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unbewußter Zielstrebigkeit galt dieser Tag, den er lebte; sie sprach vernehmlich aus den blankgescheuerten Augen, die schon sehr ernsthaft aufs Tätige gerichtet waren. Da kommt wieder ein großer Dampfer die Elbe herauf! Weißer Schornstein mit rotem Top Junge, Junge, wenn da der Vater an Bord wäre! Könnte doch sein. Sein Vater bekam immer die größten Dampfer zu lotsen. Peter sah mit begehrlichen Blicken auf das derb ge zimmerte Boot, das unten an der Treppe festgemacht war. Ein Riemen lag auch darin. Alles klar, er brauchte nur loszuschippern. Aber Mutter wollte es doch nicht haben? Och, Mutter ist immer so bange. Da ist der Vater ganz anders. Wäre doch fein, wenn er ihm mit der Mütze zu- winken und rufen könnte: „Tag, Vadder! Mach man fix zu, wir warten schon alle!" Viel Ebbe lief wohl noch nicht. Der Dampfer drüben machte ja eine bannige Fahrt dagegen an. Es trieb den Jungen ins Boot. Wie der Blitz hatte er die Fangleine losgenommen und den Riemen ergriffen. Mit glühendem Eiser brachten seine kundigen Arme das Boot hinaus. Dem Dampfer entgegen. Doch der konnte es besser und war schon lange vorbei, ehe es Peter bis zur Hälfte geschafft hatte. „So'n ver dammter Kram," schimpfte der Junge enttäuscht und wie es sich für einen ordentlichen Schiffer gehörte. Er warf seine Mütze ins Boot und strich sich die nassen Haare aus der Stirn. Nun wurde es auch schon dunkel. Da sollte er ja nach Hause kommen. Neuwerk-Leuchtturm war im Gange, das innerste Feuerschiff blinkte auf. Der kleine Seefahrer sah zu seinem Schrecken, daß er ganz abgetrieben war. Die Ebbe und der auffrischende Ost wind hatten ihn weit hinausgenowmen. Ein heftiger Schnees schauer fegte über die Elbe hip, die einbrechende Finsterni- saugte das Land drüben auf. Ein Dampfer tutete War nungssignale. Irgendwo ein Mövenschrei. Der harte Elb- strom gurgelte am Boot vorbei, in dem sich der kleine Kämpfer mit Tränen der Verzweiflung abmühte. Peter war allein. Er wußte nur, daß er in die Nord see hiuaustrieb. Auf die Sände. Ins Verderben. Welt und Menschen hatten ihn vergessen. „Na endlich!" knurrte Puttfarken und nahm das Doppelglas von den Augen. „Jetzt hat uns der Lotsen dampfer gesehen. — Maschine langsam voraus! Fallreep klar an Backbordseite, zum Lotsenübernehmen!" Der wach habende Offizier löschte das Flackerfeuer, das er zur Erre gung der Aufmerksamkeit seitwärts über die Kommandobrücke gehalten hatte. Mit dem Verschwinden der magischen Leuchte fielen die Umrisse des Frachtdampfers in die Dunkelheit der unsichtigen Nacht zurück. Wenig später hämmerte der starke Motor des Lotsen bootes heran. Eine Leine flog hinunter, der Lotse warf sein Wachsruchbündel über die Schulter, erfaßte mit zünftigem Schwung das herabhängende Fallreep und kletterte an Bord. Stieg zur Kommandobrücke hinauf. „'n Abend, Kaptän. Jensen ist mein Name." Ein Blick in den Kompaß. „Können erst mal Ost zum Süden weitersteuern. Ja?" „'n Abend, Lotse. — Kaptän Puttfarken. — Haben Sie mein Schiff nicht schon früher mal gehabt?" Und zum Rudersmann: „Ost zum Süden ist Kurs!" Jensen rieb sich die Hände, während er ein paar Schritte hin- und herstapfte. „Schlechtes Wetter, Kaptän, was? Schnee, Hagel, scharfer Ostwind — und kein Grog. Na, wir haben uns schon so'n Stück Beruf ausgesucht. — Halben Strich Backbord!" „Tja," machte Puttfarken. „Nun sitzt das zu Hause um den Tisch und denkt: Könnte Vater nicht schon heute hier sein? Es hat vorgestern so schändlich geweht in der Nordsee, sonst hätte es fein geklappt." „Da kann ich ja von Glück sagen," wollte der Lotse erwidern, „jetzt schiebt uns die Flut mit, und in zwei Stun den haben wir Cuxhaven. Und ich werde abgelöst. — Plötz lich meldete der Ausgucksmann in höchster Erregung von vorn: „Boot dicht voraus! Ganz dicht voraus!" „Hart Steuerbord! ... die verdammten Fischer — wieder keine Laterne im Boot . . . können Sie was sehen, Lotse? Kommen wir frei? ..." Das Boot schrammte an der Bordwand des Dampfers vorbei, eine dünne Kinderstimme schrie von unten heraus gellend um Hilfe. „Du Dunnerslag, du Dunnerslag!" Vater Jensen stützte sich aufs Brückengeländer. Die Kniekehlen bebten ihm ein wenig. Er riß seinen Jungen in die Höhe, drückte ihn an sich, schüttelte ihn durch. „Die Jack' müßt ich dir vollhauen, du Deuwelsjung! Wenn die Ebbe dich nun auf Scharhörn gesetzt hätte?" Peter Jensen, der Lotsenanwärter, hatte die letzten Tränen hinuntergeschluckt und versicherte ernsthaft: „Och, Vadder, da war ja schon wieder die Flut im Gange. Die mußte mich doch aufs Feuerschiff zusetzen." „Nu kiek einer an, du bist ja'n höllisch klugen! Und wenn wir dich nun mit unserm Dampier auf die Hörner genommen hätten und du wärst vertrunken wie 'ne junge Katz', in dem eisigen Wasser?" Sagte Kapitän Puttfarken bedächtig: „Da hat jawoll der Herrgott seinen kleinen Finger dazwischen gehalten." Der Seelotse Jensen ließ den Kurs aus das nächste Feuerschiff nehmen. Von Steuerbord her grüßten die ersten Lichter von Cuxhaven. ——° Storchengeschtchten °——— Von Annie Francc-Harrar Störche gehören zu den klügsten Vögeln, die es gibt' Unzählige Geschichten über ihre Klugheit gehen um, die nicht minder groß ist als ihre Familienliebe. Um den guten Ge brauch, den sie von ihrem Verstand zu machen wissen, zu zeigen, möchte ich die Geschichte des Radwanger Storches erzählen, die sich vor mehreren Jahren ereignete. Radwang ist ein Dorf nahe bei Dinkelsbühl in Fran ken und besitzt eine sogenannte Walkmühle, zu der auch ein mittelgroßer Fabrikkamin gehört. In Franken sind Störche noch ziemlich häufig, da sie von der Bevölkerung allgemein beschützt werden, und so baute sich denn auch auf diesem Ka min, der neben einem mächtigen Weiher steht, ein Storch an. Dem Besitzer war dies unlieb, da er fürchtete, die Rauchfüh rung möchte leiden. Da er auf andere Weise dem Nest nicht gut beikommen konnte, ließ er den Kessel mehrere Tage lang tüchtig Heizen in der Hoffnung, dem ungebetenen Mieter würde der Qualm zu groß werden, so daß er sich ein ande res Quartier suchen würde. Der Storch fühlte sich durch die unter seinem Haus hervordringenden schwarzen Rauch wolken auch sichtlich belästigt, schaffte sich aber bald Abhilfe, und zwar von einer Art, an die niemand gedacht hatte. Er flog nämlich an den Teich, brachte mit seinem Schnabel reichlich Schlamm und Lehm herbei und — mauerte ganz einfach die Oeffnung des Kamins fest zu, nicht anders als ein Ofensetzer, der die Fugen glatt verstreicht. Der Rauch hörte auf, die Störche blieben Sieger. Der Besitzer der Mühle mußte sich wohl oder übel fügen und wurde von den lieben Nebenmenschen nicht wenig ausgelacht. Man wird zugeben, daß man einem Geschöpf, das mit solcher Ueberlegenheit seine Angelegenheiten zu ordnen ver steht, auch in allem übrigen eine ziemliche Dosis vernünf tiger Handlungsweise zutrauen darf, sogar muß. Darum muten die vielen Geschichten, die von Storchenehen und den mancherlei Klippen, an denen sie zuweilen scheitern, erzählt werden, keineswegs so unglaubhaft und übertrieben an, wie jene Menschen es gerne darstellen möchten, die sich nie ernst- hafr mit anderen Lebewesen beschäftigt haben oder an diese Beschäftigung nur mit der Ueberzeugung der absoluten, him melhohen Ueberlegenheit des Menschen herangingen. Bei dem ernsthaften Charakter und Wesen, das der Storch bei vielen Gelegenheiten zeigt, fallen eben auch alle seine Ge fühlsbewegungen leicht tragisch aus. So ist die Handlungsweise eines Storchweibchens zu bewerten, die der unsterbliche alte Brehm vom Schloß Kem pen berichtet. Es war der ausgesprochene Fall einer Ehe irrung, nur daß sich die Untreue des Gatten nicht im gehei men, sondern in vollster Oeffentlichkeit vollzog, angestiftet von einer noch ledig herumschweisenden Storchdame, die sich erst einfand, als die Gattin bereits brütete. Die Sache ging so weit, daß der Mann mit der Abenteurerin davonflog und sich um alles übrige nicht mehr kümmerte. Da beging die verlassene Störchin eine Verzweiflungstat. Sie warf die schon angebrüteten Eier aus dem Nest und füllte dieses ganz mit Rasen aus, wodurch es unbewohnbar wurde. Traurig irrte sie nocb einige Tage in der Nähe umher und war dann plötzlich nicht mehr zu sehen. Die beobachtenden Menschen konnten nur vermuten, daß ein Pärchen, das erst Ende August wieder erschien, der einstige Gatte mit seiner neuen Frau sei. Sie brachten mit viel Mühe das Nest wieder in einen wohnlichen Zustand, brüteten aber nicht mehr, wenigstens nicht in diesem Jahr. Sonst scheint, etwa so wie bei uns noch im 18. Jahr hundert, auch unter den Störchen ein ausgesprochenes Män nerrecht zu herrschen. Ehebrecherische Frauen werden unter diesen Vögeln mit dem Tode bestraft, während man gar nichts davon hört, daß dieses Urteil auch an Männern voll streckt wird. Ich will nur einen dieser Berichte hierher setzen, der aus Griechenland und dem Jahre 1882 stammt. Es ist der kleine, oder doch zumindest damals kleine Hafenort Stylida bei Lamia, wo der die Geschichte erzählende deutsche Generalarzt Doktor O., vor dem Kaffeehaus sitzend, eine ganze Versammlung von Störchen beobachtete, die un aufhörlich über der Stadl kreisten. Das Merkwürdige war, daß sie sich immer wieder an einem Punkt zusammenfanden und dann von neuem auseinander flogen, scheinbar ganz beschäftigt von einer Angelegenheit, die ihre Aufmerksamkeit völlig in Anspruch nahm. Dabei klapperten sie laut und schienen aufs höchste erregt zu sein. Die zahlreichen Storch nester rundum waren alle leer. Nur in einem einzigen saß trübselig mit gesenktem Kopf ein Weibchen, als sei es aus der Gesellschaft ausgestoßen. Doktor O., der einen solchen Storchenaufruhr noch nicht miterlebt hatte, fragte interessiert einen seiner Nachbarn, was das ungewöhnliche Betragen des Schwarmes wohl zu bedeuten haben möge. Man gab ihm zur Antwort, das Ganze sei ein Ehegericht. Dergleichen käme häufig vor. Er möge nur abwarten und zusehen. Es gelte ganz sicher dem verlassenen, einzelnen Weibchen im Nest. Das Kreisen, sich Begegnen und Bogenfliegen der Versammlung dauerte noch eine Weile an. Dann trafen sie sich alle unter rauschendem Geklapper bei der Alleinsitzenden, und ein paar Minuten später lag die Störchin blutüber strömt, zerzaust unten auf der Straße und starb gleich darauf zuckend vor den Füßen der Menschen. Nun löste sich das Gericht auf. In einzelnen Schwärmen, so wie sie angekom men waren, zogen die großen schwarz-weißen Flieger ab, und bald war nichts Besonderes mehr zu sehen. Dreimal in fünf Jahren erlebte der Beobachter ein solches Storchen urteil, und jedesmal endete es mit dem Tode der angeklagten und als schuldig befundenen Störchin. Ganz übereinstimmende Berichte von derartigen Vor gängen bei unserem sonst so gern gesehenen Dachgenossen gibt es sowohl aus Aegypten, dem Winterzufluchtsort unse rer Störche, als auch aus Deutschland. Aus dem 16. Jahr hundert berichtet uns eine sehr genaue Auszeichnung eines Wittenberger Professors der Rechte, daß sich auf einer Wiese an hundert Störche zusammengefunden hatten, zwei Stunden lang klapperten und berieten und endlich auf einen in ihrer Mitte befindlichen sich stürzten, wobei jeder Storch ihm einen Stich mit dem Schnabel versetzte, bis der Ange griffene tot zu Boden sank. Maitage in Mödling. k' Orlginalreisebrief für unsere Zeitung von Heinz Hell. Wiener Vororte im Blutenschmuck — Der traditionelle Nachmittagskaffee — Madonna zwischen Kerzen und Flieder — Wien, die Stadt der Gegensätze. Wien, 2. Mai 1929. ' Am 1. Mai, als ganz Wien in Erwartung besonderer Sensationen die Straßen bevölkerte, bin ich am Ning in eine Elektrische gestiegen und nach Blödling hinausgefahren. Es war nicht wie sonst, wo an schönen Tagen die Menschen sich drängen und schieben im Abteil, wo Familien mit Kind und Kegel das Weite suchen, wo der ganze Wiener Wald ein Jauchzen ist und ein Singen und ein Lachen, daß die blauen Berge am Horizont mitflimmern, vor Lust am Dasein, es war nicht wie sonst heute. Trüb und regnerisch grollte der Himmel, Schirme und Mäntel beherrschten die Lage, wo gestern bereits sommerliche Farben leuchteten. Erst in Hitzing draußen strahlte das reine Weiß der blühenden Obstbäume freundlicher, und die Häuser und Vorortvillen brüsteten sich stolz im Schmuck eines heurigen Anstrichs. Manner, Rodaun, Perchtoldsdorf (das kein Wiener je anders als Petersdorf nennen wird) huschten, in Grün und Weiß gebettet, vorüber, Brunn am Gebirg ließ bereits kom mende Herrlichkeiten ahnen, und endlich hielt die komische kleine Bahn, triefend vor Nasse, in Mödling, wo vorerst lediglich das bescheidene Stationshäuschen und einige in handfestes Loden gehüllte Gestalten von der Existenz eines Gemsipwesens Kunde gaben. Immerhin, man war angelangt, und Sache des Institutes oder der guten Nase muhte es sein, vorder hand jenes Lokal ausfindig zu machen, in dem das Jausen — der Ausdruck für den traditionellen Wiener Nachmittagskaffee —, genau wie in Wien, bedeutendste Formen annimmt. Wahrscheinlich, daß Mödling an schönen Tagen, infolge der vielen Menschen seinen Cha rakter einbüßt; heute jedenfalls wirkt cs ganz ursprünglich mit seinen kleinen Plätzen und Winkeln, Ncnaissancehäusern und gotischen Torbögen, mit der gemütlichen Polizeiwache und den trotz trüber Witterung flanierenden Dandys beiderlei Ge schlechts, denen man nur nachzugehen braucht, um bald auf das gewünschte Iausenlokal zu stoßen. Auf überdachter Veranda genießt man, neben Kipferln und Schlagobers, solch geruhsames Bild, lauscht den Ge sprächen der Umsitzenden und beaugenscheinigt, bevor man sich in weitere Ausflüge stürzt, rasch noch jenen alten Barock- Apostel, der dort hinten im Garten über Vergangenes nach sinnt. Dann aber geht es hinaus, eine dem Mittelalter ent lehnte Straße hinauf, vorüber an dem zauberhaften Platz mit der gotischen Pfarrkirche St.Othmar, dem freistehenden Karner, dem Glockenturm, romanisch mit barocken Zwiebeltürmen, weiter, immer weiter, über schmale Felspfade, wo ein Aus gleiten Sturz in die Tiefe bedeutet. Zwar kann man es auch bequemer haben, von der andern Seite her, doch wird man hier nach überstandener Gefahr überreich belohnt durch einen Ausblick, der alles Leid vergessen läßt. Zu Füßen, wohl zweihundert Meter tief, dehnt sich, in Grün gebettet, die Möd- linger Altstadt, deren Ausläufer, von Felszacken flankiert, fast bis ins Brühltal schneiden; zur Linken-die weite Ebene, rechts die Berge im scheidenden Licht der Sonne, die beiden Ruinen, Burg Lichtenstein, der Husarentempel, phantastisch düster gefärbt, im Schatten einer Wolkenbank, dunkle Wälder, starre, nackte Schroffen, fast wie im Hochgebirge. Ein uralter Turm, zur Hälfte abgebrochen, reckt sich unmittelbar nebenan, ein romantischer Schornstein, Rauch entquillt ihm, und eine winzige Bogendrücke führt über den schmalen Graben in das freundlich möblierte Innere, wo Einheimische gleichfalls mit Jausen beschäftigt sind. In der Tat, ein Weekendhüuschen, wie es wohl schöner kaum zu finden sein wird. Lang schaut man hinunter ins Tal, im Herzen Dankbar keit für all das Schöne und nicht ahnend, daß das Aller- schönste noch vor einem liegt. Denn als ich nun in Gedanken versunken wieder bergab schreite, diesmal den bequenien Weg, als ich den Platz mit der alten Kirche passiere, tönt Glocken geläut, die stürmende Melodie einer Orgel und Gesang von Frauenstimmen an mein Ohr. Einer inneren Eingebung fol gend, trete ich in das Gotteshaus, stehe und empfinde wie ein Mysterium die Weihe der heiligen Stätte: Umweht von der Stimmen unendlicher Süße, cingehiillt vom Goldschimmer der Kerzen, die von überall her tausendfältig sich spiegeln, von ragenden Pfeilern überschirmt, träumt dort die Ma donna auk dem Altar, boldseligste Jungfrau . . . Und vor