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Wechw-LMckr WM Amtsblatt. Sonntag, den 12. September 1909. Nr. 212. 1. Bettage. Wahrheit und Lüge im Leven des AiudeS. Wie leicht sich die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge in der Seele des Kindes verwischen und zu welchen Konflikten und seltsamen Phänomen diese Verirrungen jugendlicher Phantasie führen können, hat Gottfried Keller in „Des grünen Hein rich Jugendgeschichte" dichterisch dargestellt. Die Psychologische Wissenschaft hat sich eingehend mit dem Problem beschäftigt und in zahlreichen Ar beiten das Werden und die Bedeutung der Kinderlllge untersucht. Neues interes santes Material zu diesem fesselnden Thema brin gen die Experimente, die ein italienischer Lehrer, Antonio Bensie aus Parma, während seiner Lehr tätigkeit mit 107 Schülern der drei untersten Ele- menlarklassen angestellt hat und deren Ergebnis der bekannte Pädagoge Ugo Pizzoli im „Resto del Carlino" veröffentlicht. Die freien Aussätze, die einen so wertvollen Einblick in das Phantasieleben des Kindes vermit teln, werden dabei zu einem interessanten Grad messer für die Wahrhaftigkeit der kleinen Schrift steller und für ihre Neigung, eine messt wenig ideale Wirklichkeit mit sorglos entfalteter freier Dichterfreude zur edelsten aller Welten zu erhebe». Als Bensi seinen Schülern das Thema „Ma rius entsagte einem Vergnügen, um eine gute Tat vollbringen zn können" zur freien Behandlung stellte, fehlte es in den Aufsätzen zwar nicht an rührenden und erhebenden Episoden und Beispielen; aber als die Kleinen später zur Rede gestellt wur den, ob sie selbst oder einer ihrer Freunde jemals eine solche Opsertat vollbracht hätten, ja ob sie nur Zeuge solchen Opfermutes gewesen wären, war unter den 107 Schülern nur einer, der mit Ja antworten konnte. Und als man seiner Darstellung nachging, stellte sich heraus, daß auch diese einzige bejahende Antwort eine frei erfundene Lüge war. Als das Thema gestellt wurde: „Anton findet einen kleinen flüggen Vogel im Garten, was tut er mit ihm?", brachten die Aussätze allerlei rüh rende, von Sentimentalität übcrfließende Schilder ungen. Als dann jeder der kleinen Märchenerzäh ler mit dem Gesicht gegen die Wand gestellt wurde, wagte keiner mehr zu sagen, daß er oder einer seiner Freunde je mit Tieren Mitleid gehabt hätte. Die Kinder wurden veranlaßt, ihre Erlebnisse mit Tieren niederzuschrciben, und es wurde ihnen ein geschärft, ruhig und ohne jede Ausschmückung alles das zu erzählen, was sie wirklich getan und erlebt hätten. Das Ergebnis dieses Experimentes brachte eine Fülle von Schilderungen, in -denen Vögel, Frösche und Eidechsen auf die seltsamsten Arten gepeinigt und gemartert wurden. Einer der Schüler schrieb: „Einmal habe ich einen Totensarg gemacht. Dann habe ich im Gar ten eine Eidechse gesucht, ich habe sic gesehen, ich habe sie gejagt. Dann habe ick sie gefangen und mit einer Schnur gebunden. Ich habe sie in den Sarg gelegt und den Deckel zugemacht. Dann habe ich ihr einen Leichenzug gemacht. Der Totenwa gen war etn Schemel mit einer Schnur. Ich habe sie begraben. Auf das Grab legte ich Blumen." Ein anderer Schüler erzählt, wie er eine lebende Eidechse regelrecht gekreuzigt hat; er stülpte ihr dann eine Dornenkrone über den Kops und setzte sie auf einem Aste in die glühende Sonne. Als dann das Thema gegeben wurde, in wel cher Weise man Geld, das der Krämer einem ur tümlich zu viel herausgibt, verwenden könne, brach ten alle Aufsätze in seltsamer Einstimmigkeit einen Hymnus auf die Ehrlichkeit, der mit allerlei Ge schichten reizvoll ausgcschmückt war. Die jugend lichen Moralisten wurden jedoch in die Enge ge trieben; dabei stellte sich heraus, daß von 37 Schü lern der vierten Elcmentarklasse drei überhaupt keine toirklichen Begebenheiten dieser Art erlebt oder ge hört hatten. 22 berichteten, daß die zu viel zu- rückempfaugcnen Kuvserstückc zum Obsthändler wan derten, 5 trugen den unredlichen Gewinn zum Zuckerbäcker, 5 legten ihn in Schokolade an und zwei in neuen Schulheften .... Der Malfenrock. Von Michel Corday. Die Offiziere der Garnison von Bellesontaine empfingen ein neues Regiment. Der Empsang war ohne viel Umstände: statt in einer von Gas und Rauch dampfenden Atmosphäre Kaffee, Liköre, Bier und Punsch hinunter zu stürzen, nahm man ein fach vor dem Diner einen Schnaps auf der Ter rasse des Militär-Kasinos. Auf einer langen, huf eisenförmigen, mit einem Weißen Tischtuch gedeck ten Tafel reihten sich in allen Farben schillernde Schnäpse, Blnmcnvasen, zwischen denen Päckchen von Zigarren und Zigarette» herum läge». Ge schickt verteilt, bemühten sich rings um den Tisch die Offiziere, mit ihre» neuen Kameraden Bekannt schaft zu machen und rühmten, wie es der Brauch ist, die Vorzüge der Garnison. Nach und nach wurde der Stimmenschwall lauter, doch blieb er übertönt von den Klängen der Militärmusik, die in einer Ecke des Gartens spielte. DiegroßenKatsermanöoer dieser Jahre- werden durch die starke Beteiligung de- Truppen- aufgebotS der drei großen süddeutschen Bundesstaaten charakterisiert. Die eine der beiden Armeen, die unter den Augen der Kaiser» in der Umgebung de- tränktschen Städtchens Mergentheim an der Tauber, seS Sitzes der Manöoerleitung und kaiserlichen Haupt quartiers, manövrieren, steht unter dem kgl. bayri- ichen Generalfeldmarschall Leopold Prinz von Bayern. Vie von ihm befehligte blaue Armee besteht aus aem 13. (württembergischen) Armeekorps unter Her- ;og Albrecht von Württemberg, dem 1. bayrischen Korps, daS Prinz Ruprecht von Bayern befehligt, An einem Ende der Tafel verharrte der Ober leutnant Breton in Stillschweigen. Er hielt zer streut seine ausgegangene Zigarette zwischen den Lippen und leerte in großen Zügen, mit einer mechanischen Bewegung, sein Glas, das ein ge fälliger Nachbar fortwährend füllte. Die Abwesenheit des Majors Desardennes quälte ihn mit einer Unruhe, die er vergebens zu rückwies und die ihn, wie eine verjagte Fliege, nur noch mehr reizte. Um sie durch ein ausge sprochenes Wort besser präzisieren und verwerfen zu können, murmelte er mit leiser Stimme: „Also — macht der Major wirklich meiner Frau den Hof?" — Sobald er seinem Verdacht diesen klaren Aus druck verlieh, überwand er ihn sogleich, so sehr er schien er ihm schauderhast, der natürlichen Ord nung zuwider, unmöglich, wie die Strö mung eines Flursses zu seiner Quelle. Aber unter der schnellen Benebelung des un gewohnte» Schnapses zog die ganze Intimität der zwei Wirtschaften, die Tür an Tür wohnten, in kleinen, deutlich ausgeprägten Bildern an seinen Augen vorbei: Als Schauplatz, am Abend sein Salon oder der der Desardennes — übrigens gleiche Rahmen, denn ein Offizierssalon sieht aus wie der andere. Der Major plaudert, mit dem Rücken an den Kamin gelehnt. Er ist einer von den Männern, denen der chreckliche Krieg mit 20 Jahren die Feuertaufe ge geben hat, dessen geschmeidige und starke Seele er in Blut getaucht hat. Elegant gekleidet, mit gefälligen Bewegungen nnd von sehr jugendlichem Aussehen, verkörpert er mit seinem langen Schnurrbart und feinem kurz geschorenen Haar den Typus des modernen Offi ziers: der Soldat, der sich bemüht,- es nicht zu scheinen, zugleich ein Gelehrter, der von weltlichen Erfolgen träumt, der Taktiker, den in einem sehr gut gemachten Waffenrock, mit der Karte in den Weißen, unbefleckten Handschuhen, die Kugel treffen wird. — In einer Ecke des Salons nickt die Frau Ma jorin. eine gute, dicke Dame, in ihrem Lehnsessel ein. Sie kann sich so gut in seine Umrisse fügen, daß man sie mit dem Möbel verwechselt; stumm wie dieses, lächelt sie bei freudigen Anlässen, wie bei ärgerlichen und flickt ohne Unterbrechung die Wäsche ihres Mannes. Dieser scheint sie überhaupt nur als eine dicke, vom Gesetz gegebene Flickerin zu betrachten. der 4. (Würzburger) Division unter dem Grafen Durkheim und zwei Reiterdivistonen. Die rote Partei kommandiert der preußische Generaloberst von Bock und Polach, der langjährige Kommandierende in Karlsruhe. Ihm unterstehen die drei badischen Divisionen unter dem General Freiherrn Huene von Hoiningen, daS dritte bayrische Korps unter Gene, ral o. d. Tann und eine Kaoalleriedtoiston. Diese- an Reiterei schwächeren Partei ist der Luftkreuzer „Groß II" zugeteilt, der er die Dienste einer Ka- valleriedioision leisten soll. Die Leitungen diese« Luftschiffes zu erproben ist eine der interessantesten Aufgaben des diesjährigen Manövers. Im vollen Licht, die schönen Linien ihres Körpers dem Major entgegenstreckend, hört -ihm Frau Breton, seins junge Gattin, mit der schmei chelhaften Aufmerksamkeit, die alle Redner lieben, zu. Als Pariserin, durch die Kleinstadt verwirrt und nach zweijährigem Aufenthalt noch nicht ein gewöhnt, findet sie wirkliches Vergnügen an diesen Abendunterhaltungen, die einige Male der Woche seit drei Monaten die beiden Haushalte ver einigen. Aber — suchte der Major ihr Gefallen zu er regen — oder folgte er nur deni Bedürfnis zu glänzen, zu herrschen, das manche Männer em pfinden, die an Lobpreisungen gewöhnt sind und die die Gegenwart einer Frau immer anspornen wird? Inzwischen »ahm der Empfang sein Ende: alle. Offiziere waren aufgestanden und der Briga dier schüttelte in das Ohr des neuen Obersten sehr gerührt die schmeichelhaftesten Dinge in einer furcht baren militärischen Beredsamkeit. Dann gab es ein allgemeines Durcheinander aller Gläser, das klare Getön des aneinanderklingenden Kristalls, dem die Verwirrung des Aufbruchs folgte, das dumpfe Geräusch der zurückgeschobenen Sessel, der auf dem Kies nachschlcppenden Säbel, der durch die leichte Erregung des Alkohols voller schallen den Stimmen. Auf der Straße, als die scharfe Luft ihn im schnellen Gehen peitschte, wurde Breton wieder von seinen Befürchtungen befallen. Wie klein fühlte er sich vor seinem Major, tvie untergeordnet in allen Bedeutungen des Wor tes! Was wußte dieser Mann nicht für Sachen, trotz seiner anscheinenden Jugend! Wie wußte er sie geschickt zu erzählen, nüchtern und geistreich, bescheiden und fesselnd zugleich! Welche Kraftentfaltung, welche bewunderungs würdige Reife neben seiner uneingestandcnen, unbe wußten, aber wahrhaften Männlichkeit! Dieser Mann flößte ihm Achtung ein. Stets bei ihren Zusammenkünften sah er in ihm den Vorgesetzten und es war ihm, als müßte er selbst in seinem Salon mit ihm in Habachtstcllung" reden. Der Vergleich mit ihm reizte seine Eifersucht noch mehr auf und beschleunigte seine Schritte. Er erklomm zu je drei Absätzen seine Stiege, öffnete zitternd, von einer nervösen Erregung, die der Schnapsraufch noch verschärfte, durchschuttclt, seine Türe, er ging stracks in seinen Salon unö sah ausgebreitet auf dem Sofa, mit gespreizte« Aermeln, einen Majorsrock liegen. Ein Mann, der zwischen zwei, mit aller Wucht gegeneinander abgelassenen Zügen eingeklemmt wäre, könnte sich nicht mehr erdrückt fühlen, in der durch den entsetzlichen Stotz verursachten Starrheit nicht mehr vernichtet sein, wie es Breton ange sichts des Rockes seines militärischen Vorgesetzte« war. Zugeschnllrt, gepeitscht, durchrüttelt von der Wut des Mannes, des Gatten, der sich betrogen steht, wurde er durch eine Macht an seinen Platz gefesselt, die sich seinem Zorn entgegen stellte, durch die Autorität und den Respekt des höher» Ran ges, den ausgebrcitetcn Verschnürungen der Mon tur. Aus dem Nebenzimmer, von dem ihn nur eine einfache Portiere trennte, erscholl mitunter das Helle Lachen seiner Frau, von unterdrücktem Flüstern unterbrochen, wie von mit leiser Stimme ge gebenen Erklärungen. Breton lauschte. Das un bezwingliche Bedürfnis zu handeln, zu töten, je mand zu erdrosseln, wuchs in ihm, wie von seinem Herzen aus durch das Blut bis in die Finger spitzen getrieben. Aber mit den Füßen am Bo den festgenagelt, blieb er vor dem Waffenrock stehen. Wie kann man mit Worten dem, der es nie selbst empfunden hat, die unmittelbare Zauberkraft des Abzeichens, des goldenen Kragens auf dem unbeweglich daliegenden Rocke verständlich machen? Diese so unbedingte, so gewaltige Macht, daß ie als Grundlage, als Lebensbedingung der Armee betrachtet werden kann? Ein so tief eingewurzeltes Gefühl ist dieses, daß irgend ein alter in der Osfiziersmesse verspotteter, bewitzelter Offizier, sobald er mit den Abzeichen seines Ranges erscheint, der unangefochtene Vorge setzte ist, dem man wortlos und ohne einen kri tisierenden Gedanken gehorcht. Angst und Ehrerbietung, Bangigkeit und Re spekt, alles das flößt eine hängende Unisormkappe ein. Die Religion der Uniform ist der rührende Ausdruck dieses stumme» Gehorsams. Dieser Glaube an den Vorgesetzten, ohne den die Armee zusam menbrechen würde, wie ein Körper ohne Skelett. Dem Blut des Soldaten eingeimpft, ist dieser Glaube für ihn zu einer Lebensregel geworden, die sich den allgemeinen hinzufügt, unter denen wir leben. Er ist in ihm zur Natürlichkeit des Instinktes geworden, so stark, so beherrschend wie unsere stür mischste» Leidenschaften, und in dem Hirn des Unglücklichen, der unbeweglich vor dem Rocke stand, kämpfte er mit dem tollen Zorn des betrogenen Mannes. Wie lange dauerte dieser Kampf? Zwanzig Sekunden — eine Minute vielleicht? Endlich trug der Mann den Sieg über de» Soldaten davon. Breton machte einige Schritte und schlug die Portiere zurück, ... da saß friedlich beim Fenster die gute Frau Desardennes und weihte seine Frau in die heikle Kunst ein, auf einem der beiden Waf- 'enröcke ihres Mannes, die sie eigens zu dem Zweck heruntergebracht hatte, die Tressen wieder aufzunähen. Reste-Vorfte«. Erinnerungen einer Zurückgetommenen von Paula K a l d e w e y. „Die Reise gleicht einemSpiel", schreibt Goethe im Jahre 1797 an Schiller, „es ist immer Gewinn und Verlust dabei und meist von der unerwarteten Seite; man empfängt mehr oder weniger, als man hofft, man kann ungestraft eine Weile htnschlen- dern, und dann ist man wieder genötigt, sich einen Augenblick zusammenzunehmen. Für Naturen wie die meine, die sich gerne festsetzcn und die Dinge festhalten, ist eine Reise unschätzbar, sie belebt, be richtigt, belehrt und bildet." Allein trotz des Lobes, das der Dichterfürst dem Reisen zollt, war dies zu damaliger Zeit doch nur ein Privilegium bevorzugter Sterblicher. Ei gentlich holte man sich einzig und allein die gesell schaftliche Bildung im Ausland, die gelehrte da gegen suchte man daheim, in der stillen, abseits vom Weltgelriebe gelegenen Studierstube. Inzwi schen ist das Reisen fast Gemeingut geworden — kein Backsischche» und kein Tertianer, die nicht ihre Fcrienfahrt erwarten nick fordern. Diese Wandlung läßt sich am besten in den sogenannten „Fremdenbüchern" erkennen. Sie sind ein geistiger Ausdruck des Reiselebens, ein scharf geschliffenes Glas, das die im» Luufe der Jahr zehnte stvttgehabten Veränderungen deutlich wider spiegelt. Allerdings nicht das Fremdenbuch, Wie man es in den großen Hotels vorfwdet, wo der Reisende nichts weiter ist als eine Nummer — wer in ihm den Ausdruck persönlicher Anschauung oder gar originelle Gedanken sucht, der muß schon in ziemlich abgelegene Winkel flüchten und auch Zeit haben, die oftmals bereits vergilbten Seiten zu durchblättern. So enthält ein Fremdenbuch eines