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Mittwoch, den 7. September 1932 Pulsnitzer Tageblatt 84. Jahrgang, Nr. 210, Seite 5 sagen, wenn man ihm Wenn die Geister der Verstorbenen zu den Stätten ihres irdischen Wirkens zurückkehren, weil sie sich der An ziehungskraft der Orte auch nach dem Tode nicht entziehen können, müßte Monte Carlo in seiner Statistik eine Ueber- völkerung an .Gespenstern aufweisen. Die Zahl der Be rühmtheiten, die bei Lebenszeiten mit bewunderungswür diger Bereitwilligkeit ihre Börse in die Tasche der Spiel bank ausleerten, ist Legion. Eine Sensation für seine Zeit war der damals inter national berühmte Geldoerleiher Sam Lewis. Wieder und wieder setzte er in blanken Goldstücken — nicht in chips — wahllos auf irgendwelche Zahlen Maximum über Maxi mum. Wahrscheinlich verlor er nach und nach ein Ver mögen. Aber die Leute bemitleideten ihn nicht, sondern lachten und sahen in seinen großartigen Verlusten nur ein Reklamemanövek. Beabsichtigte oder unbeabsichtigte Re klame — er wurde trotz aller Verluste nicht ärmer. Sein Pech am grünen Tisch war so bemerkenswert, die Summen, die er verlor, waren so beträchtliche, daß er bald zu den reichsten Männern seiner Zeit gehörte. Als er starb, ver machte er einen großen Teil seines Vermögens wohltätigen Zwecken. Ein« andere, am grünen Tisch berühmt gewordene Er scheinung war Lord Westbury, der während seiner zahl reichen Besuche in Monte Carlo das runde Sümmchen von geben ihr Geld für Jagden, Se geln oder dergleichen aus. Ich habe mich für den bequemen und bekömmlichen Sport des Roulett tespielens entschieden." Wenn auch die überwiegende Mehrzahl der Leute, die ihr Geld in das Geschäft des Rou lettespielens stecken, das Unter nehmen als Verlierer aufgeben, so findet man doch einige we nige, die sich mit Gewinnen aus der Affäre zogen. Unter den letz teren befand sich ein gewisser Jaggers. Jaggers war Inge nieur und hatte herausgefunden, daß an bestimmten Tischen be stimmte Zahlen von der rollen- mit einen Gewinnen nach Hause. . . In der alten Zeit erfand in Paris ein AbbS ein Sy stem nack dem er regelmäßig im Palais Roy^l in Paris /»^vielen vste^ Er verdiente am Spieltisch an die 100 006 Franken war aber nicht menschenfreundlich genug, sein Ge heimnis einem Dritten anzuvertrauen Unter den Schatten, die das Casino von Monte Carlo aufsuchen mögen, nimmt Monsieur Blanc eine führende Stellung ein. Blanc wurde in den 60er Jahren der Gründer der Bank von Monte Carlo, als seine Spielsäle in Homburg, Baden-Baden und anderen Orten geschlossen werden sollten. In Homburg war es, wo der berühmte Spieler Garcia so große Summen gewann. Angefeuert durch seine Erfolge, machte er Monsieur Blanc den Vorschlag, das Maximum heraufzusetzen. Blanc stimmte unter der einen Bedingung zu, daß Garcia im Sitzen weiterspielen sollte. Von dem Augenblick an wendete sich das Glück Garcias, und er ver ließ Homburg ohne einen Pfennig in der Tasche. Blanc vier Millionen Mark verlor. „Well, Well", pflegte er zu Vorwürfe machte, andere Leute den Kugel bevorzugt wurden. Wahrscheinlich lagen hier mi nutiöse Fehler in der Ausbalancierung der Tische und der Größe der einzelnen Felder vor. Nach sorgfältigen, tage langen Beobachtungen spielte er an den betreffenden Tischen die paar besonders häufig wiederkehrenden Zahlen, und es gelang ihm tatsächlich, ganz nette Gewinne einzustreichen Schließlich aber rochen die Kasinoangestellten Lunte und ver rückten von da an tägliche die Tische, so daß es Herrn Jag gers unmöglich war. s«jn einträgliches Geschäft fortzusetzen Jaggers aber war kein Spieler, sondern ein nüchterner Ge schäftsmann, und als er das so wenig rücksichtsvolle Verhal ten des Kasinos entdeckte, brach er die nun nicht mehr lu krative Geschäftsverbindung mit der Bank ab und dampfte hatte eine umfassende Kenntnis von allem, was mit dem Spiel zufammenhing, und hatte in jahrelanger Erfahrung festgestellt, daß ein Spieler, der sich häuslich an einem Tische niederläßt, sein Geld viel eher verliert, als einer, der von Tisch zu Tisch umh:. schlendert. Garcia endete übrigens sein Leben in ärmlichen vsX Verhältnissen, nachdem er in einen unrühm- liehen Kartenskandal in Paris verwickel sen war. Es ist amüsant, daß Blanc ein mal an seinem eigenen Roulette tisch die Erfahrungen des Verlie- renden sammeln mußte. Er hatte sein Büro verlas- sen, um sich einen Regen- schirm zu kaufen und schien- derte auf dem Wege zum X?X Ausgang an den Roulette- XXX^ - tischen vorbei. „Ein Regen- schirm kostet ungefähr ' einen Louis, den könnte ich eigentlich gewinnen", fuhr ihm eine Laune durch den Kopf. 20 Francs auf Rot. Rot wird kommen, und ich habe meinen Regenschirm verdient. Aber rot kam nicht, sondern schwarz und gleich ein halbes Dutzendmal hintereinander. Nun wurde Mr. Blanc hart näckig. So etwas konnte er sich doch tatsächlich in seinem eigenen Hause nicht bieten lassen! Aber die kleine Kugel sprang koboldartig immer gerade dahin, wo er sie am we nigsten erwartet hatte. Kurz und gut: Monsieur Blanc ver lor in kurzer Zeit 1000 Francs — und den Regenschirm mußte er sich außerdem kaufen. In der Vorkriegszeit befolgte das Kasino eine sehr ge neröse Politik. Theateraufführungen und Konzerte kosteten kein Eintrittsgeld. Mr. Blanc war kein Anhänger der Idee, seinen Gästen für ihr Vergnügen, jedenfalls für diese Art von Vergnügen — Geld abzunehmen. Je mehr sie in den Taschen hatten, um so mehr würden sie an den Spieltischen verlieren. Das waren die Tage des „Viatique" Spieler die durch Zeugnis eines Hauptcroupiers nachweisen konn ten, daß sie eine beträchtliche Summe verloren hatten, er hielten einen Betrag von 350 Francs für die Rückreise aus gezahlt. Unter den Geistern von Monte Carlo müssen auch die schönsten Frauen ihrer Zeit erwähnt werden. Denn Monte Carlo war berühmt wegen des Glanzes der Juwelen und des Luxus an Garderobe, der sich dort entfaltete. Die großen Demimondänen der Vergangenheit pflegten dort die Sen sationen hervorzurufen, die ihr Lebenselement waren. An manchen Abenden entwickelte sich zwischen einigen von ihnen, z. B. zwischen Liane de Pougy und der Otöro, ein förmliches Duell. Um die Otero, die stets reich mit Bril lanten geschmückt war, zu blamieren, erschien Liane de Pougy eines Tages nach dem Diner ohne einen einzigen Stein. Hinter ihr aber wandelte — ihre Kammerzofe in dem Glanze aller Juwelen, die Liane de Pouan nur irgend wo hatte auftreiben können. gewe- Oie Frau mit dem Geheimnis Nach zwei Tagen wußte das ganze Bad, daß die schöne Frau Bankdirektor aus Hamburg etwas verloren hatte. Was? Ja, was eigentlich? Die einen sagten: einen Ring, die anderen: eine ihrer Perlenketten, die Dritten: ihre Geld tasche. Genaues wußte niemand. Trotzdem suchte das ganze Bad Zuerst die Verehrer der schönen Frau Ellionor: der lange Graf Glyn, der Tänzer Bertram, der Strumpfwaren fabrikant aus Chemnitz und der Dr. Wink. Dann alle die die sie nur von weitem bewunderten: die männlichen Be sucher des Familienbades, die männlichen Gäste des Kur hauses und die männlichen Angestellten des Hotels vom Portier herab bis zum Liftboy. Kein Zweifel: Frau Ellio nor war beliebt, und es zeigte sich nie deutlicher als an dem Tage, da sie weinend in der Hotelhalle stand und ihren Verlust betrauerte. Man stelle sich vor: eine hübsche junge Frau in einem blitzblauen Kleid mit Vrillantenschnalle am Gürtel und Rosen am Ausschnitt, Tränen in den schönen, dunklen Augen und die blonden Haare zerzaust über der weißen, faltenlosen Stirn. Sie weinte, sie weinte wie Kin der weinen, oder junge, verwöhnte, glückliche Frauen, mit blanken Tränen und einem Laut, der wie Lachen und Seuf zen in einem klang. Um sie herum, in einem engen Kreis standen die Herren: sie fragten, aber Frau Ellionor schüt telte nur immer den Kopf und schluchzte: „Ich kann es nicht sagen." Das war es, sie konnte nicht sagen, was sie verloren hatte. So begann die Luft um die hübsche Frau Ellionor schwer und dunkel zu werden von Geheimnissen. Eine schöne elegante, frohe junge Frau, die Geheimnisse hatte, — eine lebenslustige, verheiratete Frau aus den besten Kreisen, eine Frau Bankdirektor, die nicht sagen konnte, was sie verlor? Der Herr Kanzleirat aus Beuchen runzelte die Stirn, wenn sie duftend und raschelnd, wild und schön, auf der Prome nade seine Schulter streifte. Dennoch suchte auch er. Vor allem der Graf war es, der sich beinahe umbrachte Seine lange, schmale Gestalt mit dem etwas kleinen, aber sehr aristokratischen Kopf ward an den unmöglichsten Orten gesehen, und immer suchte er das, was Frau Ellionor ver loren hatte. Denn auch ihm sagte sie nicht, was es war. Im Gegenteil, sie bat ihn: „Hören Sie auf mit Suchen! Ich bitte Siel... Und fast weinend, mit traurigen Blicken auf die gefal teten Hände: „Es ist schon besser, wenn es nie gefunden wird." Dennoch geschah es, daß einige Tage nach dem Verlust der Graf Glyn sich zu ungewohnter Zeit bei ihr melden ließ Es war vormittags 11 Uhr, und sie saß vor dem kleinen Schreibtische ihres Salons in einem Hausanzug. „Sie, Graf?" sagte sie und zog die Augenbrauen in dem so jungen Gesicht hoch, „und jetzt, so früh am Morgen?" Der Graf sah, daß sie ungehalten war. Dennoch trat er bis in die Mitte des kleinen Raumes, in dem die Sonne wie ein Meer von Glanz lag, und setzte sich auf einen gelben-' Sessel. Er trug einen Hellen Anzug, sein Gesicht, dieses nicht mehr ganz junge, blonde Gesicht mit den tiefen Falten um den Mund und der leicht gebogenen Nase unter blauen Augen war frisch rasiert und fast rosig. „Ja, gnädige Frau, so früh... Denn ich habe Ihnen etwas mitgebracht." Er sagte es langsam und dabei sahen sie sich an, lange prüfend, und die Frau mit einem schwa chen, kaum merkbaren Erschrecken. Denn nun hob er die Hand, hielt sie hoch und drehte in den langen weißen Fin gern ein schmales, braunes Heft. „Ja, gnädige Frau,... ich habe es gefunden ..." Sie warf nur einen Blick darauf, indem senkte sie auch schon die Lider, errötete so schnell, daß es schien, als stürze ihr Gesicht mit einem Ruck in die rote Sonne und griff nach dem Heft. Aber der Graf hielt es fest. „Sehen Sie, gnädige Frau," sagte er und lächelte, „wir wissen doch beide, vielmehr wir wissen jetzt beide, warum Sie so verzweifelt über Ihren Verlust waren, warum Sie so gar nicht wünschten, daß einer von uns das Verlorene wiederfinde. Sie haben Pech gehabt. Denn das, was Sie so fürchteten, ist eingetroffen: ich habe Ihren Paß, den ver lorenen Paß. gefunden und ich..." „Sie haben ihn gelesen?" M „Ich habe ihn gelesen." Es wurde ganz still. Die schöne Frau Vankdirektor hatte die Hände gefaltet Sie schien kaum mehr zu atmen und in dieser Minute ähnelte ihr kleines Gesicht mit den stark gefärbten Wimpern und dem roten, zum Weinen ver zogenen Mund, dem eines ängstlichen Kindes Und nun begann sie zu zittern. Sie bebte, ihre Finger verflochten sich ineinander, und als der Graf plötzlich bei ihr war, ihre Hand faßte und jäh sein Gesicht dem ihren näherte, sank sie mit einem Seufzer gegen seine Schulter. „Also Sie wissen ..", flüsterte sie, indes die ersten Trä nen in ihre Augen traten. „Ja. ich weiß, daß Sie nicht die Frau Bankdirektor Krieger aus Hamburg sind, sondern die stellenlose Konto ristin Elli Krieger aus Berlin. Ich weiß auch, daß Ihrs Wohnung am Bayrischen Platz liegt. „Ah!" schrie die Blonde auf, und hob die kleinen Fäuste gegen den Grafen. Dabei glitt die seidene Jacke von ihrer Schulter. Er lächelte nicht mehr, und während er ihre Arme faßte, sagte er in ihre wütenden Blicke: „... und ich weiß, daß Sie nicht 26 Jahre sind, son dern im Oktober 40 werden." Das war das Letzte: sie schrie einmal hoch auf, dann brach sie zusammen. Ihre Zähne schlugen aufeinander, sie bebte vor Wut und begann plötzlich hell und kindisch zu weinen. Indem hörte sie eine Stimme an ihrem Ohr: „Weinen Sie doch nicht,., weinen Sie doch nicht." „Ja", antwortete sie unter Tränen tief bestürzt, und werden Sie denn schweigen?" Er lächelte nur. Da hob sie sich ein wenig, .egte ihre Arme auf seine Schultern und warf ihre Lippen mit einer einzigen raschen Bewegung auf seinen Mund Und endlich begannen sie beide laut und hell zu lachen. Denn da sagte der Graf, und sein Gesicht blieb so aristokratisch und gleich mütig wie stets: ..... Wer glaubst Du denn, daß ich bin? ... Ich bin doch kein Graf!... Nur ich habe einen besseren Paß als Du!" Dinah Nelken. Hänscheimweh — Schweinetreue Weder das Schwein, noch vor allem die Gans stehen in dem Rufe besonders entwickelter Intelligenz, aber ein schleswig-holsteinscher Gänserich und ein schleswig-holstei nisches Ferkelchen beweisen uns doch, wie wenig der Mensch die Tierseele, selbst die seiner täglichen Hausge nossen. kennt. Von Pferden, von Hunden, Vögeln und Bienen ist es bekannt, daß sie einen erstaunlichen Ortssinn entwickeln, hier zeigen Gans und Schwein, daß auch sie in dieser Fähigkeit Meister sind: Ein Gänserich wurde von Rick ling nach dem sieben Kilometer entfernten Braak verkauft Der neue Besitzer holte das Tier in einem verschlossenen Korbe ab. Offenbar billigte der Gänserich diesen Besitzer wechsel nicht, es gefiel ihm jedenfalls nicht sonderlich bei seinem neuen Herrn, und er benutzte die erste beste Ge legenheit, auszureißen. Er machte sich auf den Weg zu seinem alten Herrn und Heim Dabei mußte er einen gro ßen Wald zwischen Braak und Rickling umgehen. Er brauchte zwar eine ganze Zeit zu seinem Heimmarsch, aber nach fünf Tagen hatte er es doch geschafft. Er sah wohl etwas mager und etwas verloddert aus, als er daheim an kam, aber er hatte doch sein Ziel erreicht, und benahm sich hocherfreut so, wie einer sich benimmt, der nach langer Trennung heimgekehrt. Nicht in diesem wenig imponierenden Gänsetempo, son dern in regelrechtem Schweinsgalopp schaffte ein Ferkel chen die gleiche Kilometerleistung. In Geschendorf lebte es nett und friedlich im Kreise von sechs Schweinegeschwister- chen, bis eines schönen Tages ein fremder Mann kam, die Tierchen sich besah und eines, eben oben besagtes, heraus nahm und mit auf seine etwa sieben Kilometer entfernte Siedlerstelle nahm. Dem Schweinchen paßte der Woh nungswechsel und die Einsamkeit in dem neuen Stalle kei neswegs. Gleich bei der ersten Fütterung schlüpfte es aus dem neuen Stall, an der erstaunten Bäuerin vorbei und los: über Felder, Wiesen und Wege im höchsten Tempo geradenwegs nach Geschendorf zurück. Der Mensch ist für solche Anhänglichkeitsbeweise von Tieren immer dankbar, und so wurden auch in beiden Fällen, beim Gänserich und beim Ferkelchen, die Kauf verträge rückgängig gemacht, so daß die Heimattreuen Tiere ihr Ziel erreicht haben. Auch in diesen Fällen fragt man sich, inwieweit Tiere denken können. Im Sinne des Men schen muß dies wohl verneint werden, aber sicher ist, daß das triebhafte, instinktmäßige Erfassen der Wirklichkeit beim Tier am stärksten ausgebildet ist.