Volltext Seite (XML)
Nr. 108 Pulsnitzer Tageblatt — Dienstag. 10. Mai 1932 Seite 3 Oer Vier-Tage-Reichstag. Mit dem Zusammentritt des Reichstags, der am Mon- lagnachmittag um 3 Uhr seine Beratungen siir einige Tage wieder aufnahm, hat eine viertägige politische Verhandlungs- pcriode eingesetzt, mit der die Reichsregierung uriprnngnch die erste Beratung des Etats im Reichstage verbinden wollte. Die Hoffnung der Reichsregierung, daß ne den Etat dem RciäjsLage vorlegen könnte, hat sich nicht erfüllt. Lxis Ka binett steckt noch mitten in den Verhandlungen m>er den Etat, über staatsrechtliche Einzelfragen der vom Reichsrat am Sonnabend bereits beschlossenen K re d , termachtigun g, durch die Mittel für das Arbeitsbeschaffungsprogramm und für Siedlungszwecke aufgebracht werden sollen. Weiter steht noch eine ganze Reihe von Vorschlägen über Zusammen fassung und Neuordnung des Systems derjenigen Steuern zur Erörterung, die im Laufe des Jahres 1931 durch Notver ordnung erlassen wurden. Die Einnahmen sollen soweit ge steigert werden, daß eine Abdeckung der außerordentlichen Finanzschwierigkeiten der Gemeinden mög lich ist- 3um Teil sollen nach den Vorschlägen die Lasten der gesamten Arbeitslosenfürsorge und der Wohlfahrtsfür sorge auf das Reich übergehen, zum'Teil sollen den Gemein- den neue Mittel zur Verfügung gestellt werden. Das Kabinett wird während der Verhandlungen im Reichstage noch eine ganze Reihe von Beratungen Uber die Etatfragcn abhalten, ehe der Etat offiziell dem Reichsrat und dem Reichstag zugeht. Man will im Reichstage den Beschluß fassen lassen, daß der Etat auch ohneBeratung dcs Plenums dem H a u s h a l ts a u s s ch u ß über wiesen werden kann, der dann in der Zeit nachPfing - st c n bis Juni beraten soll. Der Reichstag soll dann nach den augenblicklichen Ansichten der Regierung in üblicher parlamentarischer Form den Etat und eine Reihe von Gesetzen verabschieden. Die Kreditermächti- gung für die Anleihe will die Regierung vom Reichstag noch in der laufenden Periode von vier Tagen haben. Außer zahlreichen Anträgen, die sich mit allen politischen, sozialpolitischen und wirtschaftspolitischen Problemen der Gegenwart befassen, und außer den Anträgen über die Auf hebung der Immunität gegen zahlreiche Abgeordnete liegen auch Mißtrauensanträge bei der Abstimmung am Mittwoch oder Donnerstag vor. Die Deutschnationalen haben einen Miß trauensantrag gegen die Neichsregierung in ihrer Gesamt heit und besondere Mißtrauensanträgc gegen den Reichs- außcnminister Brüning, den Neichssinanzminister Dietrich und den Reichsarbeitsminister Stegerwald eingebracht. Der Fraktionsvorstand der n a t i o n a l s o z i a l i st i s ch e n N c i ch s t a g s fr a k t i o n hat einen Mißtrauensantrag gegen das Gesamtkabinett Brüning und weitere einzelne Mißtrauensanträge gegen die Minister Groener, Dietrich und Stegerwald beschlossen. Ferner wird ein Antrag auf Aufhebung der SA.-Notverordnung sowie ein Antrag auf Erlaß einer Amnestie gestellt. — Der kommunistische Miß trauensantrag liegt schon seit einigen Tagen vor. Die Regierung glaubt, mit Unterstützung der wirtschafts parteilichen Reichstagsfraktion eine Mehrheit zu erhalten. Dinaeldcy bleibt Vorsitzender der volksparteilichen Reichstagsfraktion. Die Reichstagsfraktion der Deutschen Volkspartei hat am Montagmittag nach einer Besprechung der politischen Lage die durch die Veränderungen innerhalb der Fraktion notwendig gewordenen Neuwahlen durchgeführt. Den Frnk- tionsvorsitz behält vr. Dingeldey. Zu stellvertretenden Vor sitzenden wurden die Abgeordneten vr Hugo und vr. Kalle, zu Geschäftsführern die Abgeordneten Morath und vr. Rcgh gcwäblt. * Deutschnatiouale Anträge im Reichstag. DiedeutschnationaleReichstagsfraktion hat nachstehenden Antrag cingebracht: Der Reichstag wolle beschließen, die Reichsregierung zu ersuchen, angesichts der gefährlichen politischen Entwicklung in Osteuropa formell die internationalen Schritte zu tun, die notwendig sind, um 1. Danzig Schutz gegen die Bedrohung durch Polen zu sichern, deren akuter Charakter von der englischen Presse überzeugend aufgedeckt worden ist; 2. das Memelland auf Grund des Selbstbestim mungsrechts zum Reich zurückzuführen, nachdem Litauen unter Bruch übernommener Verpflichtungen die Autonomie Memels planmäßig schwer verletzt und nachdem das Memel land selbst durch die Wahlen schlagend seinen deutschen Charakter bewiesen hat; 3. grundsätzlich die Revision der Ost grenzen einzuleiten. Ein weiterer Antrag der Deutschnationalen lautet: Der Reichstag wolle beschließen, die Reichsregierung zu ersuchen, von der Ermächtigung der zweiten Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Fi nanzen vom 5. Juni 1931 die gesetzlich zulässige Arbeitszeit im T erordnungswege zu andern, keinen Gebrauch zu machen insbesondere also von einer Herabsetzung der gesetzlichen Arbeitszeit auf 40 Stunden von dem Verbot jeder Mehr arbeit über 48 Stunden hinaus abzusehen. — Ein Antrag v. Müller-Ottfried verlangt: Der Reichstag wolle beschließen, die Neichsregierung zu ersuchen, das wiederholt vom Reichstag geforderte Reichsrentnerversorgungsgesetz vorzulegen, das den geschädigten Kapitalrentnern endlich einen Rechtsanspruch gewährt. 42»s Millionen Fehlbetrag rden ich 0 „ Haushalt des Reichs sind im März 892 Mill RM eingenommen und 1059 Mill. NM ausgcgeben worden, so daß eine Mehrausgabe von 167 Mill. Reichsmark entstanden ist, um die sich das im abgelausenen Haushaltsjahr 1931/32 entstandene neue Defizit auf 264 Mill. Reichsmark erhöht. Im außerordentlichen Haus halt stieg der Fehlbetrag im März um 33 auf 160 Mill. RM. Unter Hinzurechnung der aus dem Vorjahre übernommenen Fehlbeträge ergibt sich ein Defizit von 874 bz. 421 Mill. RM, also ein Gesamtfehlbetrag in beiden Haus halten von 12 9 5 Mill RM. Die Fehlbeträge werden sich indessen auf Grund des endgültigen Abschlußergebnisscs noch erhöhen, weil verschiedene Posten noch nachträglich unter den Ausgaben zu verbuchen sind. Tardieus Niederlage — Herriots Sieg Paris. Mit Ausnahme dreier Wahlkreise und der Kolonien, die erst später abstimmen, liegt das Ergebnis der französischen Kammerwahlen jetzt vor. Es hat der Linken den Sieg gebracht. Die Radikalsozialisten haben 48 Sitze ge- Wonnen und sind mit 156 Sitzen die stärkste Gruppe der Kam mer geworden. Daneben haben auch die Sozialisten und die benachbarten unabhängigen Linksgruppen gewinnen können. Allein die sozialistische Partei unter Führung Leon Blums wird in der nächsten Kammer 129 Sitze einnchmen, während die Kommunisten mit 12 Mandaten keine wesentlichen Fort- schritte errungen haben. Die Gruppe Tardieu, die Linksrepublikaner, hat schwere Verluste erlitten. Von 101 Mandaten ist sie auf 72 zurückgegangen. Die Marin-Gruppe ist von 90 aus 76 Hitze zurückgegangen. Das Ansehen des Ministerpräsiden- ten hat durch diese Wahlen starke Einbuße erlitten. Herriot, der Sieger im französischen Wahlkampf. Das vorläufige amtliche Ergebnis ist folgendes: Bürgerliche Rechte. Konservative 5 (— 3) Republikanisch - demokratische Union (Marin-Gruppe) . . 76 (— 14) Unabhängige Republikaner . . 28 (4- 2) Volksdemolraten 16 (— 3) Linksrepublikaner (Tardieu- Gruppe) 72 (— 29) Bürgerliche Linke. Radikale Linke 62 (— 28) Radikalsozialisten ..... 157 (4- 48) Unabhängige Sozialisten und sozialistische Republikaner . 37 (4- 5) Sozial! st ische Parteien. Sozialisten (Leon Blum) . . . 129 k4- 17) Unabhängige Kommunisten . . 11 (4- 6) Kommunisten 12 (4- 2) Von den 610 Kammersitzen werden die Oppositionspar teien etwa 346, die Regierungsparteien nur 264 erhalten. Die Mehrheit der Linksgruppen in der Kammer ist bedeutend größer als 1924, wo sie nur über 308 Mandate verfügten. Tardieu tritt zurück. Die unmittelbare Folge der Kammerwahlen ist die Rück trittserklärung der Regierung Tardieu. Die französische Tra dition verlangt es so. Vermutlich wird der Präsident aber Tardieu bitten, die Geschäfte vorläufig weiterzuführen, bis die neue Kammer am 1. Juni zusammentritt. Der Prä sident wird dann wahrscheinlich Herriot oder einen anderen hervor ragenden Vertreter der Radikalsozialisten mit der Regierungsbildung betrauen. Erst dann wird man mit voller Klarheit erkennen können, in welcher Richtung sich die französische Innenpolitik ent wickeln wird. Ein Brief Leiparts an Reichs Kanzler Brüning Berlin. Der Vorsitzende des Allgemeinen Gewerk schaftsbundes, Theodor Leipart, hat, wie dec „Vorwärts" meldet, am Montag an Reichskanzler Dr Brüning einen Brief gerichtet, in dem er unter Bezugnahme aus die Bera tungen des Reichskabinetts den Standpunkt der Gewerk schaften in der Frage der Neuregelung der Arbeitsloscnver- sorgung darlegt. Er betont unter anderem, daß es die Ge werkschaften als rin großes Unrecht ansehen müßten, wenn etwa zugunsten der gewaltig überschätzten und übertriebenen Erjparnismöglichkeiten die Neichsregierung aus die Aufrecht erhaltung der Arbeitslosenversicherung verzichten wollte. Rückgang der Arbeitslosenzahl Ende April Berlin. Nach Mitteilung der zuständigen Stelle betrug die Gesamtzahl der Arbeitslosen am 30 April 5 737 000, das ist rund 197 000 weniger als Mitte April. Im einzelnen wurden aus der Arbeitslosenversicherung l 232 000 Personen, aus der Krisenfürsorge 1675000 Personen unterstützt. Während die Zahl der Wohlsahrtsrrwerbslosen rund 2 Mil lionen betrug. Deutschland fordert eindeutige Feststellung -er Angriffswaffen. Genf. Der F l o t t e n a u s s ch u ß der Abrüstungs konferenz hat seine Arbeiten abgeschlossen und einen Redaktionsausschuß eingesetzt, der den Bericht an den Haupt ausschuß der Konferenz über diejenigen Flottenrüstungen, die als Angriffswaffen anzusehen sind, ausarbeiten soll. In der Sitzung am Montag stellte der deutsche Vertreter v. Rheinbaben fest, daß nach den Entwaffnungsbcstim- mungen des Versailler Vertrages die Deutschland ver botenen Flottenrüstungen als Angriffs waffen anzusehen seien. Der Schlußbcricht des Flotien- ausschusses der Abrüstungskonferenz müsse von dem Ge sichtspunkt ausgehsn, daß ein Staat, der zum Angriff ent- schlossen sei, seine Flottenrüstungen als Angriffswasfe ver- wenden könne. Der deutsche Vertreter lehnte nachdrücklich die französische Forderung, den Bericht lediglich auf tech- Nische Fragen zu beschränken, ab und forderte, daß der Be richt vom politischen Standpunkt aus ausdrücklich den An griffsfall berücksichtigt und die entscheidenden Flottenarten als Angriffswaffe erklärt. Nach deutscher Auffassung wer den sämtliche Ausschüsse der Konferenz bei der Festsetzung der Angriffswaffen von dem Gesichtspunkt ausgehen müssen, daß ein zum Angriff entschlossener Staat bestimmte als An griffswaffen zu erklärende Rüstungen verwenden kann. Nur auf diese Weise sei die vom Hauptausschuß verlangte ein- deutige Feststellung der Angriffswaffen zu erreichen. Bölkerbundsrat vertag« sich bis 48. Mai. Genf. Der Völkerbundsrat trat am Montagvormittag unter dem Vorsitz des Vertreters von Guatemala, Matos, zu einer geheimen Sitzung zusammen, in der sogleich beschlossen wurde, die Verhandlungen des Völkerbundsrates am Dienstagabend bis zum Mittwoch nächster Woche zu unterbrechen. Dieser Beschluß wurde mit Rücksicht auf die an, Mittwoch stattfindenden Beisetzungsfeierlichkeiten für Albert Thomas und das am Donnerstag stattfindende Staatsbegräbnis des Präsidenten der französischen Republik gefaßt. In öffentlicher Sitzung fand eine Trauer kundgebung für den Präsidenten der französischen Republik, Doumer, und den Direktor des Internationalen Arbeits amtes, Albert Thomas, statt. Lausanner Konferenz am 16. Luni. Paris stimmt zu. Die französische Regierung hat in zustimmendem Sinne auf die Anregung der englischen Regierung ge antwortet, die Lausanner Konferenz am 16. Juni beginnen zu lassen. Sie hat sich gleichzeitig mit dem von England vorgeschlagenen allgemeinen Programm einverstanden erklärt * Herriot und die Lausanner Konferenz. Der Reparation«- und Kriegsschuldenausschuß des englischen Kabinetts tritt am Dienstag zu einer Sitzung zusammen, um den Bericht des englischen Außenministers Sir John Simon über seine Reparationsbesprechungen in Genf entgegenzunehmen. Die Zeitungsberichte über einen angeblichen neuen Reparationsplan Englands Wer ve» dementiert. Von den Erklärungen Dr. Brünings über die Reparationen ist in London mit Interesse Kenntnis genommen worden, und man glaubt feststellen zu können, daß sich die Ansicht Brünings jetzt wesentlich der Auf fassung der Rechtsparteien genähert hat. Gleichzeitig warnt man in London vor übertriebenen Hoffnungen, da man nickn glaubt, daß Herriot wesentlich von den Richt linien abwcichcn kann, die die französische Politik bisher verfolgt hat. Mit der Möglichkeit, in Lausanne eine Kom promißlösung finden zu müssen, wird daher in London noch immer gerechnet. BLZ. beschließt Verlängerung -es Reichsbankkre-iis. Basel. Der Verwaltungsrat der BIZ. beschloß in seiner Sitzung am Montag, „den Präsidenten zu ermächtigen, im Einvernehmen mit den drei anderen Beteiligten den der Neichsbank gewährten, am 4. Juni 1932 fällig werden den Kredit für einen Zeitraum von drei Monaten zuer neu c r n". Zwei Bewerber für -ie französische Siaaisprafi-entschaft. Paris. Ganz überraschend hat sich der ehemalige Kriegs- Minister Painlevs offiziell die Kandidatur für di« Präsidentfchaftswahlen angenommen, wie er erklär^ auf Drängen seiner politischen Freunde. Os werden sich also Painlevs und der Senatspräsident Lebrun gegen- überstehen. Prozeß gegen Schulrat Meyer am 24. Mai. Königsberg. Der Prozeß gegen den memelländischen Schulrat Meyer und den Reichsdeutschen Beckers ist vom Kownoer Kriegsgericht auf den 24. Mai festgesetzt worden. Der Prozeß wird vor dem Schaulener Kriegs gericht stattfinden. Es ist beschlossen worden, den Prozeß hinter verschlossenen Türen vor sich gehen zu lassen. Voraussichtlich werden die beiden Angeklagten in den nächsten Tagen nach Schaulen gebracht werden. NeuesteZDrahlmeldung Dresden, 10. Mai, 11,15 Uhr. (T-U.) Beunruhigende Gerüchte aus Memel In der Nacht zum Dienstag sind über die litaullch- memelländische Greife zahlreiche Jungschützenverbände auf Lastautos und Fahrrädern in das Memelland gekommen. In den Straßen von Memel fahren Jungschützen umher. Die Beunruhigung in der Bevölkerung ist außerordentlich stark. Man befürchtet an den Grenzen noch weitere Notsrontver- bände und einen Putsch.