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WeOin-GMckl WM Amtsblatt. Rr. 167. Sonntag, den 22. Juli 1906. 1. Beilage. Ko« Tode erstände«. Von unmenschlichen Leiden deutscher Seeleute berichtet ein Buch „Vom Tode erstanden* de- Geeste- münder Fischdampferkapitäns Georg Büschen, das die Erlebnisse der Mannschaft deS FischdampferS „Friedrich Albert* schildert: Am 14. Januar ging das Schiff von der Weser aus nach der Südküste Islands in See, um dem Fischfang obzuliegen. Fünf Tage später, in der Nacht vom 18. auf den 19., stieß der Dampfer bei JngolShöfdi auf Grund, und bei dem schweren Wetter war er dem sichern Untergange preisgegeben. Das einzige Rettungsboot wurde von den über das Deck rollenden Seen zerschmettert, aber nach einigen Stunden furchtbaren Wartens gelang es der gesamten Mannschaft, bei Ebbe teils schwimmend, teils watend den Strand zu erreichen. Dort jedoch harrten der Schiffbrüchigen schreckliche Leiden. Links und recht» versperrten Gletscherströme den Obdachlosen den Weiteimarsch, und nach einigen Stunden fruchtlosen Wanderns kehrten sie niedergeschlagen zurStrandungS- stelle zurück. Dort war der Strand schon besät mit Trümmern deS Schiffes, darunter glücklicherweise auch etwas Proviant, und resigniert bauten sich die See leute auS Fässern und Holztrümmern eine kleine Schutzwehr vor dem eisigen Winde und dem daher jagenden Sande. Bei der Morgendämmerung machten sich die Unglücklichen, mit dem kümmerlichen Proviant beladen, abermals auf den Weg und durchwateten diesmal einen der Gletscherflüsse, der ihnen den Weg verlegte. Mutig schritten sie in die weite Ebene hinein, die sich vor ihnen auSdehnte. Der Marsch war mühsam und beschwerlich, denn die dünn ge frorene Decke deS Sumpfes brach fast unter jedem Tritt durch. Aber man kam weiter — bis plötzlich ein Fluß, zu breit und zu tief, um ihn zu durch waten, dem Vordringen ein Ende machte. Es blieb nichts anderes übrig, als umzukehren, und mutlos „krochen* die 12 Männer durch die Dämmerung zurück nach dem Strande. Bei Ebbe gingen sie noch- mals an Bord, fanden dort noch etwas Brot und nahmen auch daS Stagsegel mit, aus dem sie ein Zelt bauten, in dessen Schutze sie die eisige Polar nacht zubrachten. Am nächsten Morgen wurde ein Rat abge halten und beschlossen, einige der ans Land ge spülten Fässer und Leinen mitzunehmen und zu ver suchen, aus diesen ein Floß zur Ueberschreitunq des Flusses zu bauen. Nach mehrstündigem Marsche kamen die Zwölf wieder an den Strom, aber der Versuch, ihn auf einem aus den vier Fässern zusammengesetzten Flosse zu überschreiten, mißlang. Mehrere der Unglücklichen wären beinahe ertrunken. Es blieb nichts anderes übrig, als noch mals zur StrandungSstelle zu gehen und mehr Fässer zu holen. Schweigend uud erschöpft zogen sie durch die grausame Kälte dahin, und erst eine kärgliche Mahlzeit, die sie am Ort der Strandung bereiteten, belebte sie etwas. Am nächsten Morgen, dem dritten nach dem Verlassen des Schiffes, mach ten die Aermsten mit ein paar neuen Fässern sich auf den Weg und diesmal gelang eS ihnen, den Fluß zu überschreiten. Die frische Hoffnung wurde aber jäh zerstört, als nach kurzem Marsch ein neuer Fluß den Weg verlegte; indes gelang e§, nach einigem Suchen eine Furt zu finden und durchzu- waten. Unermüdlich schritten sie weiter, eS war 10 Uhr abends geworden und noch niemand sprach vom Rasten, da versperrte abermals ein Wasser den Weg. Man beschloß, den Morgen abzuwarten und auf- und abtrabend, um nicht zu erfrieren, oer- brachten die Schiffbrüchigen eine schreckliche Nacht. Nach einem Frühstück auS Hartbrot und Schnee- wasser wurde wieder nach einer Furt gesucht, aber stundenlang vergeblich, bis ein Schneesturm anbrach und jeden weiteren Versuch zunichte machte. Mit den erstarrten Händen schichteten sie neue Schnee haufen auf, um etwas Deckung zu haben, und schritten am andern Morgen noch vor Sonnenauf gang flußaufwärts, um einen Uebergang zu finden. Einige Leute waren schon so entkräftet, daß sie van ihren Kameraden angefeuert und geschoben werden mußten. ES gelang, eine Furt zu finden, ebenso einen anderen Strom zu überwinden — da sank vor Erschöpfung plötzlich einer der Männer, der erste Maschinist Stiekler, nieder und verschied nach wenigen Stunden. Und noch zwei Begleiter ver loren die hilflosen Wanderer. Der Steuermann machte sich mit drei Matrosen als Pfadfinder auf, aber er und der Matrose Wesemann fanden auf der Irrfahrt in Sumpf und Moor den Tod und nur zwei stießen am anderen Tage wieder zu dem Haupthaufen. Vereint kehrt man jetzt um, zum dritten Male die StrandungSstelle aufzusuchen, denn der Mund- Vorrat an Hartbrot war verbraucht und man wollte an der StrandungSstelle nach neuem Proviant, der etwa an Land gespült war, suchen. Wie durch ein Wunder fand man die Unglücksstätte wieder und den erstarrten Fingern gelang eS, unter dem zusammen gewehten Schnee und Sand allerlei Holzreste und etwas Brot herauszuscharren. ES gelang auch, aus den Wrackresten ein primitives Boot zusammenzu schlagen, und dieses mit dem gefundenen Proviant Hinter sich schleppend brach man wieder auf. Auf beschwerlichem Marsch gelang eS den stechen wimmern den Gestalten die Flüsse zu überschreiten und mit wunden und geschwollenen Füßen, zähneklappernd und halb verhungert, Stunde auf Stunde zurückzu legen, bis am 30. Januar, 11 Tage nach der Strandung, endlich menschliche Ansiedelungen winkten. ES waren isländische Bauernhäuser, in denen die Aermsten die liebevollste Pflege fanden. Nach einigen Tagen der Erholung wurden die Schiffbrüchigen zu Pferde nach Reykjavik geleitet, von wo sie zu Schiff die Heimat wieder erreichten. Freilich einige erst nach Monaten, denn dem Heizer Wutze mußten beide Beine unterhalb deS - KnieL abgenommen dem Maschinisten Merkert und dem Heizer Lange sämt liche und den Matrosen Pittke und Hagemeier einige Zehen amputiert werden. Diese schrecklichen Leiden der Schiffbrüchigen gaben einem Wohltäter, dem Kaufmann D. Thomson in Reykjavik, Veranlassung, auf Skeidaraesandr ein SchutzhauS zu errichten, das allen Schiffbrüchigen als Zufluchtsort und Ausgangspunkt lür die Er reichung bewohnter Orte dienen soll. In dem Hause befinden sich Schlafkojen für 14 Mann, Proviant, eine Hausapotheke, Werkzeug, ein Segeltuchboot, Kompaß und Karten, Kleidungsstücke, zwei Schlitten, Laternen usw., sowie genaue Anweisungen, wie der unwegsame Küstenstrich Skeidaraesandr und Bruna- sandr mit seinen Sümpfen und Gletscherflüssen passiert werden kann. Auch sind Wegweiser aufgestellt. Mit Hilfe dieser Mittel ist eS der Besatzung deS kürzlich gestrandeten WeserschiffdampferS „Württem berg*, der am Skeidaraesandr verloren ging, gelungen, wohlbehalten Reykjavik zu erreichen. Serma««s1o». Von Ern st Feldern. (Nachdruck verboten). ES war zu der Zeit, da die deutsche Marine noch in den Kinderschuhen steckte. Zwar für den Uebersee-Handel bedeutete die Flotte schon etwas und der Schiffsverkehr in den Häfen der Hansastädte war ein sehr reger; aber die deutsche Kriegsflagge war jenseits der großen Wässer noch ein unbekanntes Etwas. Das Kauffahrteischiff „Johannes" war eben mit reicher Fracht aus Südamerika im Hamburger Hafen vor Anker gegangen. Kapitän Lorenzen brachte seine Papiere in Ordnung, rechnete mit der Reederei ab und beeilte sich mit dem Löschen der Ladung. Galt es für ihn doch so schnell als möglich in seine pommersche Heimat zu gelangen, wo seine geliebte Annemarie ihn schon so sehnsüchtig erwartete. Zwei lange Jahre dauerte nun das Verlöbnis schon; jetzt aber sollte wirklich und wahrhaftig Hochzeit gemacht werden. Deshalb hatte sich der Kapitän auch auS- bedungen, daß er eine Fahrt deS „Johannes* Über schlagen durfte und erst wieder zum Dienst einge zogen werden sollte, wenn das Schiff die zweite Reise antrat. Bis dahin konnten aber gut vier Monate inS Land gehen, sodaß eS reichlich Zeit gab, die Flitterwochen zu genießen. Hei, gab das ein freudiges Wiedersehn in dem pommerschen Stranddorf. Annemarie geriet schier außer sich vor Glück, und auch ihr Vater, der alte Magister, war hocherfreut, daß der Kapitän sein Wort gehalten hatte. Da ging eS denn bald vorwärts mit Aufgebot und Hochzeit, und nach Verlauf einiger Wochen schon gab eS ein schmuckes Frauchen Anne marie Lorenzen. Tage ungetrübtesten Glückes folgten. Man baute sich ein trauliches Nest und wenn abends beim Lampenschein der Kapitän sein „Garn spann* und von seinen Abenteuern zur See erzählte, da glühte Annemaries Köpfchen, und ihre Sehnsucht nach dem Dfeere und nach fernen Welten regte sich machtvoll So verstrichen die Wintermonate, und die Frühlingssonne ließ die Fluren ergrünen. Da brachte der Bricfbote dem Kapitän Lorenzen einen großmächtigen Schreibebrief mit einem großen Firmen stempel hinten auf dem Umschläge. „Brauch' ihn gar nicht aufznmachen," brummte der Kapitän, „'s ist die EinberufungSordre!" Dabei warf er einen scheuen Seitenblick auf Annemarie, um zu sehen, wie sie die Nachricht aufnehmen würde. Als das Frauchen stumm blieb, riß er den Umschlag auf und las: „Johannes" seeklar. Manufaktur- waren nach New-York, dort Ladung nach China. Hier Rückfracht nach Hamburg. Kapitän Mittwoch früh Seeamt melden.* „O je!" stöhnte Annemarie, „daS sind furcht bar weite Touren." „Ja," bestätigte ihr Mann, „bis zur Rückkehr wird der Winter herankommen." Da war Annemaries Entschluß schnell gefaßt. „Ich begleite Dich!" erklärte sie mit voller Ent- schiedenheit. „Der Himmel behüt'," wehrte Lorenzen ab, „Frauensleut' auf'm Schiff!" „Aber so hör' doch mal . . .* und Annemarie trat dicht an ihren Mann, zog ihn am Läppchen ihres Ohres und flüsterte ein paar Worte da hinein. „Dunnerkiel!" Der Kapitän riskierte einen Luftsprung. „Zwick' mich doch mal kräftig inS Ohr und sag' mir's nochmals!" Annemarie tat wie ihr geheißen. „DeS iS was annereS, ganz was anneres," meinte er dann freudestrahlend, „ich werde mit den Reedern 'n kräftigen Ton reden." Und so kam eS, daß Annemarie ihren Mann trotz der Widerspruches deS Magisters nach Hamburg begleitete. Und weiter kam eS, daß der Reeder die Vorschläge deS Kapitäns annahm, und schließlich kam eS, daß sich an Bord deS „Johannes* bei der Abfahrt des Schiffes nicht nur ein Arzt, sondern auch Frau Annemarie Lorenzen befanden. Die Frau Kapitän hatte eS bald zu einer Posi tion gebracht bei der Schiffsbemannung. Nicht mal die Seekrankheit hatte sie gekriegt, trotzdem im Kanal Frühlingsstürme wehten, die dem „Johannes* ge waltig zusetzten. So verlief die Fahrt nach New- York ganz glatt, und die Matrosen waren der An- icht, daß eS so glatt überhaupt noch nicht gegangen sei dank der Hilfe der Kapitänin Annemarie, an welche der Koch sein Departement schon von Beginn der Reise an abgetreten hatte. Die Amerikageschäfte waren bald zu aller Zu- friedenheit erledigt; die neue Fracht war verstaut und mit vollen Segeln steuerte der „Johannes* südlich. Kapitänin Annemarie mußte sich jetzt aller dings mehr Ruhe gönnen; aber noch immer versah ie ihren Dienst in der Küche. So vergingen Monate, und niemand befand ich wohler denn die Mannschaft des „Johannes*, rer schänden stillen Ozean durchquerte. Eines TageS war die Kapitänin Annemarie in ihrer Kajüte ver- chwunden. Der Koch hantierte wieder mit seinen Töpfen, und die Mannschaft räsonnierte über dar chlechte Essen. Na, zum Glück konnte das Elend nicht lange andauern; es mußte bald Land gesichtet werden. Der Kapitän war von nervöser Unruhe befangen; er befand sich immer auf dem Wege zur Frauenkajüte, die er auf Weisung des Arztes doch nicht betreten durfte. Da meldete die Wache Land: ein dünner Nebelstreifen schien am Horizont aufzu tauchen, — zugleich aber zirpte in der Kajüte ein dünnes Kinderstimmchen, und der Arzt stürzte zum Kapitän: „Gratuliere — 'n strammer Junge!" Da war der Jubel groß. Papa Kapitän wurde jetzt endlich der Zutritt gestattet. Als er wieder auftauchte, holte er aus dem Vorrat-raume ein paar dickbäuchige Flaschen hervor: „So. Kinner", meinte er und warf sich stolz in seine Baterbrust, „die Buddel hab' ich extra dazu aufgehoben. Braut 'nen kräftigen pommerschen Maitrank und trinkt auf das Wohl meines Herrn Sohnes." Das mußten die Braven denn auch kräftig ge tan haben; denn als Kapitän Lorenzen sich später seine Seekarte heroorsuchte, schwankten die Mann schaften mehr, wie eS der „Johann«" während der ganzen langen Fahrt je getan hatte. Der Kapitän aber machte folgenden Eintrag ins Schiffsbuch: „Am 29. Juli 186 . im Chinesischen Meer un weit Kap Varele und der Insel Sapota geb. ein Sohn dem Kapitän Lorenzen. Das Kind erhielt mit Rücksicht auf den Ort der Geburt die Vornamen: Varelius SapolenuS Johannes.* * * * Zwei Jahrzehnte waren seitdem vergangen. Die Stürme der Weltgeschichte waren über ven Kontinent gebraust, dort Staatengebilde zertrümmernd, hier neue aufrichtend. Deutschland hatte den Ausbau Krmchilbe Isenburg. Roman von Erich Friesen. 29. Fons. (Nachdruck verboten.) Als gegen ein Uhr die Gäste ihren Abschied nehmen, geleitet Dolores Günter und seinen Freund bis zur Treppe. Sie ist sehr bleich; aber ihre Augen strahlen. Beim Vorbeigehen an Bernardo Rosso, der mit drohender Miene Wache zu stehen scheint, macht sie eine leichte, mokante Verbeugung, während ihr Mund ihm spöttisch zuflüstert: „WaS meinst Du, Onkel? Jst's nicht fein, daß wir Herrn Horst wieder begegnet sind? Wie?" — Die Gäste sind fort, die elektrischen Lichter auSgedreht. In ihrem blauschimmernden Boudoir liegt Miß Harrison auf der Chaiselongue. Sie hat sich noch einmal Zeit genommen, daS leuchtend blaue Samt- gewaud abzulegen. Ihr Atem geht rasch und unregelmäßig. DaS Gesicht ist graubleich. Neben ihr kniet DoloreS. Die zierliche Gestalt umhüllt ein weiches Hauskleid von weißer Wolle. Zärtlich hält sie die kalten Hände der Leidenden in den ihren. „Liebe Edith, wollen Sie sich nicht umkleiden?" Miß Harrison schüttelt den Kopf. „Soll ich Ihre Zofe rufen?« Erneutes Kopfschütteln. „Oder kann ich etwas für Sie tun? Vielleicht ein GlaS Wein bringen oder etwa- frisches Wasser?" „Nein, nein, danke! Nur — ein paar Trop- fen —" und Miß Harrison deutet auf ihr Nacht tischchen. Hastig holt Dolores ein Fläschchen herbei, aus dem die Leidende einige Tropfen nimmt. Die Farbe kehrt wieder in die graubleichen Wangen zurück. Der matte Blick wird lebhafter, der Atem ruhiger „O mein Gott! Mein Gott, welche Qual!" stöhnt die Arme auf. DoloreS blickt noch immer mit angstvollen Augen auf die Freundin. „Wie leid Sie mir tun, liebe Edith I* Langsam steht Miß Harrison auf. Verzeihen Sie mir, daß ich Sie geängstigt habe DoloreS!" murmelt sie matt. „DaS Alter sollte die Jugend nicht mit seinen Schwächen quälen." „Aber — Sie sind ja nicht alt, Edith!" „Doch, doch, mein liebes Kind. Ich könnte lange Ihre Mutter sein. Ich zähle bald — fünfzig Jahre." Ein leiser AuSruf der Verwunderung entschlüpft DoloreS' Lippen. Sie will etwas entgegnen, etwas fragen; doch ein Blick auf Miß Harrisons schmerz- verzogeneS Gesicht läßt sie schweigen. Zärtlich schlingt sie den Arm um die schlanke Gestalt. „Warum lassen Sie sich immer von dem Onkel tyrannisieren?* fragt sie vorwurfsvoll. „O, ich Hobe es wohl bemerkt. Geben Sie ihm doch eins auf den Mund, wenn er Sie quält!" Forschend ruhen Miß Harrisons feuchtschim- mernde Augen auf dem schönen Mädchenantlitz. Und je länger sie hineinblickr in die lieblichen Züge, um so mehr beginnt in dem alternden Herzen sich das Verlangen nach Liebe zu regen — nach wirklicher, selbstloser, hingebender Liebe, die sie so lange, ach so lange entbehrt. Und plötzlich schlingt sie laut aufschluchzend die Arme um den Hals des jungen Mädchens und drückt den dunklen Lockenkopf fest an ihre Brust — so fest, als wolle sie ihn nie wieder los lassen. „Edith! Edith!" ruft Dolores aufs tiefste erschrocken. „Was ist Ihnen? Mein Gott, was haben Sie?" Doch schon hat Miß Harrison sich wieder gefaßt. Mit zitternden Händen streicht sie sich die Haare aus der feuchten Stirn. „Nichts, nichts, mein Kind. Ich bin nur ner vös von den Anstrengungen des Festes. . . Wie hübsch übrigens der junge Herr Horst ist! Sie brauchen nicht rot zu werden, liebe DoloreS. Sie haben ihn lieb, nicht wahr?" „Ja.* „Und er? . . . Ach, er liebt Sie leidenschaftlich! Seine Augen reden eine gar beredte Sprache.* „Vielleicht —* „Seid Ihr verlobt?* „Ja — daS heißt — eigentlich nicht . . . Heimlich — wissen Sie . . . Er ist ja nichts — rein gar nichts! Wie kann ich mich mit ihm ver loben!" — In der Nacht schläft Miß Harrison fast gar nicht. Der Anfall war diesmal zu stark gewesen. Noch stundenlang spürt sie seine Nachwirkungen. Und doch ruft sie nicht ihre Zofe. Still, allein kämpft sie mit dem unsichtbaren Feind, der ihr dqS Leben zur Hölle zu machen droht. Und wenn die Schmerzen gar zu heftig sind, wenn ihr fast der Atem vergeht, wenn sie die bebende Hand aufs Herz preßt, um das wilde Pochen zu dämpfen — dann klammert sie sich in Gedanken an den Augenblick, da DoloreS in einer plötzlichen Anwandlung von Zärtlichkeit den Arm um sie ge schlungen und liebevoll zu ihr gesprochen. Wie ein Lichtbild steht dieser Moment vor ihrem geistigen Auge. Und ihr liebearmes Herz umschließt mit allen Fasern daS Wesen, daS ihr diesen kurzen Traum des Glückes geschaffen . . . Am nächsten Morgen ist Miß Harrison, völlig gegen ihre Gewohnheit, bereits ganz früh auf. Gemeinsam mit DoloreS nimmt sie das Frühstück zu sich. Mit warmen Worten der Anerkennung spricht sie von Günter und seinem offenen, sympathischen Wesen bis Dolores, sich die Ohren zuhaltend, in komischen Entsetzen ruft: „Um Himmels willen, hören Sie auf, Edith! Sie machen ihn mir sonst unleidlich!* Und wie mit Blut übergossen, rennt sie auS dem Zimmer. Professor Wallhoff ist nicht wenig erstaunt, als bereits vor zehn Uhr eine elegante, tiefoerschleierte Dame sein Atelier, daS für solch frühen Besuch nicht eingerichtet ist, betritt. Mit einer unbeholfenen Entschuldigung bietet er dem unerwarteten Besuch einen Stuhl an, indem er gleichzeitig Günter, welcher jeden Vormittag bei ihm arbeitet, bedeutet, sich zurückzuziehen. Doch die Dame will davon nichts wissen; ihr Besuch gelte eigentlich Herrn Horst. (Fortsetzung folgt.)