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Nr. 228. Pulsnitzer Tageblatt. — Montag, den 30. September 1929. Seite 6. Der Schwimm-Länderkamps England—Deutschland endete unentschieden 2:2, nachdem auch beim zweiten Teil der Wettkämpfe in London Deutschland die 4mal-200-Iards- Staffel in 8:51,6, England dagegen das Wasserballspiel 1 :0 gewonnen hatte. Den „Preis des Winierfavoriten", 33 000 Mark, der den Mittelpunkt des Programms der Rennen in Köln-Mer- heim bildete, holte sich Stall Hönwalts Mellitus unter Narr vor Wiener Blut und Merian. Der Toto zahlte auf den Ucbcrraschungssieger 183:10. Berliner Temnsmeistcr wurde bei den jetzt beendigten Ber liner Verbandsspielen der 1. Berliner Herrenklassen Rot-Weiß durch einen 7 : 2 - Sieg über den Berliner Schlittschuh-Llub. Prenn trat gegen Or Landmann nicht an. London schlug Köln im Städte-Fußballspiel 7:3 (4:2). Das Spiel fand in Illford bei London statt. Mit einem Düsseldorfer Fußballsieg endete das Städte spiel gegen Paris. Die Düsseldorfer gewannen vor einhei mischem Publikum 4 :1. Im Fußball Länderspiel Norwegen—Schweden, das in Oslo vor 23 000 Zuschauern stattfand, siegte Norwegen 2 :1 (1 : 1> verdient und gewann damit zum erstenmal den Nordi schen Pokal. Mit einem süddeutschen Fußballsteg endete das im Rah men des Opfertages im Frankfurter Stadion vor 12 000 Zu schauern ausgetragene Fußball-Repräsentativspiel gegen Westdeutschland. Das Ergebnis lautete 7:3 (3:0). SüddeutschlanLs Fußballspiele standen im Zeichen des Opfertages. Als besondere Ergebnisse seien verzeichnet: Südbayern—Nordbayern (in München) 4:3; Augsburg— München 2:2; Ulm—München 2:3; Bamberg—Nürnberg- Fürth 3:5; Stuttgart—Frankfurt 2:3; Rastatt—Baden- Baden 5:0; Worms—Frankfurt-Offenbach 3:1; Hanau- Frankfurt 2 :4; Wiesbaden—Mainz 3 :4. Königsberg schlug Stettin im Fußball-Städtespiel vor 4000Zuschauern in Stettin 6 :4, nachdem das Spiel bei Halb zeit noch 2:2 gestanden hatte. Südostdeutschlands Fußballspiele brachten keinerlei Ueberraschungen. Recht mager mit 2 :1 war der Sieg von Breslau 08 über Schlesien Rapid. Die Berliner Fußballspiele brachten als wichtigstes Er eignis das Pokal-Vorschluß-Spicl Hertha-B. S. C. gegen Minerva. Hertha gewann knapp 2:1 (1:0) und bestreitet nunmehr das Endspiel gegen Viktoria. In den Meister schaftsspielen verlor Viktoria 1 :2 gegen den Adlershofer B. C. Polizei S. V schlug Halley-Concordia 8 :1, .der Ber liner S. V. 92 siegte über Südstern 6 :1. Die übrigen Er gebnisse entsprachen den Erwartungen. Die Fußball-Verbaudsspiele im Westen verliefen im all gemeinen wie erwartet. Ueberraschend hoch, nämlich 8 :1, fiel der Sieg von Schalke 04 über Germania-Bochum aus, während Arminia-Bielefeld nur unentschieden 1:1 gegen V. f. B.-Bielefeld spielte. Im mitteldeutschen Fußball kam das 5:5- Ergebnis zwischen Fortuna und Olympia-Germania in Leipzig recht unerwartet. Der VfB. schlug die Sportfreunde 4 :0. Der Dresdener SC. verlor gegen Wacker-Leipzig im Freund schaftsspiel 4 :5. In Chemnitz distanzierte der BC. mit 9 :1 Hellas-Germania, während Sturm nur 3:2 über National siegte. Die Fußballspiele in Norddeutschland brachten als wich tigste Resultate einen 2:0- Sieg des Hamburger SV. über Union-Altona. Holstein-Kiel schlug Borussia-Kiel nur 3 :2. „Rund um Dahlwitz-Hoppegarten", das alljährlich statt findende Laufe» und Gehen über 22,5 Kilometer, wurde von Brauch - S. C. C. in 1 :30 :52,3 vor dem favorisierten Münchener Kapp bei den Läufern und von Sievert- Siemens in 2 :12 :35 vor Schmitt-S. C. C. bei den Gehern gewonnen. Möller gewann den Großen Abschiedspreis von Han nover mit 99,970 Km vor Thollembeek und Maronnier. Die kommende Waldlauszeit. Wenn das Laub von den Bäumen fällt, wenn die letzten WeMümpst auf der Aschenbahn unter Dach und Fach gebracht sind, dann tritt jener Sport in seine Rechte, der unter der Be zeichnung „Waldlauf" jung und alt in die freie Natur lockt. Cs ist ein Sport, den man vorwiegend bei Beginn oder Schluß der Leichtathletilsaison auszuüben pflegt. Im internen Vereins verkehr hört er jedoch nie auf, da selbst Frost und Kälte kein Hindernis bilden, Trainingsläufe auch im Winter zu pflegen. — Der Waldlauf geht aber nicht nur die Leichtathleten an. Längst haben sich auch die Anhänger der übrigen Sportarten zu der Er kenntnis aufgeschwungen, daß auch sie dieses Mittel nötig haben, um in der toten Saison im Training zu bleiben. So finden wir, daß um die Gunst des Waldlaufs neuerdings die Ruder- und Kanuverein« genau so wetteifern wie die Schwimmer und Rad fahrer, von den Turnern gar nicht zu reden, haben doch diese seit vielen Jahren den Waldlauf auf das Programm ihrer Werbe- veranstaltungen gesetzt. Die Geschichte des Waldlaufs fei mit wenigen Worten gestreift. Lang« Zeit unbeachtet wurde er im Jahre 1900 auf Veranlassung des Berliner Sport-Clubs „Komet" zum erstenmal versuchsweise eingeführt. Schließlich ernst genommen und gefördert, ist der Waldlauf heute in unserem Vereinsleben eine selbstverständliche Erscheinung. Ander« Länder sind uns in der Entwicklung vorausgeeilt; denn das Stammland des „oro»s-couvtry"-Lauf«ns ist England, wo bereits um die Mitte des vorigen Jahrhunderts di« Studenten der Universität Oxford Wett läufe durch die freie Natur zu veranstalten pflegten. Es ent wickelte sich ursprünglich aus der dort schon früher üblichen „stsspls chase". Von England aus griff dann auch die Be wegung auf den Kontinent über, wo dieser Sportzweig in kurzer Zeit Verbreitung fand. Heute gehört er zum eisernen Bestand teil der internationalen Leichtathletik. Börse und Handel l Amtliche sächsische Notierungen vom 28. Septemhn. Dresden. Die Börse setzte in ruhiger Haltung ein, der aber im weiteren Verlaufe eine merkliche Befestigung folgte. Besonderes Interesse machte sich wieder für Bankaktien geltend, nach denen lebhafte Nachfrage herrschte, die zu wesentlichen Kurssteigerungen führte. Die übrigen Gebiete des Marktes lagen ziemlich ruhig. Es erhöhten ihre Kurse Vereinigte Pholo- Genußscheine um 12, dergl. Aktien um 2, Dresdner Albumin- Genußscheine um 8, Dresdner Bank um 6 und nachbörslich um weitere 2, Commerz- und Privatbank um 5, Disconto-Komman- dit um 4,50, Bergmann und Grüner-Bräu um je 4, Darm städter Bank und Schubert u. Salzer um je 3, Dittersdorfer Filzluch um 2,50, Aschaffenburger um 2 Prozent. Dagegen ver loren Erzholz 3, Erste Kulmbacher 2,50, Jndustriewerke Plauen, Wanderer und Dresdner Albumin-Aktien je 2 Prozent. Die übrigen Kursveränderungen hielten sich unter 2 Prozent. Rentenwerte meist etwas schwächer. Leipzig. Das Geschäft an der heutigen Börse gestaltete sich etwas lebhafter und führte besonders bei Banken und Schiff fahrtswerten, später auch bei Montanwerten, zu Kurssteige rungen. Gewinnen konnten u. a. Berliner Handel 5,5, Dresdner Bank 4 Prozent. Anteil,cn zeigten eher eine etwas schwächere Tendenz. Der Freiverkehr war gut behauptet. Chemnitz. Die Börse verkehrte auf der ganzen Linie in freundlicher und zuversichtlicher Haltung. Wieder standen Bank werte im Vordergründe des Interesses, wurden gefragt und zogen bei lebhaften Umsätzen bis zu 6,50 Prozent an. Ma schinenaktien und die Diversen vermochten ihre Kurse vielfach bis um 3 Prozent zu verbessern. Texlilaktien lagen schwach, u. a. verloren Liebermann 4,50 und Dittersdorfer Filz 2 Prozent. Im Freiverkehr waren besonders Mafchiuensabrik Germania und Äammgarn-Silberstraße gefragt. Leipziger Produktenbörse. Weizen, inländ., 74,5 Kilo gramm, 221-227; Roggen, hiesiger, 70 Kilogramm, 184—191; Sandroggen, 71 Mlogramm, 185—191; Sommergerste, Inland., 220—235; Wintergerste 180-190; Hafer 168—178; Mais, ame rikanischer, 213—215; Mais, Linquantin, 230—235; Raps 34S bis 355, Erbsen 340—360. Die amtlichen Notierungen lauten für prompte Ware Parität frachtfrei Leipzig. — Alles bezahlt und Brief. Berliner Börse vom Sonnabend. Die Börse eröffnete schwächer, da die erwarteten Publikums käufe ausblieben. Im Verlaufe wurde die Tendenz ziemlich fest. Träger des Geschäfts war aber weiter fast ausschließlich die Spekulation Der Stimmunqsumschwung wurde mit Gerüchten' begründet, nach denen Deutschland gegen Gewährung des Aünd- holzmonopols von Ivar Kreuger eine Anleihe von mehreren hundert Millionen erhalten solle. Effektenmarkt. Heimische Anleihen waren etwas schwächer. Schiff fahrtswerte setzten im Zusammenhang mit demHapagdementi bis zn 1F Prozent niedriger ein. Bankaktien: Im Mittel punkt standen Handelsgesellschaft. Montanaktien wurden im Bevlauf« recht fest. Kaliaktien stiegen nach uneinheit licher Eröffnung bis etwa 4 Prozent. Berliner Produktenbörse: Ruhig. Das, Inlanüsangebot bleibt nach wie vor spärlich. Die Kauflust der Mühlen ist etwas vorsichtiger geworden, da einerseits das Mehlgeschäft sich beruhigt hat und zum andern das Ausland mattere Haltung zeigte. Die Promptnotierungen erwiesen sich als widerstandsfähiger, als die Aeitmarktpreise. Amtlich« Notierung der MittagsbSrs« ab Station Mehl und Klet« brutto etnschl. Sack frei Berlin Müh 28.9. 29 27. S. 29 100 kg 28 9. 29 27 9. 29 Wetz. Mehl 70"/„ mark. 223.0-22 .0 223 0-225.0 Weizen 28 2-33.7 28.2-33.7 Sept. 2-10.0-238.0 241.0 Roqgen 24.7-27.5 24.7 27.5 Okt. 240.0 239.0-240.0 Weizenkleie 11.6-12.2 11.6-12.2 Dez. 252.0-251.2 -52.7 253 0 Roggevkleie 10.8-11.2 10.8-11.2 Rogg. Weizenkleie- märk. l 80.0-182 5 >80.0-1825 melafje — —— Sept. 191.0 193.60 Raps (1000 ng) — — Okt. 192.0-192 5 192.0-1931 Leinsaai <do.) — — Dez. Gerste Brau Wink Futt. 216.0 207.5-207.2 Erbsen. Viktoria 36.0-44.0 36.0 44.0 Kl. Speiieerbsen 8.0-33.0 280-33.0 200.0-220.0 170.0-186.0 200.0-220 6 l 70.0-186.6 Futtererbjen Peluichken Ackerbohnen Wicken 21.0-23.0 21.0-23.0 Hafer Lupinen, blau — —» „ gelb — märk. 166 0-176 0 166.0-176.0 Seraöella. neue — — Sept. Okt. 176.0 178.5 178.5 Rapskuchen Leinkuchen 18.5-19.0 24.3-24.6 18.5-19.0 24.3-24.6 Dez. 192.5-193.0 I93.O-192.k Trockenichnitze! 12.2-124 12.2-12.4 MaiS Soya-Extrak« Berlin 207.0-208.0 207.0-208 0 Schrol 20.0 20.6 20.0-20.6 Plata — — Karioffeltlocken — — Berliner Butterpreise. Amtlich« Notierung ab Erz«u- gevstation, Fracht und Gebinde gehen zu Käufers Lasten: 1. Qua lität 193, 2. Qualität 176, abfallende Sorten 160 Rm. Tendenz: Fest. (Ohne Gewähr.) Wild- und Geflügelpreise. Wild und Wildge flügel: Rehböck« >4 Kilogramm 1,40—1,50, Rotwild, männl., la, A Kilogramm 0,65—0,68, do. Spießer, la, Kilogramm 0,70—0,76, Rebhühner, jung«, inl., la, Stück 2,t>0—2,70, do. 2a, Stück 1,70—2,00, do. alte, inl-, 1a, Stück 1,65—1,70. Geschlachtetes Geflügel: Hühner, hiesige Suppen-, 1a, 1- Kilogramm 1,05—1,20, do. 2a, '4 Kilogramm 0,80—1,05, do. junge, hiesig«, 1a, 14 Kilo gramm 1,20—1^0, do. 2a, 14 Kilogramm 1,00—1,10, Poulets, ung., 1a, 14 Kilogramm 1,35—1,40, Hähne, alte, 14 Kilogramm 0,80—1,00, Tauben, hiesige, junge, 1a, Stück 0,75—0,90, do. 2a, Stück 0,55—0,70, Gänse, 1a, 14 Kilogramm 1,10—1,15, do. 2a, 14 Kilogramm 0,90—1,05, do. ung. Stops-, 1g, 14 Kilogramm 1,20—1,25, Enten, 1a, 14 Kilogramm 1,30—1,40, do. 2a, >4 Kilo gramm 1,00—1,20, do. Hamburger, junge 1a, 14 Kilogramm 1,45. — Die Preise sind die amtlichen Berliner Markthallenpreise, ein schließlich Fracht, Spesen und Provision. (Ohne Gewähr.) Oop^rlxdt 1929 kv Karl Köhler L Co., Berlin-Zehlendorf. 4 ! Nachdruck verdaten. „Blut ist dicker wie Wasser — zumal unser fürstliches Blut, bloß das det ein bißchen bleu ist, mein guter Udo," Willi tat es nicht anders, er nannte seinen herzoglichen Vetter immer Udo, weil er fand, daß Udo schöner sei und weil er sich denken konnte, daß es Ernst nicht erfreute. Aber was tat man nicht für die Verwandtschaft? — Herzog Ernst öffnete den großen Brief, der mehr Quantum als Qualität aufwies. „Freund, Herzog, Vetter und Blaublutgenosse! Genosse! Wenn der alte Hofmarschall das Wort hörte, dann bekam er eine Gänsehaut, was immerhin erstaunlich war, da er doch ein altes Rhinozeros war, also mit der Gänsehaut nichts anzufangen wußte, was ober nicht der Zweck meiner Zei len ist, sondern der, daß ich das Reisen mal vorläufig satt habe, bei uns zu Hause aber Kindtause am Tagesprogramm steht, was mir wegen der damit verbundenen nassen Windeln nicht ange nehm ist und ich also in nächster Woche heimatlos sein werde mit dem ganzen Herzen voll heimatlicher Gefühle. Rem werde ich Dich in Deinem räumlich dazu vortrefflich geeigneten Schloß um- stoßen und für einige Wochen Dein lieber Gast sein. Ich sehe direkt, wie Du Dich freust, zumal wenn ich Dir sage, daß mich nir gends Deine Absage erreichen wird, denn ich gebe keine Adresse an, eben, weil ich diese Deine Absage nicht erhalten will. Aber sonst geht es mir gut und ich danke Dir für die freund liche Einladung. Daß Male (seine einzige Schwester Melani Stephan) schon wieder ein Kind bekommen hat, weißt Du wohl noch nicht. Möchte bloß wissen, wo die die Zeit dazu hernimmt. Ich könnte das nicht. Und dabei ist sie noch unverschämt glücklich mit ihrem dicken Industrieonkel von Ehemann. Ich freue mich, büd in Deinen gastlich geöffneten Armen zu liegen. Dein Vetter Willi." „Ata, das kann >a nett werden! Am dritten Tage haben wir uns erschlagen und am vierten Tage muß ich ihn dann beerdigen. — Eins freut mich bei der Sache! Daß er mitten in den Hand werkertrubel hineinkommt. Das geschieht ihm recht!" Dann las Herzog Ernst noch den Bries der Frau von Schlicht, die nur erfreulicherweise berichtete, daß in zehn bis vier zehn Tagen auch die letzten Handwerker aus dem Schloß abzie hen würden, und daß sie von Graf Willi Hatzfeld einige Zeit be kommen habe, in der er seine Ankunft für nächste Woche ansage. „Wenn es Euer Hoheit recht ist, werde ich die beiden Zimmer der Aurora für Graf Willi richten lassen, da hat er die meiste Ruhe, denn dieser Flügel des Hauses ist schon ganz fertig." „Der Junge will sicher gehen, er meldet sich auch bei der Schlicht an, damit die für sein leibliches Wohl sorgt. Na — Schicksal, nimm deinen Lauf!" * * * Am Abend saß Herzog Ernst wirklich unten in dem dunklen Speisezimmer des Goldenen Löwen. Er trug einen unauffälli gen dunklen Sakkoanzug, war aber trotzdem eine so auffällige Er scheinung durch die vornehme Eleganz seiner ganzen Persönlich keit, daß jeder, der das Lokal betrat, zuerst nach seinem Tisch sah. Ein fremdes Gesicht in M. war schon wwiefo ein Ereignis, dazu noch die lautlose Beflissenheit des sonst so unnahbaren Ober kellners — also mußte der Fremde irgend etwas ganz Besonderes lein. Da das Gesicht Herzog Ernsts nicht im vollen Licht zu sehen war, jo erkannten ihn auch nicht die wenigen, die ihn vielleicht vor dem Krieg einmal in M. gesehen hatten. Als aber der gewohnte Schoppen Bier und der Stamm Goulajch vor den Herren Gästen stand, hatten sie sehr bald den Fremden vergessen und vertieften sich mit der gewohnten In brunst in den Stadtklatsch. Herzog Ernst machte seine amüsanten Beobachtungen, und war durch die tagelange Langweile schon so mürbe geworden, daß er diese kleine Szene als interessante Unterhaltung ansah. Das Gespräch drehte sich um das Thema, das alle am mei sten interessierte — Madame Germain und ihre Herbsthutaus stellung. Erst lchimpfte man darauf, daß es überhaupt Hüte gab, dann schimpfte man auf die dauernd wechselnde Mode, dann auf die Kaufsucht der Frauen und die dadurch geforderten happigen Preise dieser Madame Germain, und zu guter Letzt versuchte man Madames völlig eigene Person in tausend Stücke zu zerreißen. Jetzt hielt es Oberkellner Braun, der jedes Gespräch im Lo kal mit einem Ohr hörte, im Rückblick auf alte Liebe und Dank barkeit angebracht, dies Thema am Stammtisch gründlich zu er ledigen. und er trat mit großem Eifer an den runden Tisch und flüsterte verheißungsvoll: „Meine Herren, es ist heute Exporlbier in Flaschen ange- tommen. Ganz hervorragend." „Donnerwetter nochmal! Her damit!" Dieses Thema am Stammtisch gab aber der Gedankenrich- lnng Herzog Ernsts wieder die richtige Linie. „Ach so — die holde Weiblichkeit! Hatte ich ja ganz ver- gellen." Ei winkte Oberkellner Braun heran und dieser stürzte laut los an seinen Tisch. „Hoheit befehlen?" „Hier unten bin ich Graf Hochheim, verstanden." „Sehr wohl. Ho — Herr Graf." „Na gut. — Hören Sie mal, kennen Sie hier nicht irgendein nettes Mädel, mit dem man ma! nett zusammen dinieren kann und plaudern?" „Dinieren und plaudern? Herr Gras, das wird sehr schwer. So etwas gibt es bei uns nicht. Plaudern tut hier keine Dame." „Na es muß doch zum Donnerwetter ein hübsches, vergnüg tes. funges Mädel geben, mit der man mal lachen kann. Das griesgrämige Gesicht meines Franz kann ich nun beim Diner schon nicht mehr sehen, will mal ein hübsches Gesicht mir gegen über haben. Also überlegen Sie sich das. Aber wohl gemerkt, nichts von der Sorte „Großstadt". Verstanden? Dafür habe ich keine Verwendung." „Sehr wohl. Ho— Herr Gras, werde es mir angelegen sein lassen, zu morgen mittag eine hübsche, junge Dame zu finden, di« plaudern kann. Aber ich erlaube mir nochmals untertänigst zu bemerken, daß das sehr schwer sein wird." Diensteifrig nahm er den Stuhl zur Seite, reichte Herzog Ernst leinen Stock, auf den er sich noch immer stützen mußte, und ging vor ihm her, ihm die Türen zu öfsnen. Die Herren vom Stammtisch sahen auf und bemerkten Ober kellner Brauns großen Diensteifer. „Nanu, was hat der sich denn so mit dem Fremden? Das ist doch sonst nicht seine Art. Ihm juckt wohl die Hand nach Trinkgeld." „Von Ihrem Groschen, Herr Oberlehrer, kann Braun auch nicht fett werden, da muß er schon sehen, wo er was herbekommt zum Verdienen." „Was Sie nur heute abend dauernd mit mir zu nörgeln haben, Herr Bemmchen? Im übrigen möchte ich hierbei bemer ken, daß heute morgen unser Brötchenbeutel wieder schmutzig war und die Schrippen zäh wie altes Hosenleder." „Was — meine Brotbeutel sollen schmutzig sein — meine Schrippen zäh?! Pikkolo, bringen Sie mal sofort den Brotkorb her. — Hier, bitte, meine Herren — sind die Brötchen zäh? Duf tig und knusprig sind die, wie sie sein sollen." Jetzt ärgerte sich Bäcker Bemmchen so gründlich, daß seine feisten Bäckchen erzitterten und man befürchten mutzte, datz in der nächsten Minute der Schlaganfall eintreten würde. Aber die neue Lage Bier flachte alle Wogen der Empörung ab und man wankte gegen ein Uhr mehr oder weniger angehei tert zu der treu harrenden Ehegattin heim. (Forttetzung folgl.)