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Taten und vergißt, daß eine gute Tat nur guten Ge danken entspringt, wie gute Früchte nur aus gutem Samen erzielt werden. Es ist eine Umsinnung, eine Umstellung des Denkens und der Gesinnung nötig, ehe- die großen Taten geschehen können. Diese Umstellung ist nicht die vom Individualismus zum Kollektivismus, vom Einzel-Ich zur Masse, sondern vom Ich zum Du, vom Einzelnen zur Gemeinde. Für meinen Bruder soll ich da sein: für meine Eltern, meinen Mann oder meine Frau, für meine Kinder, für meinen Glaubensbruder und meinen Volks genossen, für den, der am Wege liegt und die Bruder hand nach mir ausstreckt, für den Bruder von der Land straße, den Bruder im Arbeiterkittel und den Bruder im Zylinder. Das ist der Sinn christlicher Bruderliebe. „Allen Bruder sein, allen helfen dienen, ist, seit Er er schienen — Ziel allein! Brüder — hört das Wort! Solls ein Wort nur bleiben? Solls nicht Früchte treiben fort und fort? — Brüder — hört das Wort, daß es Wahr heit werde, und dereinst die Erde Gottes Ort!" W. Das geheimnisvolle Manuskript Bon Else Arnhem Ein grauer Februartag lag schwermütig über Berlin Das erst wenige Wochen alte Jahr 1797 kargte mit frostklaren Tagen. Dafür rieselte Feuchte über die Straßen, trübte den Leuten die Laune mit Husten und Schnupfen, machte die Chefs ungemütlich und die Ange stellten unlustig. So war wenigstens die Stimmung in der Verlagsbuchhandlung von Hans Friedrich Vieweg an jenem Februarmorgen, an dem sich im Verlauf zweier Stunden innerhalb des Geschäftsbetriebes soviel ereignet hatte, daß nicht nur der trübe und nasse Tag an der schlechten Laune des Chefs Schuld trug. Grollend saß er in seiner kleinen Stube, einen dicken Wollschal um den Hals und ein Fläschchen mit Salmiakgeist in der Hand. Als das Faktotum des Hauses nun noch eine Kanne mit dampfendem Flieder tee brachte, schien sich Herr Hans Friedrich Vieweg vollends als Schwerkranker zu fühlen, dem eine böse Erkältung das körperliche Gleichmaß und ein paar Un regelmäßigkeiten im Betrieb die seelische Harmonie auf das empfindlichste gestört hatten. Eine stillstehende Druck maschine, deren Defekt nicht auf der Stelle herauszu- finden war, kann einem rührigen Verleger schlaflose Nächte bereiten und eine dumme Patzerei in der Schrift gießerei, Herrn Viewegs Steckenpferd, war imstande, seine Galle so zu erregen, daß nur des Hausarztes ein dringliche Mahnung, sich jeglichen Aerger fernzuhalten, das Schlimmste verhütete. Pietsch, das Faktotum, sah es darum auch als ge raten an, sich schleunigst wieder zurückzuziehen, nachdem er den Tee in die große goldgeränderts Tasse gegossen hatte. Aber da grollte es hinter ihm her „Pietsch, wo bleibt die Post", — was Pietschen arg in Verlegenheit brachte. „Post is noch nich, Herr Vieweg", stotterte er. „Da soll doch das Donnerwetter . . . was is denn bloß heute . . ." rief der Chef, und er hätte energischer ge wettert, wenn ihm nicht ein Hustenanfall in die Kehle gesprungen wäre wie ein böser Kobold, was Pietsch zum Anlaß nahm, sich unauffällig zu drücken. Ein Verleger ohne Post ist wie ein Börsenmakler ohne Kurszettel. Herr Hans Friedrich Vieweg fühlte sich wie ein Fisch auf dem Trockenen und war geneigt, die Berliner Posteinrichtungen in einem geharnischten Artikel in der „Berlinischen privilegierten Zeitung" zu brandmarken. Gottlob brauchte er sich eine halbe Stunde später dieser Mühe nicht zu unterziehen. Pietsch brachte einen ansehnlichen Stapel mit gewichtiger Miene in das Zim mer und legte ihn auf seines Herrn Tisch. Trotz der körperlichen und seelischen Indisposition versagten Auge und Hand dem Buchhändler nicht den Dienst. Mit geübtem Blick schied er Wichtiges von Un wichtigem "bis zu dem Moment, da zwischen grünen und blauen Briefen ein umfangreiches, mehrfach ver schnürtes und versiegeltes Päckchen zum Vorschein kam, dessen Adresse unverkennbar Goethes Handschrift trug Sollte GoelKe wirklich seiner Aufforderung Folge geleistet haben? Wie ein Fieber kam es über Herrn Vieweg, Krankheit und Aerger waren vergessen. Rasch riß er die Verschnürung auf, löste das Umschlagpapier und sah sich zu seiner Ueberraschung einem neuen Hin dernis gegenüber. Siegel, Schnüre und Papiere und ein beigelegter Brief, das war alles, was er fand und un geduldig entfaltete er den Brief, der Goethes Unter schrift trug. Was aber Herr Hans Friedrich Vieweg zu lesen bekam, das war ihm in seiner 11jährigen Ber- legertätigkeit noch nicht begegnet. Da stand in des Dichters charakteristischer Handschrift geschrieben: „So mir Herr Vieweg für die versiegelten Bogen nicht 200 Friedrichsdvr ausbezahlen wolle, wird er höflich ge beten, das Päckchen uneröffnet und unverzüglich zurück zuschicken." Potzdonner, was sollte ein Geschäftsmann mit einem solchen Verlangen beginnen? Man kaufte doch nicht die Katze im Sack. 200 Friedrichsdvr so ins Blaue hinein? Das waren ja Allüren, wie sie sich kaum der Kaiser von China erlaubt hätte! Aber der Herr Geheimrat von Goethe in Weimar machte das mit ein paar Feder zügen. Soll er sein Geheimnis für sich behalten, mit Herrn Friedrich Vieweg spielt man nicht Verstecken! Aber riesengroß wuchs das Aber. Wenn nun doch unter diesen Schnüren und Siegeln eine Kostbarkeit verborgen war, um die es sich eine solche Summe schon verlohnte, die dem Verlag Ehre einbrachte und das augenblickliche Risiko in einen Gewinn umwandelte? Lange stritten Aerger und Neugier über diesen „launi schen Brief", wie ihn Herr Vieweg nannte, miteinander, endlich siegte der Wagemut des Geschäftsmannes, Schließlich, es konnte den Kragen nicht kosten, der Nam- Goethe schlug alle Bedenken aus dem Felds, und mit ent schlossener Hand zerbrach der Verleger die trennenden Siegel. Wenige Minuten später saß er tiefgebückt über dem aufgeschlagenen Manuskript des Epos „Hermann und Dorothea" und mit den schwingenden Hexametern des Anfangs „Hab ich den Markt und die Straßen doch nie fo einsam gesehen", las er sich in dieses meisterliche Werk hinein, wie einer, der vergessen hatte, daß er an seinem Berliner Verlagsschreibtisch saß, Hans Friedrich Vieweg hieß, und schwer erkältet war. So kam es, daß die Stunden rannen, bis ein knurrendes Wehgefühl im Magen den Lesenden zurückrief aus der Idylle kleinstädtischen Lebens in die Wirklich keitsnähe seiner Umgebung, die mit grauem Februar- Himmel und kaltgewordenem Fliedertee trotzdem die schöne Begeisterung nicht dämpfen konnte, die für eins Zeit selbst des Geschäftsmannes Berechnungen hintenan stellte. Als der Kühle Kopf nach einem mit Genuß und gutem Appetit eingenommenen Mittagsmahl sich wieder regte, glaubte Herr Hans Friedrich Vieweg mit Sicher heit kalkulieren zu dürfen, daß die 200 Friedrichsdor sich rasch vervielfachen würden, wenn das Manuskript im Druck erschiene. Und er hatte sich nicht getäuscht. Her mann und Dorothea brachten ihm einen so reichen Ge winn, wie er ihn selbst in seinen kühnsten Verleger träumen nicht voraus berechnet hatte. Das Mirakel Bon F. Schrönghamer, Heimdal In unserer Bauernstube daheim hing über dem Eß tisch, wie weiland in allen alten Waldbauernstuben, der Heilige Geist in Gestalt einer geschnitzten Taube in einer Glaskugel, die mit einer Schnur an der Balkendecke baumelte. Ja, baumelte. Denn wir waren damals schon sieben Kinder — das Dutzend ist erst später voll ge worden — und machten meist ein solches Getümmel in „unserer" Stube, daß die Glaskugel mit dem Heiligen Geist fortwährend hin- und widerschwankte. Und an einem Pfingstsamstag, als die wilde Jagd wieder einmal über Tische, Stühle und Bänk^ tollte, hatte ich das Un glück, mit dem Kopf an den Heiligen Geist zu stoßen, so zwar, daß die Glaskugel klirrend an die Decke flog und die morsche, rauchgeschwärzte Hanfschnur abriß. Gottlob fing ich die Kugel, unbemerkt von elterlichen Späheraugen, rechtzeitig auf und bastelte sie schnell mit einem neumodischen Nähmaschinenfaden an den Haken in der Balkenlage. „Lange hält das nicht", sagte mein älterer Bruder naseweis und sachverständig. So klug war ich schon selbst und hatte ich hatte mir.heimlich vorgenommen, zu gelegener Zeit den Nähfaden durch eine hausgemachte, nagelneue Hanfschnur zu ersetzen. Denn es hätte ein unausdenkbares Unheil gegeben, wenn uns der Heilige Geist eines Morgens oder Abends in die volle Suppen schüssel gefallen wäre. Nicht lange nach dem beschriebenen Zusammenprall mit der Glaskugel über dem Eßtisch geht die Stubentür auf, und ein schöner, feiner Mann mit blondem Voll bart und lustigen Augen steht lachend im Türrahmen. Und ehe er die Frage vollenden kann, ob wir ihn noch kennen, hängen wir schon jubelnd an seinen Rockschößen: „Der Vetter! Der Vetter!" Es war der Vetter aus der Stadt, meines Vaters Bruder, damals noch Junggeselle und ein reicher Kauf mann dazu, für uns wie für die Dörfler der Inbegriff aller irdischen Vollkommenheit. Ich hatte keinen sehn licheren Wunsch, als selbst einmal ein solcher Vetter zu werden, der den Kindern immer Gutes bringt, wenn er Festzeiten seine ländlichen Verwandten besucht. Ueber den Vetter und den guten Dingen, dis er uns mit.gotnacht hatte, vergaß ich das Abenteuer mit der Glaskugel und gedachte auch der blauen Beule nicht mehr, die ich als juckendschmerzliche Erinnerung an der Stirne trug von dem Zusammenstoß. Ich hielt mich wohlweislich etwas im Dunkeln,> damit die Beule niemand aufsiele, und der Vetter oder gar der gestrenge Water eine peinliche Frage nach Schuld und Ursache täte. ( Und so gelang es mir, unbemerkt auf der Ofen bank einzuschlafen, obwohl die anderen Geschwister schon ins Bett mußten. Denn es schickte sich nicht, daß sie beinstrampelnd um den Tisch saßen und dem Vetter das reiche Abendmahl neideten, das ihm die Mutter eben auftrug. Ich tat aber bloß, als schliefe ich. In Wirklichkeit lag ich munter, mit geschlossenen Augen zwar, denn ich wollte zu gerne hören, was der Vetter dem Vater alles zu erzählen wußte von seiner Stadt da draußen, die ich für's Leben gern einmal gesehen hätte. Und als der Vetter genug Gesottenes und Gebra tenes, Eingemachtes und Gebackenes gegessen hatte, da stellte ihm die gute Mutter auch noch eine Schüssel voll Kaffee mitten auf den Tisch, und der Vetter schöpfte daraus mit einem großen Löffel in die geblumte Tasse. Und als er die erste Tasse auf einen Zug geleert hatte, da fragte er den lieben Vater: „Und wie geht's denn dir, lieber Michel?" Vaters Antwort war ein stummer Seufzer. Und Mutter sagte dazu: „Es ist ein rechtes Kreuz mit so viel Schulden und sieben Kindern. Aber in Gottes Namen, es wird schon gehen . . . Gott verläßt die Seinen nicht. Wo die Not am größten ist, ist Gottes Hilfe am nächsten." „So so . . .", dehnt der Detter heraus und schöpft sich aus der braunen Schüssel die zweite Tasse voll. „Ich wollte auch gerne aushelfen, aber ich kann wirklich nicht. Auf Ehre!" beschwört der Vetter. „Mit hundert Märklein kämen wir weit", sagt der Vater. „Und bis Martinitag hättst dein Geld wieder, weil wir dann Säue hätten zum Verkaufen. Aber jetzt, vor 1>er Ernte, hat der Bauer gar keine Einnahmen. Nur Ausgaben. Sieben Kinder kosten Geld, und Zinsen sind auch wieder zum Zahlen . . ." „Hör' mich an, Michel!" schwört der Vetter hoch und heilig. „Wenn ich hundert Mark in den Taschen habe, dann soll auf der Stelle der Heilige Geist herunterfallen! Mitten in die Schüssel! Jawohl!" Und wie der Vetter, der als „aufgeklärter" Stadt mensch offenbar an keine Wunder mehr glaubt, nach diesem vermessenen Schwur zum drittenmal in aller Seelenruhe mit dem Schöpflöffel in die Kaffeeschüssel fährt, um sich die Tasse neu zu füllen, da ist eine Stille von drei Sekunden — und dann tut's einen Klatsch und Platsch in die Schüssel, daß es mich nur so emporreiht von meinem Lager auf der Ofenbank. Denn siehe: das Wunder ist geschehen. Und der Vetter, der Vater, die Mutter und auch meine, in diesem Augenblick gar nicht beachtete Wenigkeit, starren schrek- kensbleich auf die Glaskugel in der Kaffeeschüssel. Meine Mutter faßt sich zuerst und sagt: „Es ist schon wahr: Wo die Not am größten, ist Gottes Hilfe am nächsten!" Ich aber sinne der Wahrworte meines älteren Bru ders: „Der hält nicht lang", nämlich der neumodische Bindfaden, was ich selbst gewußt habe, denn so klug bin ich auch . . . Der Vater hat nur einen Blick auf den Heiligen Geist, der als geschnitzte Holztaube mit dem Friedens zweig im zarten Schnäblein auf der braunen Kaffeebrühe schwimmt. Der Vetter aber faltet erst die Hände zu einem Stoßgebet um Vergebung seines fahrlässigen Falsch eides, dann schiebt er dem Vater die Brieftasche hin, die aussieht wie ein verschwollener Schwartenmagen, und sagt mit zitternder Stimme: „Lieber Bruder Michel, tu dir heraus, so viel du brauchst. Und betet für mich morgen recht fleißig zum Heiligen Geist, damit das Wun der der Bekehrung nachhält. . ." Und da langt der gute Vater aus der Brieftasche des Vetters einen blauen Schein heraus: „Mehr brauche ich nicht. Und auf Martini, wenn wir die Säue ver kaufen, hast du dein Geld wieder . . ." Der Vetter aber legte noch einen Hunderter dazu und sagt: „Das ist für einen neuen Heiligen Geist. Und was übrig bleibt, tut den Kindern in die Sparbüchse, wenn sie eine haben. Und betet recht für mich . . ." So andächtig habe ich den Vetter all mein Lebtag nicht gesehen wie an jenem Pfingstsonntag in der Wald kirche. Und zum Abschied hat er mir noch eigens einen Taler gegeben, damit ich ja nichts verrate von dem Pfingstwunder im Daterhause, da der Heilige Geist mit samt der Glaskugel in die Schüssel fiel und den Vetter- Lügen strafte. Und wenn später oft die Rede ging von allerlei Mirakeln und niemand recht daran glauben wollte, da verwies der Vetter die Leute ihres seichten Geklüngels. Denn er wußte selbst aus Erfahrung, daß es noch Wun der gab. Jawohl! Das Geheimnis aber, wie es zustande kam, habe ich wohlweislich gehütet. Nur meinem Vater habe ich es in späteren Jahren einmal anvertraut, als Erwachsener schon, und da meinte er: „Ich hab' mir's so gedacht, daß eine Spitzbüberei dahinter steckte. Aber trotzdem war es eine weise, fürsorgliche Fügung, die uns alle zum Guten ausschlug, besonders für den Vetter, der heute noch baum- fest an das Mirakel glaubt und seitdem wie umgewandelt ist. So ist's also doch ein richtiges Pfingstwunder."