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Das Findelkind von Paradiso Originalroman von L. Courths-Mahler er Fährmann Hans Jürgen sah auf einer der die breite Fähre rechts und links begrenzenden Holzbänke. Die Fähre lies, wenn sie im Be triebe mar, an einer eisernen Kelte über den Fluh hinüber, und es konnten aus ihr mit einem Male bis zu zwan zig Personen sowie auch Airtos und Fuhr- rvtttc nach dein anderen Ufer übergcseht oder von drüben wie der herübergeholt werden. Etwa zehn Minuten weiter flußabwärts befand sich ein Wehr, dessen Rauschen man bei günstigem Winde bis hierher hören konnte. Hans Jürgen kannte dieses ferne Rauschen und wußte, daß dort große aufge staute Wassermengen brodelnd einige Meter hinabstürzten. Hat te der Fluß reichlich Wasser, wie jetzt eben, rauschten sie besonders stark. Und für Hans Jürgen war das wie eine Art ferner Melodie, die sein eintöniges Leben be gleitete. Zuweilen schweifte sein Blick nach dem anderen Ufer, um fest- Zustellen, ob jemand die Fähre benutzen wollte, oder er sah nach der Stadt hinüber, in der die große chemische Fabrik, die Feda- Werke, lag, und von der aus die elektrische Bahn Fahrgäste bis in die nächste Nähe der Fähre brach te. Die Endstation der Bahn be fand sich bei einem etwa zehn Minuten entfernten kleinen East- Hause, in dessen Garten die Stadtbewohner zuweilen ihren , Nachmittagskaffee eiunahmen oder die Kutscher und Chauffeure sich durch einen Trunk oder einen Imbiß erquickten. Es war heute sehr ruhig. Hans Jürgen zog ein Buch aus seiner Tasche und begann zu lesen. Denn er, der von einem schier unbezähmbaren Wissens- und Bildungsdrange beseelt war, tat nichts lieber als das lind verbrachte jede freie Minute damit, sich mit irgendeinem Buch: ZU beschäftigen, das ein gefälliger Buch händler in der Stadt ihm stets gerne zur Verfügung stellte. Es waren zumeist wissenschaftliche und gar in Englisch geschriebene Werke, in die er sich vertiefte; denn auch die Kenntnis fremder Sprachen hatte er sich durch Selbstunterricht zu eigen gemacht. Eine beinahe feierliche Stille herrschte ringsumher. Kaum ein Blatt bewegte sich, kaum eine Mücke summte. — Auf einmal durchbrach das Rattern eines Autos das Schweigen de» Sommernachmittages. Von der Stadt her kam in schnellster Fahrt ein Auto auf die Fähre zu. Hans Jürgen blickte auf, schlug mit einem Seufzer sein Buch zu und schob es in seine blaue Leinenbluse. Dann erhob er sich und trat zur Seite, um die Kette zu lösen, die dazu diente, die Fähre sestzuhalten. So stand er in Bereitschaft, um den Prahm sofort frei zu machen, sobald das Auto auf ihn hinaufgefahren sein würde. Ein ihm gewohnter Anblick, ein heranrollendes Auto. Ee- lassen sah er ihm entgegen. Aus einmal aber zuckte es unruhig in seinen Augen auf, denn der Wagen mäßigte sein Tempo nicht, trotzdem er bereits ganz nahe an die Fähre herangekom men war. Da mußte irgend etwas nicht stimmen! Weiß der Himmel, es war so. Der Chauf- feur rief ihm etwas zu, aber er verstand nicht was. Er begriff nur, daß die Bremsvorrichtung des Wagens versagen müsse. Und dann .. - und dann ... I Schnel ler als es sich aussprechen läßt, war es schon geschehen. Ohne seineFahrgeschwindigkeit zu min dern, sauste das Auto auf die Fähre zu, schoß über sie hinweg, sprengte durch die Wucht des Anpralles die Sperrkette und stürzte kopfüber in den Fluß. Allerbarmender Himmel! Hans Jürgen meinte, das Herz solle ihm stillstehen I Hinter dem Chauffeur, er hatte es deut lich gesehen, hatte sich in dem offenen Wagen eine Dame er hoben, die im Augenblick des Herankommens des Wagens auf schrie. Allein ehe Hans Jürgen alles das so recht zu erfassen ver mochte, waren Chauffeur, Dame und Auto in den Fluten ver schwunden, und das Wasser schlug gurgelnd über den Verunglückten zusammen. Einen Augenblick lang stand Hans Jürgen wie betäubt da. Dann aber riß er mit raschem Griff die Haltekette wieder fest, streifte rasch die Schuhe von den Füßen und sprang selbst in den Fluß, Rettung zu bringen, um zu retten, was noch zu retten war. Vor allem die junge Dame, die er soeben in einiger Ent fernung vor sich wieder auftauchen sah. Sie wurde von dem rasch strömenden Wasser fortgeführt. Stromabwärts, dem rauschenden Wehr entgegen. Entsetzen er faßte Hans Jürgen; er wußte nur zu gut, sie war reuungslos verloren, würde sie bis dahin abgetrieben.