten, »em weitgereisten Zauberer und Schwarzkünstler, der die Mnntnis der magischen Formeln besaß, den Teufel zu be- !<hworen, seine Seele dem Bösen verschrieb, die Dienste des Mischen Knechtes für die bedungene Zeit in Anspruch nahm und schließlich zu mitternächtiger Stunde vom Satan auf mtsetzliche Weye umgebracht wurde, hat den jungen Goethe ebenso ergriffen, wie jeden anderen Zuhörer, der die weisen Keden des gelehrten Magisters Faust, die wüsten Drohungen »es beutegierigen Teufels und die derben Späße Kaspars, »es Hanswurstes, vor dem Puppentheater der Jahrmärkte end Meßplätze mit innerlichem Schaudern verfolgte. Goethe erkannte sofort, daß sich der „Faust des Puppenspiels aus- zezeichnet für eine dramatische Auswertung eignete. Ein ckebermensch empfindet die ihm von der Natur gezogenen schranken als eine unerträgliche Fessel, verpfändet seine Vee le dem Teufel und erhält als Gegenleistung die Gewalt aber die den Menschen sonst verschlossenen, geheimnisvollen rdischen Kräfte. Die Strafe für die Ueberhebung des ohn mächtigen Menschen Uber seinen beschränkten Kreis hinaus ind für die Anmaßung, über die Grenzen der ihm von Gott gesteckten Fähigkeit hinauszugehen und in die Geheimnisse »er überirdischen Natur einzudringen, ist die Verdammnis, Deren Qualen durch das Auftreten der scheußlichsten Un geheuer der Unterwelt dem abergläubigen Publikum an- zedeutet werden. Das Volk kennt von dem Goetheschen „Faust" kaum mehr als die Stellen, die an die Volksbücher erinnern, oder sie Darstellungen der Kunst, die die packendsten, wirksamsten Szenen und die wichtigsten Personen des Stückes zum Segenstand haben. Das „Faust" -Problem ist nicht Ge meingut des Volkes geworden. Es fühlt die Kluft, die zwischen der Auffassungskraft des Durchschnittsmenschen und Der geistigen Gewalt des Dichters besteht, und scheut sich, trotz des innigen Verlangens nach Erkenntnis, in falscher Furcht vor der Unzulänglichkeit seiner geistigen Fähigkeit, sen Schleier zu lüften, der dem Laien das Verständnis für die Stellung des Menschen zur Schöpfung verhüllt. Das Gedächtnis des überragenden, in geistiger Leistung un erreichten, schöpferischen Genies macht es uns zur Pflicht, den Versuch zu wagen, seine Hauptdichtung auf eine ei- fache, für weite Kreise verständliche Formel zu bringen. In dem „Prolog im Himmel" hat Goethe den Sinn seiner Tragödie angegeben. Zwischen dem Guten und Bösen herrscht ein ewiger Kampf. Trotz aller Irrungen geht das Gute im Menschen nicht unter und findet aus der Tiefe wieder zurück zu seinem göttlichen Ursprung. Faust gehört zu denen, die irren, solange sie streben, die aber immer in ihrem dunklen Drange sich des rechten Weges be wußt bleiben, auch wenn sie vom Himmel die schönsten Sterne und von der Erde die höchste Lust fordern. Me phistopheles, der Teufel, ist die Verkörperung des Bösen, auf Vernichtung bedacht, was im Menschen an guten Re gungen und edlen Zielen sich findet. Gott-Vater läßt Faust durch Mephistopheles vom Himmel durch die Welt zur Hölle zehen. Faust muß erfahren, daß bis zur vollen Erkenntnis kein menschlicher Geist dringt, und daß der Weisheit letzter Schluß auch dem kühnsten Verstände verborgen bleibt. Das Gefühl der menschlichen Nichtigkeit treibt ihn zum Lebens verzicht; er greift zum Giftbecher, wird aber durch den Klang der Osterglocken gerettet. Faust sucht Zerstreuung zu finden in der Welt des Genusses. Da ist Mephisto der geeignetste Führer und erledigt seine Aufgabe mit größter Gründlichkeit. Der von beiden geschlossene Vertrag soll dann als beendet und Faust als dem Teufel verfallen gelten, wenn ein Genuß ihm solche Befriedigung gewährt, daß er nichts mehr wünscht, sondern zum Augenblicke sagt: „Ver weile doch, du bist so schön!" Ehe Fausts Schicksal sich im zweiten Teile der Tragödie erfüllt, flicht Goethe in die Handlung die von ihm frei erfundene Person Gretchens ein, durch die das ganze Werk seine stärkste tragische, mensch- lich verständliche und volkstümliche Note erhielt. Das Schick sal des glücklichen, reinen und unschuldigen Kindes, das durch Fausts Schuld mit Hilfe des unbarmherzigen, auf Ver nichtung alles Guten ausgehenden Mephistopheles zur Kindesmörderin wird, im Wahnsinn verkommt und am Galgen endet, wird in seiner Bedeutung für die Faust- Entwicklung vielfach verkannt; es ist nicht Hauptzweck des Schauspiels: Gretchens Verzweiflung im Kerker stellt den Zeitpunkt des tiefsten Falles Fausts dar. Ihr Untergang ist der Beginn für Fausts Lösung aus dem verderblichen Einfluß des Teufels. Aus dem Werkzeug des Bösen wandelt er sich um in den Beherrscher des Teufels. Fausts größte Befriedigung wird die Anwendung der ihm durch den Vertrag zur Ver fügung stehenden teuflischen Kraft zum Wohle der Mensch heit bis zu dem Zeitpunkt, wo seine Seele verfallen ist. Der gealterte, erblindete Faust als Förderer der Freiheit und Wohlfahrt hört das rastlose Schaffen glücklicher Erdenbürger und bricht ergriffen in die Worte aus: „Solch ein Gewimmel möcht' ich seh'n, Auf freiem Grund mit freiem Volke steh'n. Zum Augenblicke dürft' ich sagen: Verweile doch! Du bist so schön! Im Vorgefühl von solchem hohen Glück Genieß' ich jetzt den höchsten Augenblick." Engel entreißen dem Teufel die Seele Fausts und führen sie zum Himmel. „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösenl" Or. St.