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Am 2. Mai d. I. wurde vor dem Gericht der sizilia- mschen Stadt Agrigent (Girgenti) ein seit Monaten währender Prozeß zum Abschluß gebracht. Vor Gericht standen 334 Personen, gegen die der Staatsanwalt wegen Teilnahme an der berüchtigten sizilianischen Mafia die An ¬ klage erhoben hatte. Die Angeklagten begingen seit vielen Jahren die verschiedensten Verbrechen wie: Erpressung, Tot schlag, Bedrohung an Leben und Eigentum, Verschleppung Viehdiebstähle, Massenplünderungen, bei denen ganze Dör fer verwüstet worden sind und Gewalttaten aller Art. 850 Geschädigte aus den verschiedensten Städten und Dörfern Siziliens traten als Belastungszeugen vor die Schranken des Gerichtes. Die Staatsanwaltschaft beantragte Zucht hausstrafen im Ausmaße von insgesamt mehr als zwei tausend Jahren Verurteilt wurden 244 Personen, die Zucht hausstrafen von drei bis dreizehn Jahren, insgesamt mehr als 1200 Jahre erhielten. Unter den Verurteilten befinden sich nicht nur Berufsverbrecher, sondern auch Personen aller Berufsstände, wie Großgrundbesitzer, Bauern, Aerzte, Ad vokaten und Gewerbetreibende. Schon aus dem Umstand daß zahlreiche, den besseren Ständen angehörige Bürger sich so schwerer Verbrechen schuldig gemacht haben, ist klar er sichtlich, daß die italienische Justiz es mit keiner gewöhn lichen Unterweltoraanisation, sondern mit einem mächtigen und gefährlichen Geheimbund, dessen Mitglieder in allen Schichten der Bevölkerung Wurzel gefaßt haben, zu tun hatte. Was ist die Mafia? Sie ist eine weitverzweigte Ge heimorganisation, die seit vielen Jahrhunderten eine ent scheidende Rolle in der Geschichte der großen Mittelmeer insel spielt. Ursprünglich war sie eine staatliche Sicherheits polizei, die Compagnie d'armi hieß, und deren Auf gabe die Bekämpfung des Verbrechertums war. König Fer dinand I. von Sizilien verwendete sie zu politischen Zwecken, zur Niederhaltung der sizilianischen Freiheitsbewegung. In den Wirren nach dem Sturz Napoleons ,m Jahre 1815 löste sich die gesamte Heeres- und Polizeimacht Siziliens auf und die Bürger mußten nun aus eigenen Kräften für die Sicherheit des Lebens und Eigentums sorgen. Die Mafia wurde zu dieser Zeit in eine Art Volkspolizei umgewandelt, die auch nach Wiedereinsetzung der Bourbonen weiter in Funktion blieb. Offiziell wurde sie von den königlichen Be hörden niemals anerkannt, ja ihre Mitglieder wurden ver folgt-, die Bürger und Bauern Siziliens unterstützten aber ihre Volkspolizei aus allen Kräften und die Mafia ent wickelte sich allmählich zum Sammelkanal der Freiheits bewegung gegen die Fremdherrschaft. Zu jener Zeit erhielt die Organisation jenes feste Gefüge, das sie bis zu den allerletzten Jahren zusammenhielt. Ihre Mitglieder heißen ,,M aflos j" oder „Giovanni d'onor e", also Ehren jünglinge. welche Bezeichnung — die ursprünglich lauteren Zwecke des Geheimbundes andeutet. Wenn jemand der Ma fia beitreten wollte, wurde er erst auf die Probe gestellt; das oberste Kommando mußte sich über seine Zuversichtlich keit, über seinen festen Charakter und seinen persönlichen Mut überzeugen. Nach mehrmonatigem freiwilligen Dienst und nach Austragung eines blutigen Messerzweikampfes wurde das neue Mitglied unter festlichen Aeußerlichkeiten in den Geheimbund ausgenommen. Die Aufnahme erfolgte im Freien bei Vollmond mit einem mystischen Zeremoniell. Die maskierten Freischärler in ihren bunten Kleidern stell ten sich mit brennenden Fackeln im Kreise auf. In der Mitte wurde ein riesiges silbernes Kruzifix aufgestellt, von sieben im Halbkreis in die Erde gesteckten Fackeln be leuchtet. Nun trat der Anwärter, ebenfalls mit einer Maske vor dem Gesicht, in Begleitung eines Führers an das Kru zifix heran und legte die Eidesformel ab. Er mußte schwö ren, bis zu seinem Lebensende die Satzungen der Mafia als höchstes Gesetz anzuerkennen, den Befehlen der Führer blind zu gehorchen, vor einem ordentlichen Gericht niemals Klage zu führen und, falls er als Zeuge vernommen werden sollte stumm zu bleiben. Nach Leistung des Eides umarmte ihn der maskierte Führer dreimal und übergab ihm als Zeichen seiner Mitgliedschaft jenes Messer, mit dem er im Zwei kampf gesiegt hatte. In den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhun derts verwandelte sich die Mafia immer mehr zu einer Ter rororganisation ärgster Sorte. Gutsbesitzer, die Mitglieder der Mafia anstellten, wurden geschützt, solche, die sich den Befehlen der Geheimorganisation widersetzten, wurden er barmungslos ausgeplündert und in wiederholten Fällen auch getötet. Polizeiorgane waren in den sizilianischen Dör fern ihres Lebens keinen Augenblick sicher. Sie wurden aus dem Hinterhalt überfallen und niedergestochen oder nieder geschossen. Ebenso Richter, die es wagten, ein Mitglied der Mafia zu verurteilen. Die Organisation hatte sympatisie- rende Mitglieder in den höchsten Stellungen des Landes Minister, hohe Polizeioffiziere, Richter, Präfekten gehörten der Mafia an und unterwarfen sich den Weisungen der obersten Landesführung. Die große Macht des Geheimbun des wurde aber auch in vielen Fällen zu privaten Zwecken mißbraucht. Mißliebige Beamtenkollegen wurden „um di« Ecke gebracht", aber auch Familienmitglieder, die einander haßten, wandten sich an die Mafia, die den unbequemen Derwndten beseitigte. Besitzstreitigkeiten, Erbschaftsprozesse, persönliche Feindlichkeiten wurden auf diese Weise nicht durch das ordentliche Gericht, sondern im Wege der Mafia erledigt, und zwar je nach dem Einfluß, den die eine oder die andere Partei bei der Mafia hatte. Der mächtige Ge heimbund brauchte aber auch viel Geld, um die Mitglieder seiner Terrortruppen zu bezahlen. Die „Malandrini" (schlechte Kerlchen) wie diese Terroristen im Volksmund hießen, lebten von Raub und Plünderung, von Viehdieb stahl und Erpressungen. Die Kinder vornehmer Bürger wurden in die sizilianischen Berge verschleppt und nur gegen hohes Lösegeld freigelassen. Sollte das Lösegeld zum be stimmten Termin nicht bezahlt werden, dann wurde das ver ¬ schleppte Kind unbarmherzig getötet. Noch knapst, vor dem Kriege kam es wiederholt zu Verschleppungen ausländi scher Touristen, die erst nach Deponierung ungeheurer Sum men in Freiheit gelassen wurden. Die italienischen Behörden kämpften seit vielen Jahr zehnten vergebens gegen dieses Banditentum. Nach der Vereinigung Siziliens mit dem übrigen Italien trat Ga ribaldi energisch gegen die Mafia auf, konnte aber ihre Macht ebenso nicht brechen, wie er auch mit der C a m orra, einer ähnlichen Terrororganisation in Oberitalien nicht fertig wurde. In Sen letzten Jahren vor dem Krieg saßen noch ehemalige sizilianische und pisanische Räuberhäuptlinge als gewählte Abgeordnete im römischen Parlament. Nach dem Kriege trat das organisierte Banditentum von den sozialen Wirren in Italien begünstigt, noch stärker in den Vordergrund. Die Mitglieder der Mafia eroberten alle wichtigen Verwaltungsposten der Provinz und ihre Verbindungen reichten bis zur römischen Zentralregierung. Keiner war mehr seines Lebens und seines Eigentums sicher, und die Terrorakte waren an der Tagesordnung. Diese Zustände dauerten auch in den ersten Jahren nach der Machtergreifung Mussolinis an. Erst nach zwei Jahren fühlt- sich der Duce stark genug der Mafia die Macht der faschistischen Zentralregierung entgeaenzustellen. Er ging vorsichtig zu Werk« da er wußte, daß er es mit den aller gefährlichsten Gegnern zu tun habe. Zwei der gefürchtetsten Führer der Banditen, der Augenarzt Cucco und der Großgrundbesitzer C u c c i a, waren ehrgeizige Männer, die im neuen Regime gerne eine führende Rolle gespielt hätten. Mussolini nahm sie freundlich auf, aber nur. um durch sie die Fäden der mächtigen Geheimorganisation in die Hände zu bekommen. Die beiden Führer der Mafia gaben bald alle Geheimnisfe und Pläne der ihnen unterstehenden Verbände nebst der Mitgliederliste preis und die Regierung konnte nunmehr handeln. Vor allem wurde im Spätsommer 1925 ein Sondergesetz für Sizilien verlautbart, wonach die Teil nahme an Verbänden verbrecherischer Natur mit Ver schickung nach der Insel Lipari bestraft werden sollte. Die Behörden gaben den Mafiamitgliedern Zeit, freiwillig aus ihren Organisationen zu treten. Dies geschah auch teil weise. Dann schritt man zur gewaltsamer. Auflösung der Mafia. Der sizilianische Präfekt verhaftete 7000 Personen, von denen man wußte, daß sie trotz des gesetzlichen Verbotes auch weiterhin Mitglieder der Mafia geblieben waren. 6000 Verhaftete wurden nach ihrer polizeilichen Bestrafung und nachdem sie die Versicherung abgegeben hatten, die Mafia nicht weiter zu unterstützen, wieder auf freien Fuß gesetzt. Gegen 1000 Angeklagte, die sich weigerten, eine ähnliche Er klärung abzugeben, wurde der Prozeß gemacht. Im Januar 1926 fand der erste Monstreprozeß gegen die Mafiamitglie der in Termini Jmerese statt und endete mit der Verurtei lung der Beteiligten zu langjährigen Zuchthausstrafen. Es stellte sich aber heraus, daß der erste Zugriff nicht langte, die seit Jahrhunderten eingewurzelte Institution mit Stumpf und Stiel auszurotten. Neue Gewaltakte, Erpres sungen, Kapitalverbrechen und Eigentumsdelikte wurden vor? den „Mafiosi", die sich neuerdings zusammengerottet hatten, verübt. Die Regierung mußte sich zu einem zweiten entscheidenden Schlag entschließen. Im Herbst des vergan genen Jahres ordnete die sizilianische Präfektur eine allge meine Razzia auf Mitglieder der Mafia an und es wurden wieder Hunderte von Personen verhaftet und vor Gericht gestellt. Ganz Sizilien atmete freier auf, als man die lang jährigen Peiniger des Volkes, vor denen kein Bauerngehöft aber auch keine Stadtwohnung sicher war, hinter Schloß und Riegel wußte. Man hofft, der Mafia diesmal endgültig aufs Haupt geschlagen zu haben. Tragödie des Herzogs von Reichstädt des großen französischen Parks, in dem nach dem Muster des Versailler Schloßgartens die kunst gerecht gestutzten Baume wie kaiserliche Leibgardisten Front stehen, sitzt ein neunzehnjähriger, blasser Junge auf einer Bank und liest. Sein etwas längliches Gesicht ist von gold blonden Locken umrahmt, in den Augen liegt tiefe Sehn sucht, die etwas gebogene Nase und die dicke Unterlippe — ein mütterliches Erbe — verrat Stolz und Trotz. Er ist der junge Napoleon Bonaparte, der König von Rom, oder, wie man ihn in Schönbrunn bei Wien, dem Sommersitz Kaiser Franz l. von Oesterreich, seines Großvaters, umgetauft hat, der Herzog von Reichstadt. Jetzt nähert sich ein hübsches junges Mädchen der Bank, überrumpelt den in seine Lektüre vertieften Jüngling von hinten und hält ihm mit beiden Händen die Augen zu. „Du bist es, Fanny, Du kleiner Teufel". Sie lachen beide, dann wird aber das Mädchen ernst und beginnt zu erzählen. Zwei geschlagene Stunden dauert diese wichtige Unterredung, in der Fanny Elßler, die ge feierte Tänzerin, die Freundin des Herzogs, ihn überredet, die Flucht zu ergreifen und nach Paris zu fahren, um den Thron Naoleons l., seines von den Engländern auf St. He lena verschleppten und dort verstorbenen Vaters zu besteigen. Fanny und der Herzog tuscheln, der Plan ist fertig. In einer Woche wird er, von Hunderttausenden begrüßt, durch die Champs Elysees in die Tuillerien als Kaiser von Fran- reich einziehen . . . von sitzt. Diese Nacht schläft er nicht. Er denkt an die Taten seines toten Vaters, des großen Eroberers, an di« Schlacht von Marengo, von Wagram und Austerlitz. An das beflaggte Paris und dann an das Sterbezimmer Napoleons I., wo der Gefangene sein Testament entwarf: „Mein Sohn soll nie vergessen, daß er als französischer Prinz geboren ist. . ." Die Nacht ist vorbei. Um zehn Uhr muß er am Tor sein. Er sieht sich noch ein letztes Mal um. An der Wand hängt das Bild seiner Mutter, der schönen Marie Louise, die weit von ihm, in Italien, an der Seite ihres dritten Gatten, des Grafen Bombelles, lebt. Er küßt ihr Bild. „Auf Wiedersehen in Paris" flüstern seine Lippen. Er schreitet durch die pompösen Säle. Im vierten Zimmer tritt ein Mann ihm entgegen und legt ihm die Hand auf die Schulter. Es ist der Staatskanzler Fürst Met ternich. Alles ist verloren. Ohnmächtig verraten? Vielleicht Fanny, die er seit jenem Tag nicht mehr sah? Oder Flambeau? Nein Keiner von diesen beiden war solcher Infamie fähig. Aber auch seine Korrespondenz ist von unbekannten Tätern gestohlen worden, darunter der Brief seines Onkels Joseph, des früheren Königs von Spa- bricht er zusammen. Zwei Jahre später, als er schon stark geschwächt ist seiner Krankheit und in einem Lehnstuhl am Fenster , denkt er immer wieder an diese Szene zurück. Wer hat ihn nien, der Brief, in dem der Fluchtplan entworfen war. Er ist ein Gefangener des allwissenden Metternichs, wie sein Vater bis zu seinem Tode ein Gefangener war. Er erinnert sich, daß er 18 Jahre alt war, als er durch einen Zufall die Geschichte seiner Herkunft kennenlernte. Sein Hofmeister kam in arge Verlegenheit, als er ihn fragte: Warum spricht man mich nicht mit „Majestät" an, ich bin doch der König von Rom". — Einmal kam seine Mutter, die damalige Gräfin Neipperg, auf Besuch nach Schönbrunn. Sie blieben allein und er fragte sie: „Sag Mutter, wie warst Du im stande, nach Napoleon diesen Grafen von Neipperg zu hei raten. Verfolgt Dich sein kaiserlicher Schatten nicht?" und er setzte unbarmherzig fort: „Die Kaiserin von Frankreich hätte sich nicht benehmen dürfen, wie eine verliebte Kammer zofe. Mutter, ich schäme mich für Dich." Seitdem kam die Mutter nicht mehr zu ihm. Sie haßte und fürchtete ihn. Die Fenster des Schönbrunner Schlosses sind geöffnet. Er sieht die Gloriette auf der Anhöhe und hinter ihr den Wald. Morgen ist der 22. Juli, der Tag, an dem seine Er nennung zum Herzog von Reichstadt vor 15 Jahren erfolgte und der jedes Jahr gefeiert wurde. Auch diesmal wird sich die kaiserliche Familie bei ihm versammeln: der greise Groß- j vater, der strenge und doch liebwerte Kaiser Franz, seine j Onkel und Tanten. Nur die Mutter wird auch diesmal nicht zur Feier kommen. Er fühlt sich so schwach und elend. Wird er den morgigen Tag noch erleben? „Sagt meinem Sohn, daß er mein letzter Gedanke war." Dies waren die letzten Worte des großen Napoleon. Sein Sohn starb am 22. Juli 1832 mit den Worten: „Ich kehre zu meinem Vater heim."