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Der Gegensatz Konstantinopels: Alte Holzhäuser und moderne Hoch bauten dicht nebeneinander Man macht «s stch auf jeden Fall gemütlich! Holzsäger, die auf Arbeit warten iele, die den Orient von früher her kennen und ihn jetzt wieder einmal besuchen, suhlen sich schmerzlich enttäuscht. Sine nach Eisenbahn. Die Städte europäisieren sich und fangen an, sich zu gleichen wie ein Ei dem anderen. And in der Türkei ist schon gar nichts mehr los, behaupten die Fremden, die nach Fez und Schleier und den sanften Frauengesichtern hinter den vergitterten Haremsfenstern ausschauen, in denen sie Sensation und Befriedigung fanden. Aber daS stimmt natürlich nicht. Wohl fehlt vieles von dem, was wir uns unter Orient vorstellen, das Fremdartige, das Rätselvolle, das bunte, farbenprächtige Bild aus Tausendundeine Nacht. Aber das waren doch nur Äußerlichkeiten, denn anders hätten sie mit einem Feder strich ja auch gar nicht beseitigt werden können. And diese Äußerlich keiten sind es leider Gottes nur, die dem Fremden heute im Orient fehlen. Das andere, was auch heute noch da ist, die Jahrtausende alte Tradition, die einfachen, auf den natürlichen Bedingungen des geographischen Begriffs Orient fußenden und darum ewig unzerstörbaren Lebensäuberungen, die Auswirkungen einer strengen Religionslehre und eine auf eigener, alter Kultur basierenden Lebensphilosvphie, mit einem Wort, der Geist und die In der Hitze kann man nlchtS anderes tun, als möglichst viel im Schatten auSzuruhe» Äuch heute findet man noch wie früher, wenn auch vereinzelter, Frauen, die den ganzen Tag auf der Öffentliche Fußwafifiung in Konstantinopel genau wie früher, nur ohne Pluderhose und Fez Fiel auch der Schleier, ganz kann man sich nicht von ihm trennen. Trotz europäischer Kleidung trägt ihn die Türkin, wenn auch nach hinten zurückgeworfen Seele de» Orients, die werden leider meist übersehen, obwohl sie genau so interessant und romantisch sind wie all die früheren bunten Aus schmückungen, die er uns bot. And das kann ja auch gar nicht anders sein, denn wie sich die Mensch- heitSibeal« auch verändern mögen, die Natur bleibt immer die gleiche. Ewig gleich scheint die Sonne weihglühend und atemraubend am Himmel, und bringt der Schoß der Erde die herrlichsten Früchte hervor. And so find eS auch noch immer, wie vor tausend Jahren, Wasser und Schatten, die der Reiche dem Armen als höchsten Segen spendet, und unter den prächtig überdachten Brunnen fitzen wie einst die Muselmänner, stunden lang, und genießen die Köstlichkeit ruhevoller Mußestunden. Ein Blick in diese klarbesinnlichen, würdevollen Augen, und man hat den Orient erlebt. Gin Orientale kennt eben keine Zeiteinteilung, kein Leben mit Ler Ahr in der Hand, er unterbricht nicht das schönste Gespräch, weil er eine dringende Verabredung hat, und unsere schreckliche geitkrankheit. Das ganze Leben spielt stch auf der Straße ab das mal cku siecle, «keine Zeit haben-, ist noch nicht bis zu ihm gedrungen. Er ist, ganz entgegen unserer kühlen Sachlichkeit, noch immer der pomphaft höfliche Mann, dem es Sünde erscheinen würde, eine Bitte oder eine Gefälligkeit abzuschlagen, selbst wenn er ganz genau weiß, daß er sie nicht erfüllen kann. And da die Sonne mit ihrer klammernden Amarmung nach wie vor Tag für Tag die Glieder umfangen hält, so tut er auch heute nicht mehr als, er unbedingt muh, und zieht es trotz aller raffinierten lukullischen Genüsse vor, bei Wasser und Brot zu bleiben, wenn er nur seine Gliedmaßen strecken kann. And er erfreut stch an einem Nichts, am Schatten, am Wohlbefinden, an dem Tag, den er lebt, und das nennt er „Kef-, jene unvergleichlich wunschlos glückselige Stimmung, die wir armen, verwöhnten Europäer uns mit allem Fortschritt und aller Technik nicht verschaffen können. And auch die Frauen, obwohl einige schon Aniversitäten und Ausland besuchen, leben im Grunde ihres Daseins noch genau wie früher: bei Schwatzen und Besuchen bringen st« in endlosem Gleichmaß ihre Tage dahin, während die Ehegatten von morgens bis abends in den Kaffeehäusern sitzen, die noch heute kein weibliches Wesen betritt. And wie sich das ganze intime Leben und Familienleben auf offener Straße abspielt und mit kindlicher Harmlosigkeit alle Nachbarn daran, teilnehmen, so geht auch da« Berufsleben seit jeher in aller Öffentlichkeit vor sich. Die Rechtsanwälte empfangen ihre Kunden in den Kaffeehäusern, in den Büros nimmt man bei einer Tasse türkischem Kaffee die Besuche entgegen, denn man ist ja im Orient, und wenn auch das äußer« Bild sich verändert haben mag, der alte Orient, so wie wir ihn lieben, ist noch immer da mit all seinen Absonderlichkeiten, seinen Wundern, seinen Geheimnissen, noch immer ein unergründliches Rätsel für uns Europäer. Alice Müller-Neudorf.