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Nr. 161. Pulsnitzer Tageblatt. — Sonnabend, den 13. Juli 1929. Seite 6. Oer wacklige Etat. Sächsischer Landtag. (9. Sitzung.) 68. Dresden, 12. Juli. Die letzte Sitzung des Sächsischen Landtags vor den Ferien begann mit den Abstimmungen über die Kapitel Staatstheater, Sammlungen für Kunst und Wissen schaft und Kunstzwecke. Beim Kapitel Staatstheater wird unter anderem beschlossen, die Regierung zu ersuchen, bis auf weiteres einer Erhöhung der Preise nicht zuzu stimmen, wohl aber die Einrichtung sogenannter „Volks- vorstellungen" mit niedrigen Eintrittspreisen zu er wägen. Im Spielplan der Oper und des Schauspielhauses sollen die Werke deutscher Komponisten und Dichter gebührend berücksichtigt werden, aber auch den Werken der Klassiker soll eine planmäßige Pflege eingeräumt werden. Zur Anregung des Schaffens der jungen Generation sollen zehn Preise zu 5000 Mark in den Etat eingestellt werden. — Die Einstellungen werden genehmigt; desgleichen die der beiden anderen Kapitel. Zu Kapitel 18 Gesamtministerium und Staatskanzlei, Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten und Ver tretungen Sachsens, bemerkt Abg. Dobbert (Soz.), seine Partei bestreite die Notwendigkeit der Erhaltung der Münchener Ge sandtschaft. — Abg. Milhelm (Wirtschaftspartei) legt einen Antrag vor, die Regierung möge mit der Reichsregierung und den Landesregierungen sich ins Benehmen setzen zwecks Auf hebung der gegenseitigen Gesandtschaften. — Abg. Dr. Dehne (Dem.) meint, die Zurückhaltung des Kabinetts sei schuld daran, daß die Staatskanzlei zu sehr hervorgetreten sei. Diese müsse wieder zu einem Bureau des Ministerpräsidenten werden. — Abg. Renner (Komm.) kritisiert ebenfalls die Tätigkeit der Staatskanzlei. Die Einstellungen werden schließlich genehmigt. Das Ge halt des Ministerpräsidenten wird gegen die Stim men der Sozialdemokraten und Kommunisten bewilligt. Die Aufhebung der Münchener Gesandtschaft mit dem 31. März 1930 wird beschlossen. Die Kapitel Haupt staatsarchiv, Oberverwaltungsgericht und Staatszeitung wer den ohne wesentliche Aussprache antragsgemäß erledigt. Ausfälligerweise sindet auch über das Kapitel Finanz ministerium keine Aussprache statt. — Die Einstellungen werden genehmigt, das Gehalt des Finanzministers gegen die Stimmen der beiden Linksparteien bewilligt. — Mehrere Kapitel wie Staatsrcchnungshos, Landtag, Rücklagen usw. werden ohne Aussprache erledigt. — Zum Kapitel 12 „Steuern" liegt ein volksparteilichcr Antrag vor, eine etwaige Minderung der R e p a r a 1 i o n s l a st e n zur Senkung der Steuern zu verwenden. Die Sozialdemokraten und Kommunisten erklärten sich gegen die allgemeine Fassung des Antrages; eine Milde rung der Reparationslasten dürfe nicht zu Steuersenkungen sür die Industrie verwendet werden, sondern nur für die Arbeiterschaft. Der volksparteiliche Antrag wird mit Hilfe der Nationalsozialisten abgclehm. Zu dem Gesetzentwurf über den » Staatshaushaltsplan des Rechnungsjahres 1929 berichtet Abg. Dr. Blüher (D. Vp.). Er legt folgende Anträge der beiden Haushaltsausschüsse vor: Der Landtag wolle beschließen: In Paragraph 1 die Gesamt einnahmen des ordentlichen Staatshaushaltplans für 1929 aus 106 971780 Mark, die Gesamtausgaben auf 134928 610 Mark und den Fehlbetrag vorbehaltlich des Abzugs der nach Paragraph 3 des Entwurfes des Gesetzes Vorlage IV vorzu nehmenden Einsparungen aus 27 956 860 Mark und den Ge samtbetrag des außerordentlichen Haushaltsplans auf 49 318 950 Mark fcstzusetzen. Der Berichterstatter Dr. Blüher bemerkt dazu: Wir wer den uns alle mit der Möglichkeit abfinden müssen, daß eines Tages die Regierung sagt: „Die Einnahmen reichen zur Deckung der vom Landtag bewilligten Ausgaben nicht aus." Abg. Dr. Eckardt (Dtn.) weist auf das Bedenkliche hin, daß der Etat um 5,5 Millionen Mark gegenüber der Vorlage überzogen worden sei. Es stehe uns eine schwere Wirtschafts- und Finanzkrise bevor. Die Sozialdemokraten geben eine programmatische Er klärung über die Regierung und den Etat ab. — Abg. Dr. Wilhelm (Wirtschaftspartei) gibt der Linken zu bedenken, daß sie die Suppe, die sie mit dem Fehlbetrag der Regierung ein gebrockt habe, selbst auslöffeln müße. — Abg. Renner (Komm.) hält die Überziehungen des Etats für nicht so schlimm, denn sie seien für soziale Zwecke bestimmt. — Abg. Dr. Dehne (Dem.): Die Wirtschaftspartei sei für den schlechten Etat mit verantwortlich. — Avg. GUMyer (Wirftwaftsparieu irni oe»> Ausführungen des Vorredners entgegen. Das Etatgesetz wird gegen die Stimmen der beiden Links partei angenommen. Ministerpräsident Dr. Bünger gibt zum Etat folgende Erklärung ab: Die Regierung wird ungeachtet der Höher ziehungen und abgelehnten Streichungen auf das ehr ver fassungsmäßig zustehende Recht nach Wiederholung der Ab stimmungen verzichten. Das Gesamtministerium wird die Be schlüsse des Landtages loyal durchzusühren versuchen. Sie hält es aber für ihre Pflicht, darauf hinzuweisen, daß wahr scheinlich die Kassenlage des Staates dazu führen wird, daß sich die Regierung die jeweils gebotene Zurückhaltung auferlegen muß. Sie wird aber dem Landtag jede gewünschte Rechenschaft ablegen. Hierauf vertagt sich das Haus bis zum 17. Oktober. ÄL8 Lvtelrl L Kut 2u deriestön äunob liis fohppackhonlj unysn. Verringerung -er Betriebsstittegungsanzeigen. Die Zahl der beim sächsischen Arbeits- und Wohl fahrtsministerium eingereichten Anzeigen über beab sichtigte Stillegung von Betrieben hat sich gegenüber dem Monat Mai, in dem 175 derartige Anzeigen eingegangen waren, im Monat Juni wesentlich verringert, denn es lagen nur 131 Meldungen vor. Auch diesmal steht hierbei, und zwar mit 28 Anzeigen, die Textil industrie an der Spitze; dicht dahinter mit 26 folgt der Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbau. Aus der Industrie der Steine und Erden waren 19 und aus der Papierindustrie und dem Vervielfältigungsgewerbe 17 Stillegungsanzeigen eingegangen. Der Herstellung von Eisen-, Stahl- und Metallwaren entstammten 11 An zeigen und je 7 dem Holz- und Schnitzstoffgewerbe sowie der Musikinstrumenten- und Spielwarenindustrie. Das Bekleidungsgewerbe war mit 6 Anzeigen be teiligt und mit je 4 Eisen- und Metallgewinnung sowie die Elektrotechnische Industrie, Feinmechanik und Optik. Nur je eine Anzeige hatten eingereicht die chemische In dustrie und das Nahrungs- und Gennßmittelgewerbe. Von den im Monat März 1929 eingegangenen 146 Be triebsstillegungsanzeigen hat die Stillegung in sieben Fällen keine Anwendung gefunden. Im übriaen sind die angezeigten Maßregeln a) voll durchgeführt worden in 24 Fällen, d) teilweise durchgesührt worden in 82 Fällen, o) nicht durchgeführt worden in 33 Fällen. Be schäftigt waren 29 999 Arbeiter und 4817 Angestellte. Ent lassen wurden 4756 Arbeiter und 156 Angestellte. Neue Rätsel in -er Mor-sache Lasch. Die weiteren Ermittlungen in der Sache des ver schwundenen und wahrscheinlich ermordeten Chemnitzer Viehhändlers Friedrich Lasch durch die Kriminal beamten haben zu weiteren Rätseln geführt. Es scheint jetzt festzustehen, daß der Fund des ermordeten Mannes in einem verbrannten Kraftwagen im Walde bei Inster burg nur in losem oder keinem Zusammenhang mit dem Fall Lasch steht. Der unter Mordverdacht verhaftete Ba ginski hat neue Aussagen gemacht, die seinen früheren vollkommen widersprechen. Es konnte aber bereits fest gestellt werden, daß zumindest ein Teil der neuen An gaben des Baginski zutreffen. Er will am Tage vor dem Mord mit einem unbekannten Manne in einem blauen Kraftwagen eine Rundfahrt durch den Netzekreis ge macht haben. In einem Walde bei Asche rbude, zu dem jetzt Baginski auch von den Beamten geführt wurde, will der Unbekannte gesagt haben, hier könne man gut etwas verstecken. Am nächsten Tage soll dann der er mordete Lasch von dem Unbekannten und dem jetzt in Ostpreußen verhafteten Viehhändler Kulick vom Bahn hof abgeholt worden sein. Abends will Baginski dann die Papiere des ermordeten Lasch von Kulick erhalten haben. Kulick habe angegeben, sie seien im Walde bei Ascherbude gewesen. Eine Gegenüberstellung des Ba ginski mit Kulick blieb erfolglos; Kulick streitet jede Kennt nis von dem Fall ab. Die Leiche wurde noch nicht ge sunden, es ließ sich aber ermitteln, daß die von Baginski angebene Fahrt vor dem Mordtage stattgefunden hat. Man versucht jetzt zu ermitteln, wer dieser Unbekannte ist, der, wenn die Angaben des Baginski zutreffen, den Mord mit Kulick begangen haben müßte. Umgestaltung -er Reichsbahn. Eine Folge des Poung-PIans. In den letzten Tagen haben zwischen der Reichsrcgie- rung und der Reichsbahn Verhandlungen stattgefundeu,'bei denen die Umgestaltung der Reichsbahn erörtert worden ist und bei denen weiterhin die Richtlinien für die Arbeiten des Organisationsksmitees erörtert wurden. Voraussichtlich wird rie deutsche Regierung für das Reichsbahn-Organi« 'ationskomitee je einen höheren Beamten des Reichsfinanz ministeriums und des Reichsverkehrsministeriums ernennen. Die Ausgabe dieses Orgamsationskomitees ist im Aoung-Plan fest gelegt. Sie liegt darin, die er- forderlichen Vorkehrungen dafür zu treffen, daß die Deutschs Reichsbahngesellschaft während der Geltungsdauer des Doung-Planes ihre Eigenschaft als privates und unabhän- ziges Unternehmen mit selbständiger Geschäftsführung in wirtschaftlichen, finanziellen und personellen Angelegenheiten ohne Einmischung der deutschen Regierung beibehält. Unter den Bestimmungen, die in Fortfall kommen, befindet sich u. a. die Einrichtung des im 8 45 des Reichs- rahngesetzes vorgesehenen Schiedsgerichts. Das Reichs, mhngericht wird insofern eine gewisse Umgestaltung erfahren, als bei Streitigkeiten zwischen Reichsregierung und Reichs- oahn ein Senat beim künftig einzurichtenden Reichs- Verwaltungsgericht entscheiden soll. Eine der Haupt- arbeiten des Ausschusses besteht alsdann in der Umge staltung des Verwaltungsrates. Bei der Neu besetzung des Verwaltungsrates dürften voraussichtlich die ßänderwünsche eine Erfüllung finden, die auf einem Sitz im Berwaltungsrat hinzielten. Es handelt sich dabei ins- >esandere um Sachsen und Bade n. Dev »evtoven« 8okn Sloman «an Llsbstk Dovvkaa» 60. Fortsetzung. (Nachdruck verboten.) „Wo steckt eigentlich Grunow?" Ist er noch immer verreist?" fragte er jetzt. Inge schwankte plötzlich in seinem Arm, so das; er sie festhalten mutzte. „Was hast du, Kindchen, ist dir nicht gut?" Er ge leitete sie sorgsam zum Sessel, und sie sank erschöpft darauf zurück. „Komm, Karl!" nahm Frau Helmbrecht jetzt das Wort, „lassen wir Inge eine Weile allein; sie bedarf noch immer der Ruhe." Helmbrecht folgte seiner Gattin willig in ein anderes Zimmer, das autzer Hörweite des ersteren lag. „Was ist mit Inge, mit Grunow, Elisabeth? Ihr verschweigt mir etwas," fragte er, als sie allein waren. „Ja, Karl, allerdings," gab sie zur Antwort und suchte mit Mühe ihre Ruhe aufrecht zu erhalten. Die Ausgabe, die ihr jetzt bevorstand, dem ahnungslosen Gat ten das Furchtbare zu enthüllen, war wohl eine der schwersten, die sie zu erfüllen hatte. Und sie tat es scho nend und gefatzt. Helmbrecht war kräftig genug, um das Gehörte zu er tragen, aber sein Gesicht wurde fahl vor Schreck und Ent setzen und anfangs fand er kein Wort darauf. Aberdann brach es aus ihm los, ein Sturm der Empörung. „Das arme Kind soll frei werden!" schloß er end lich, „nichts soll es mehr an den Verbrecher ketten." Es wurde Frau Helmbrecht sehr schwer, ihm darauf hin Inges Entschlutz, zu ihrem Gatten nach Verbützung seiner Strafe wieder zurückkehren zu wollen, mitzuteilen. Helmbrecht fuhr denn auch, wie sie erwartet hatte, zornig auf: „Niemals — — ich dulde es nicht. Inge mutz vor allen Dingen aus dieser Umgebung, die sie an ihr her bes Geschick erinnert, fort!" Er fragte deshalb den Arzt, ob eine Uebersiedelung nach Buchenau schon jetzt statt finden könne. „Mit Vorsicht kann es in einigen Tagen geschehen," Und nun machte Helmbrecht seine Familie mit seinem Entschlutz bekannt. Inge war bleich vor Schreck geworden und wollte davon nichts wissen. Sie begegnete diesmal aber einem so entschiedenen Machtspruch des Vaters, wie sie ihn ihr gegenüber kaum je gehört hatte. Sie bat darum nur unter Tränen, wenigstens noch so lange bleiben zu dürfen, bis das Gericht entschieden habe. Der Arzt riet Helmbrecht, ihr zu Willen zu sein, und da die Verhandlung bereits in drei Tagen stattfand, so legte er diese Zeit höchst widerwillig zu. Es war am Morgen des Tages, der das Verdam mungsurteil über ihren Gatten sprechen sollte. Inge lag nach Vorschrift des Arztes noch im Bett und trank den Kaffee, den die Mutter ihr gebracht hatte. Da wurde draußen an der Entreetür geläutet. Amtsrichter Volkmann fragte nach Herrn Helmbrecht. Helmbrecht empfing den ihm bereits bekannten Amts richter freundlich und fragte, was ihn so früh zu ihm triebe. Volkmann sah autzergewöhnlich blatz und verstört aus und reichte ihm die Hand. „Herr Kommerzienrat ich bin der Aeberbrin- ger einer schlimmen Nachricht und es ist gut, datz ich Sie allein sprechen kann." „Was ist geschehen? Sprechen Sie, Herr Amtsrich ter! Kann es noch Schlimmeres geben, als uns bereits widerfahren ist?" „Rechtsanwalt Grunow hat in dieser Nacht seinem Leben durch Erhängen ein Ende bereitet." Helmbrecht griff nach der Lehne des Stuhls, um sich darauf zu stützen. Im nächsten Augenblick richtete er sich empor und drückte die Hand des Amtsrichters. „Ich danke Ihnen," sagte er dumpf. „Sie brachten mir allerdings eine Schreckensbotschaft, und ich zittere in dem Gedanken an meine arme Frau und an meine arme Inge. Wie werden sie den neuen Schiäsalsschlag aufnehmen? Ich erkenne eine Fügung des Himmels darin. Es war vielleicht der beste Ausweg." Volkmann zog langsam zwei Papiere aus seiner Brusttasche. „Herr Kommerzienrat, diese beiden Briefe gab mir der Staatsanwalt soeben zur Beförderung mit; sie wurden in der Zelle des Unglücklichen gefunden." Helmbrecht nahm die Briefe und las mechanisch die Aufschrift: „An Frau Inge Grunow" die zweite „An Herrn Kommerzienrat Helmbrecht". „Ich werde sie einst weilen behalten und weitergeben, wenn die Zeit dazu ge kommen ist." Amtsrichter Volkmann verabschiedete sich mit teil nahmsvollem Händedruck, und Helmbrecht suchte schwe ren Herzens die Seinen auf. Es war eine erschütternde Szene, die nun folgte. Inge lag, nachdem sie begriffen hatte, was geschehen war, be- sinnungslos und bleich wie eine Leiche in ihren Kissen. Sie erholte sich schneller als damals, aber sie satz Mit starren, glanzlosen Augen teilnahmslos und apathisch da. Helmbrecht glaubte mit der Erledigung seiner Auf gabe, die Seinen von dem Vorgefallenen zu unterrichten, das Schwerste überstanden zu haben. Er ahnte nicht, datz auch ihm noch etwas beschieden war, das wie ein gewaltiger Sturm an ihm rütteln, seinen Mut zum ferneren Leben untergraben, den Gleich mut seiner Seele erschüttern sollte. Den Brief an Inge legte er unerbrochen beiseite: sie sollte ihn erhalten, sobald sie stark und kräftig genug dazu war. Was hatte aber Grunow ihm noch zu schreiben? Ein Bekenntnis seiner Schuld— eine Schilderung seiner Beweggründe oder vielleicht eine Anklage gegen ihn, der ihm die Mittel, seine Schulden zu decken, verwei gert hatte? Ach, wenn er hätte helfen können!