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Freitag, den 1». Mai 1S2» Beilage ,« Nr. 107 81. Jahrgang KM M W Bkl!» Ml? «Der Friedensvertrag ist unerfüllbar" — das weiß jeder, der den Vertrag kennt. Wer hat aber den Friedensvertrag gelesen? Vielleicht 100 000 Menschen in Deutschland. Würden alle Deutschen das Diktat von Ver sailles wirklich kennen, so würde die Forderung nach Aufhebung oder Umgestaltung des Ver trages im ganzen Lande mit unwiderstehlicher Gewalt sich erheben und auch im Auslande schließlich Gehör finden müssen. Also es ist Pflicht jedes Deutschen, die einschneidend sten und brutalsten Bestimmungen des Versailler Diktats zu kennen. * Der TeN III des Vertrages trägt die Ueberschrift: „Politische Bestimmungen über Europa". Teil Hl, Artikel 32 bis 34 lautet: „Deutschland verzichtet zugunsten Belgiens auf die Ge biete Neutral- und Preutzisch-Moresnet, Eupen und Mal medy. Während der Dauer von 6 Monaten nach Inkraft treten des Vertrages werden in Eupen und Malmedy offene Listen ausgelegt, in welche diejenigen sich eintragen können, die den Verbleib der Gebiete unter deutscher Souveränität wünschen. Rach Kenntnisnahme dieser Listen entscheidet der Völkerbund endgültig. Mit dem llebcrgang der Staatshoheit verlieren die Bewohner die deutsche, erwerben sie die belgische Staatsangehörigkeit. Wer deutsch bleiben will, muß sich innerhalb zweier Jahre hierfür entscheiden (optieren). * Das Ergebnis der Verzerrung des Gedankens der Selbst bestimmung war betrüblich; angesichts der belgi- 'chen Bedrückungen hatten nur wenige hundert Ein wohner Einzeichnung in die Listen gewagt. Die tatsächliche Verfälschung selbst dieses unzulänglichen Verfahrens ist weltkundig geworden. Trotzdem entschied der Völkerbund — aus Grund einer durch den Vertreter Brasiliens vorgenommenen Prüfung —, daß die Ge biete Belgien zugeschlagen seien. Hierbei wurde Deutschland auch noch — gegen den Versailler Vertrag — die 21 Kilometer lange Bahn Raaren—Kalterherberg im Kreise Monschau mit 7500 Hektar und 2000 Einwohnern deutscher Nationalität entrissen. Die abgetretenen Gebiete sind reich an wertvollen Zinkerzen und Wäldern; außerdem befand sich in ihnen das große deutsche Militärlager Elfenborn. Gin Amerikaner spricht in Oeutschland gegen -Le Kriegsschuldlüge. Br e.m en> Mit dem Dampfer „Stuttgart" des Nord deutschen Lloyd, der in Bremerhaven ankam, traf u. a. Prof. Ernst G. Sihler in Deutschland ein. Prof. Sihler ist Dezer nent der lateinischen Literatur an der New Dorker Univer- Ntät und ist nach Deutschland gekommen, um Vorträge über die Schuldlosigkeit Deutschlands am Weltkriege zu halten. Die Kriegsschuldlüge ist in Artikel 231 des Versailler Vertrages niedergelegt worden. Der Worlaut des sogenannten Schuldbekenntnisses ist folgender: Die alliierten und assossierten Negierungen er- klären und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und feine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schä den verantwortlich sind, die die alliierten und assossierten Re gierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten auf gezwungenen Krieges erlitten haben." Ein interessantes Gegenstück zu den Vorträgen, die der amerikanische Professor Sihler jetzt in Deutschland gegen die Kriegsschuldlüge halten will, ist eine Entschließung des amerikanischen Senators Shipstead zur Kriegsschuldfrage in der ersten Sitzung des 70. Kongresses am 21. Mai 1928. Senators Shipstead schlägt auf Grund der Erkennt nis, daß „die Feststellung der Tatsachen und der Wahr heit Uber den Kriegsursprung für eine Aussöhnung der Völ ker Europas und für deren moralische Abrüstung von aller höchster Bedeutung ist, vor, es möge beschlossen werden: „Daß der auswärtige Ausschuß des Senats der Vereinig ten Staaten ersucht wird, eine Untersuchung zu dem Zwecke anzustellen, zu entscheiden, ob angesichts der : -uen Beweise und anderer amtlichen Unterlagen die Zeit gekommen ist, wo die amerikanische Regierung aus dem Empfinden für Gerech tigkeit und Billigkeit heraus, den alliierten Mächten anemp- sehlen könnte, entweder, daß sie diesen Artikel ohne weiteren Verzug abändern, oder daß jede von ihnen für sich ihre Ab sicht kundgibt, ihn nicht z« beachten." Für diese Entschließung sammelt der Deutsch-ame rikanische Bürgerbund Unterschriften und hat in der Redaktion der deutschen Zeitung in Chicago, des „Chica goer Herold" eine Einzeichnungsliste ausgelegt. Diese Aktion soll den Senator Shipstead in seinem Kampf gegen die Kriegsschuldlüge unterstützen. — Was unsere deutschen Brüder jenseits des Großen Teiches tun, das sollte selbstver- ständlichEhrenpslichteinesjedenDeutschen in seinem Vaterlande sein. Der Arbeitsmarkt in Sachsen. In der zweiten Aprilhälfte erreichte die Abnahm Bewegung der Arbeitslosen ein rascheres Tempo. Die Zahl ix.. Haupt unterstützungsempfänger in der Arbeitslosenversicherung ist vom 15. bis 30. April 1929 von 168960 auf 129 461 also um 23,4 Prozent zurückgegangen. In der Abnahme ist die Be wegung der männliche» Hauptuuterstützten niii rund 29 Pro zent beteiligt, während die Zahl der unterstützten Frauen sich nur von 41 624 auf 39 862 also um rund 5 Prozent verringerte und in der Krisenunterstützung noch eine Steigerung erfuhr. Sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Industrie der Steine und Erden ist auch eine wesentlich lebhaftere Nachfrage eingetreten. Auch der Steinkohlenbergbau verzeichnet einen starken Bedarf an Hauern und Lehrhauern, so daß die Zu weisungen aus Westfalen fortgesetzt werden. Hingegen ent spricht die Belebung im Baugewerbe nicht den Erwartungen und das Tempo der Entwicklung hat sich stellenweise ver langsamt, vermutlich wegen stockender Finanzierung. Die Lage im Spinnstoffgewerbe ist sehr uneinheitlich und neigt im ganzen,zur Verschlechterung. Besonders stark ist die Uneinheitlichkeit in der Strumpf-, Trikotagen- und Landschub- I Ulks (Zai-clinsn u. LskömsnsIrmLsn ksufsn Sis im Qsfciinsnftsus Wunösrlicft, ttsupkmsrki mrmsttte und in der Strickerei. Facharbeiterinnen werden nach wie vor in Chemnitz verlangt. Stellenweise herrscht ein großer Mangel an Ostermädchen zum Anlernen in bestimmten Zweigen der Textilindustrie. Hier dürfte sich bereits ein Fehlen des Nachwuchses bemerkbar machen, und es wird sich die Notwendigkeit herausstellen, auf ältere Jahrgänge zurück zugreifen. — In der Metallindustrie har der Tiefstand an gehalten. Einigermaßen befriedigend beschäftigt ist der Chem nitzer Werkzeug- und Textilmaschinenbau und stellenweise die Fahrzeugindustrie und der landwirtschaftliche Maschinenbau. Unverändert ungünstig ist der Arbeitsmarkt im Holzgewerbe. Im Bekleidungsgewerbe brachte das bevorstehende Pfingstfest für die Schneiderei eine erneute Belebung der Nachfrage. Die Saison der Strohhutindustrie ist dagegen beendet und es er folgten bereits Entlassungen von Strohhutnäherinnen. Die Kartonnagenindustrie hat in einigen Bezirken, in denen das Spinnstoffgewerbe eine saisonmäßige Belebung aufwies, eine Steigerung des Beschäftigungsgrades erfahren. Erfreuliches Echo des staatsbürgerlichen Zusammenschlusses Der staatsbürgerliche Wahlausschuß, der in Uebereinstimmung mit den Bestrebungen der staatsbürgerlichen Einheitsfront die Wieder errichtung einer linksradikalen Parteiherrschaft zu verhindern bestrebt ist, hat mit seinem Wahlaufrufe lebhafte Zustimmung in der Presse und in der Bevölkerung gefunden. Die gehässigen Kommentare der'SPD. und KPD. zeigen deutlich, wie peinlich diesen Parteien ein Zusammen schluß des SlaatSbürgertumt gegenüber bolschewistischen und marxistischen Tendenzen ist. Zahlreiche Zuschriften aus allen Parteilagern begrüßen Diesen Zusammenschluß als eine Tat zur rechten Zeit. , Nächte der Angst. Ei« Sylt-Roman von Anny Wothe. Copyright by Greiner L Co., Berlin NW 6. (Nachdruck verboten.) 3S. Fortsetzung. Estrid hatte nicht, wie Peter Bonken wohl erwartet, ihre Hausfrauenpflichten im Gotteskoog wieder ausge nommen. Sie dachte gar nicht daran. Sie verließ auch nicht ihr Zimmer, so dringlich auch Akte mahnte, sie müsse sich Bewegung schaffen, und Peter ihr wiederholt vvrschlug, sie im Schlitten über das Eis zu fahren. Peter Bonken kam jetzt alle Tage, um nach seiner Frau zu sehen. " ' „Er tut es nur vor den Leuten", dachte Estrid, und gab kurze Antwoxt, wenn er sie etwas fragte Er berührte bloß gleichgültige Dinge. Nie mehr kam er aus ihr Gespräch zuruck. Akke brauchte jetzt nicht mehr zu reden, daß, die Fru" ordentliche Nahrung zu sich nahm. Estrid selbst hatte das Bedürfnis, sich zu stärken und zu kräftigen. Nicht von anderen abhängig fein", dachte sie. „Kräfte sammeln, um kämpfen zu können mit dem, der mir ein unerbittlicher Feind geworden/' Peter Bonken ließ ferne Frau gewahren. Aber seine sonst lachenden AO'M hatten nicht mehr ihren Hellen Glanz, und finster huschten sich die dicken Augenbrauen uuf seiner breiten Stirn. Weihnachten war da! Der Heiligabend, wo so feier lich die Glocken über das Watt klangen und alles voller Heimlichkeit und Süße war. Peter Bonken war am Morgen zu Estrid gekommen Mw hatte sie gefragt, ob sie nicht zur Bescherung am albend in den: Pesel erscheinen wolle. Er und Akke hätten alles gerichtet und die Leute würden es als eine besondere Ehristfreude einpfinden, wenn die Herrin des Gotteskoog ihnen die Geschenke austeilte. „Herri«-« Estrid hatte höhnisch aufgelachi. „Die Sklavin eines Herrn, der seine rohe Kraft ausnützt um jeden Preis, wolltest du wohl sagen", hatte sie geantwortet. „Ich brauche kein Fest und keine Weihnachtsfeier, und den Leuten noch eine Komödie vorzuspielen, dazu halte ich mich doch für zu gut." „Wie du willst", hatte Peter entgegnet, dann war er gegangen. Und nun saß, Estrid in ihrer Stube, wo matt die Lampe mit dem roten Schirm brannte, und starrte in das Flocken geriesel draußen. Auf jeden Laut im Hause lauschte sie. Türen klappten auf und zu. Hastige Schritte gingen und kamen. Nun wurden Kinderstimmen laut. Das Trippeln kleiner Füßchen. Natürlich. Akke hatte es zur Genüge verkündet. Peter Bonken ließ es sich nicht nehmen, auch in diesem Jahr einer Anzahl Dorfkinder zu bescheren. Tagelang Wax er auf dem Festland gewesen, um selbst alle Einkäufe zu be sorgen. Jetzt war es draußen schon ganz dunkel. Nein, doch nicht. Huschte nicht da vor dein Fenster ein dunkler Schatten über den weihen Schnee? Estrid stand das Herz fast still. „Jugewart Ferks", schrie sie vor sich hin, beide Hände gegen die Brust pressend. Angstvoll irrten ihre Augen zum Fenster. Wenn doch Akke kommen wollte, die Vorhänge zuzuziehen. Estrid traute sich nicht, von ihrem Stuhl aufzustehen. Plötzlich war der Schatten verschwunden. Estrid atmete auf, aber eine tiefe Mutlosigkeit, eine grenzenlose Traurigkeit erfüllte ihre Seele. Wie einsam es ringsum war. Nun brannten sie Wohl im Pesel den Lichterbaum an. — Zu ihr kam niemand. Nicht Mutter noch Schwester. Ausgeschlossen war sie in dieser heiligen, in dieser Weih nacht, die für sie auch nichts anderes war Äs eine — Nacht der Angst. . . Niemand hatte an sie gedacht. Keiner dachte daran, sie zu erfreuen, einsam war sie, ganz einsam. Heiße Tränen schossen in Estrids Augen. Zornig wischte sie mit der Hand darüber hin. Aber war ihr selbst beim in den Sin» gekommen. irgend jemand etwas Liebes zu erweisen? Nein, nur au sich hatte sie gedacht, wie bisher immer in ihrem Leben. Horch! Drüben im Pesel sangen die Kinder die trauten alten Weihnachtslieder. Ganz deutlich hörte Estrid auch Peters kräftigen Bari ton, wie er andächtig und kindergläubig mit den Kleinen sang: „Es ist ein Rost entsprungen Aus einer Wurzel zart." Und als es dann so still und feierlich durch das Haus klang: „Stille Nacht, heilige Nacht", da schlug Estrid beide Hände vor ihr von Träne« über strömtes Autlitz, und in ihrer stolzen Seele stieg es aus wie ein Gebet. Nun war es wieder still im Haus. Jubelnd hatten es die reichbeschenkten Kinder ver lassen und Peter saß wohl allein im Pesel bei der Abend mahlzeit. An sie dachte keiner, nicht mal Akke kam, sich um sie zu kümmern. Eine grenzenlose Verlassenheit bemächtigte sich Estrids, und mit Scheu blickte sie zuweilen nach dem Fenster. Etwas Hilfloses lag in ihren Augen, als sie nach der Bibel auf dem Bortbrett griff und sie dann aufschlug. Wie lange hatte sie nicht in dem heiligen Buch gelesen? „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt." Sie neigte ihren blonden Kopf tief auf das Buch der Bücher und las: „Er wird deinen Fuß. nicht gleiten lasse«, denn seine Hilfe schläft nicht." Da öffnete sich leise die Tür und Akke schob sch' Paket auf de» Tisch Wortlos ging sie wieder hinaus. Estrid starrte auf das Paket mit den fremden Marken und der fremden Handschrift, dann riß sie in fieberhafter Hast die Umhüllung ab. (Aortsetzvng folgte