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nach Mitteln und Wegen, die nirgends auftauchen wollen. Joe erhebt sich und geht vor dem Zelt unruhig auf und nieder. Das provisorische „Elektrizitätswerk" läßt die Beleuchtungskörper einmal dunkel und dann wieder Heller aufleuchten. Die „Stadt" schläft. Es ist schwül im Paradies. Die Atmosphäre bekommt einen stickigen Druck, der an die Schläfen preßt und ein dumpfes Gefühl im Kopf erzeugt. Sie stellt sich neben ihn hin. Sie stützt dabei ihren Kopf in beide Hände und stöhnt. „Was ist los?" fragt er besorgt und legt einen Arm um ihre Schultern. Anstatt zu antworten, wankt sie hin und her, als sei ihr nicht ganz Wohl. „Was ist dir?" fragt er noch einmal und spürt gleich zeitig ein übles Gefühl im Magen. Ein Schwindelanfall droht ihn zu Fall zu bringen. Doch er fängt sich im letz ten Augenblick auf, gibt sich einen Ruck, sammelt seine Gedanken, die in dunkle, unbekannte Winkel flüchten wollen... „Was ?" sagt er ganz laut und rüttelt Alice, daß es wie ein Erwachen durch ihren Körper geht. „Was ?" fragt sie benommen. „Bin ich verrückt geworden — oder bewegt sich der Boden dort wirklich — —?!" Er starrt auf einen be stimmten Punkt, einige hundert Schritte talwärts, wo die Goldgräber einen tiefen Trichter gesprengt haben. „Was -?" Er schüttelt sie unsanft, krallt sich in ihrem Arm sest, um sie bei Besinnung zu halten. „Hörst du nicht —?!" „Donnern!" antwortet sie mechanisch. „Das Poltern — das Rumoren — riechst du nichts?! Wie Schwefel — Giftgas... Der Vulkan —!" brüllt erlös. Er lacht auf. Es ist ein Frohlocken und ein Angst schrei zugleich. „Der Vulkan bricht los —I!" schreit er wieder und wieder. „Und die Menschen —?!" fragt sie. Sie fährt mit der Rechten nach ihrer Kehle. Beide keuchen laut „Du muht sie warnen!" „Warnen Aubin ?!^' „Auch Aubin — alle!" Er sieht sie betroffen an. „Und du -?!" „Ich warte!" „Du wartest —?!" „Ja — aber geh jetzt — du mußt —!!" Er nimmt sich zusammen und nickt, greift nach seinem Gewehr, schießt neunmal in die Nachtluft hinein. Es hallt unheimlich von den Bergwänden wieder, gibt ein vielfaches Echo, das in dem kaum hörbaren Rumoren unter der Erde fortklingt... Er läßt sie stehen, ruft ihr im Davonlaufen noch einige wie Befehle klingende Worte zu. Mit ungeheuren Sätzen setzt er über alle Hindernisse hinweg, über Stock und Stein, über Gräben und Erdspalten, die sich da und dort auftun und schauerlich grollen... Mit einemmal gibt es ein riesiges Getöse, als sei ein Blitz direkt vor ihm in einen Rresenbaum gefahren und habe ihn in der Mitte auseinandergerissen. Es dröhnt und poltert. Es splittert und kracht... Es zischt und braust wie bei einem Dammbruch. Eine Feuersäule steigt haushoch empor, keine zwanzig Schritte neben ihm, verschlingt ein großes Stück Erde.>. Ein heißer Aschenregen rieselt nieder... Millionen Funken sprühen gleich einem ungeheuren Feuerwerk in der Luft, fliegen wie ein Meer von Glühwürmchen... Joe läuft, ohne sich umzusehen. Er wundert sich, daß er noch am Leben ist, daß ihn die giftigen Gase nicht er sticken. Jetzt kommt er an das erste Goldgräberzelt. Ein Mensch schaut ihn mit verwundertem, dummem Gesicht aus dem ZeltMitz, flucht schwerfällig: „Wer zum Teufel hat eine Kiste Dynamit auffliegen lassen was für ein gottverdammter Narr es stinkt verdammt hier...!" Joe schlägt ihm ins Gesicht, schreit: „Wach' auf, nimm dich zusammen — der Vulkan ist losgebrochen!" und rennt weiter zum nächsten Zelt, zur nächsten Block hütte. Er rennt bald dem Polizisten in die Arme, der in voller Uniform „nach dem Rechten sieht" und daS gleiche wie Joe versucht. Er ist ein famoser Kerl und beweist den heldenhaften Ruf der REMP. der Königlichen Berittenen Kanadischen Polizei. Das Tosen und Poltern hat jetzt ein wenig nach gelassen» aber die Panik ist zu groß. Menschen schreien und kreischen durcheinander. Es krabbelt in den Köpfen, in den Armen, in den Beinen und Händen, in den Zehen- und Fingerspitzen... Die Natur hat einen Krieg gegen sie angesagt, und nun rennen sie — rennen sie in breiter, aufgelöster Front, vergessen ihr Gold, ihr Para dies, ihre kleinen und großen Wünsche und Begehrlich keiten des Alltags — . Joe läuft nach Fred Aubins Bungalow. Er wird oft zusammengerissen, geschunden und von wahnsinnigen Menschen geschlagen, getreten und gebissen. Das große Blockhaus taucht vor ihm auf, er kommt näher und näher heran, kämpft sich durch die vom „Para dies" nach den Bergen strebenden Scharen. Noch hundert Schritte! Er keucht, röchelt wie ein Sterbenskranker... schnappt nach Luft... „Gase!" bringt er ganz heiser hervor und macht, das Hoffnungslose seines Unterfangens erkennend, mit letzter Kraft kehrt. Im Umdrehen erfassen seine Augen noch zwei Gestalten, die leblos auf der Veranda des großen Blockhauses liegen... Er kann sich nicht mehr um sie kümmern. Jetzt denkt er nur noch an Alice, an das Vorwärts, das Ret tung bringt und aus dem Chaos hinausstrebt... Hinter ihm stürzt das große Blockhaus langsam in sich zusam men, als würge es ein scheußliches Ungeheuer hinab... Zwei Gestalten rutschen in einen fauchenden Schlund... Einige Goldbrocken kullern über die Verandabretter... Das Haus neigt sich auf die Seite... Die Stämme krachen auseinander... Eine Flut von Golksäcken bricht hervor und erstickt das letzte bißchen Leben, das in Aubin und seiner Geliebten zuckt...! „...Alice... Alice... Alice!!" schreit Joe, während er läuft und springt. Als ob sie ihn hören könnte in dem allgemeinen Donnern und Poltern! Er fällt hin, bleibt mehrere Minuten liegen, seine Hände krallen die goldhaltige Paradieserde, seine Zähne beißen in einen entwurzel ten Grasbüschel. Aber die letzte Kraft ballt sich zu einem nochmaligen Lebenswillen zusammen. Joe erhebt sich, fährt sich über Gesicht und Brust und wankt voran — immer Schritt für Schritt. Er findet den richtigen Weß zum Berghang, wo das Zelt stand, wo sie wartet... Sie hätte bis zum Ende der Welt da gewartet, und empfängt ihn in ihren Armen. „Joe!" Er will ihr antworten, aber seine Stimme versagt den Dienst. Die Zunge ist schwer und geschwollen. Der Rachen scheint wie verbrannt. Sie führt ihn den zertrampelten Bergpfad aufwärts, schnell, aber ruhig. Sie weiß, daß sie jetzt nicht mit ihm sterben muß. Droben auf dem Berg bleiben sie stehen. Aber sie schauen nicht zurück, sondern in die bläulichen Schnee felder, die sich endlos vor ihnen ausbreiten. Der entfesselte Erdgeist hinter ihnen poltert wie cin rasender Unhold und zerstört die letzten Reste des von Menschenhand schon verwüsteten Paradieses. Schutt, Asche und wandernde Felsblöcke bleiben zurück. Zwei Menschen gehen vorwärts in den neuen Tag hinein, der verheißungsvoll im Osten aufglüht. — Schluß — Ein Fröner wir- rebellisch Von Friedrich Sack. (Nachdruck verboten!) Im Wirtshaus zu Niederhainbach ließ an einem Herbstabend die Tür den bereits grauhaarigen Leinweber Gottlieb Beutner ein. Er stieß, stehenbleibend, die spitze Nase im blassen, knochigen Gesicht erst rechts und dann links, ehe er mit müdem Schritt an einen der Tische ging und sich dort niederließ. Ihm auf dem Fuße folgte in ab gewetztem, blaßblauem Nock mit ehemals blanken Knöpfen der Büttel Hans Christoph Ott. Er setzte sich dem Leine weber gegenüber und bestellte wie dieser bei dem heran kommenden Wirt einen Schnaps. Die fünf bis sechs Bauern, die sich in der Wirtsstube befanden, drehten ohne Verwundern die Köpfe nach dem Paar. „Die letzte Oelung, hä?" fragte der Melchior Fenzlein herüber. Sein Nachbar, der Balzer Seeber, lächelte ermun ternd, schüttelte aber zugleich bedauernd den Kopf. „Alles in Ordnung!" entgegnete der Büttel. „Der gnädige Herr kann solche Rebellion nimmer hingehen lassen. Seit drei Tagen ist der Beutner nicht zum Erd äpfelraustun gekommen. Dreimal bin ich vergebens bei ihm gewesen. Da muß der Herr Baron endlich ein Excm- p«l statuieren. Heut abend kommt der Beutner ins Loch." „Hali dein Maul, Hans Christoph!" setzte der Bauer- Peter Röhrig auf diese Erklärung. „Du bist gar nicht gefragt." Der Büttel zuckte die Achseln. Der Weber schnaubte dreimal heftig auf, dann trank er aus und stieß das unge füge Glas auf den Tisch. „Alles, was recht ist, Nachbarn, drei Tage in einer Woche ist zuviel. Ich hab doch meine eigenen Erdäpfel raustun müssen. Ist bei dem langen Regenwetter höchste Zeit. Sie fangen ja schon an zu faulen. Wenn ich dafür soll büßen, so gibt's keine Gerechtigkeit mehr, auf Erden nicht — und im Himmel auch nicht!" „No, no!" begütigte der Fenzlein. „Mußt nicht gleich so lästerlich aussallen, Gottlieb!" „Ihr habt gut reden, ihr Bauern!" sagte dieser und sah sich in der Runde um. „Ihr habt die Fron abgelegt, damals, als sich der Baron vor dem Napoleon seinem Ge setzbuch hat gefürchtet. Bloß wir armen Häusler müssen immer noch dran glauben." „Auch das wird noch kommen, Gottlieb!" Der Leineweber stieß ein bitteres Lachen aus. „Was hab ich davon! Bis dahin bin ich längst im Schloßkeller verfault." „Dumm's Zeug!" brummte der Büttel. „Erstens kriegst du bloß fünf Tage, und zweitens bin ich kein Un mensch und werd' dich verpflegen, wie sich's gehört. Da gibt's nix! Einen guten Strohsack hab ich dir auch schon hingelegt." Der arme Sünder langte nach seiner Kappe und war mit drei langen Schritten draußen. Der Büttel schnaufte hinterher. „Melde gehorsamst, Herr Baron, der Leineweber Beutner hat heut den ganzen Tag nix gegessen!" Der Freiherr von Harras hob sein rötliches Gesicht mit den etwas schwimmenden, blaßblauen Aeuglein von dem neuesten Roman der Johanna Schopenhauer und starrte seinen Polizeidiener eine Weile an, ehe er begriff, was jener gemeldet hatte. Als ihm Las klargeworden war, warf er das Buch auf den Tisch und pslanzte sich vor dem Ott auf, während sein Kopf noch röter wurde. „Was soll diese Albernheit!" fuhr der Baron den Büttel au. „Will ich einen täglichen Rapport über das Be finden von diesem obstinaten Kerl? Ab!" „Melde gehorsamst, Herr Baron, der Leineweber hat auch heut den ganzen Tag nix gegessen!" Der Freiherr von Harras war eben von der Rebhuhn jagd heimgekommen. Aus die Meldung stutzte er einen Augenblick. Dann meinte er wegwerfend: „Wird schon fressen, wenn er Hunger kriegt, der Lump will Wohl durch Fasten seinen Dickkopf kurieren! Gar nicht übel, das! Wenn er aber denkt, daß er mir einen Tort damit tut. . . Hahahaha!" „Melde gehorsamst, Herr Baron, der Leineweber Beutner ist verhungert! Er rappelt sich nimmer!" Das Glas siel um, und weithin färbte der Burgunder die Tischdecke rot. Der Freiherr von Harras griff nach seiner Kehle, als sei ihm dort etwas steckengeblieben. Sein Gesicht wurde fahl. „Was sagst du da, Ott! Das wäre doch der Teufel! Himmelherrgottsakrament, ich bring den Kerl um, wenn er mir beim Obergericht und womöglich beim Herzog Molesten machen will!" „Er ist ja schon tot, Herr Baron!" Dem Büttel zitterten Hände und Knie. Der Freiherr sank hilflos auf einen Stuhl. „Ja, was machen wir denn da? Und wer tobt und heult denn da unten im Treppenhaus?" „Das wird Wohl die Gretlies sein, dem Leineweber seine Frau. Sie muß wohl schon davon gehört haben. Ein paar Bauern sind auch schon da, samt dem Schultheißen." „Großer Gott!" Der Freiherr griff sich an den Kopf. Er rannte bereits die Treppe hinab. Im Flur flatterte ein roter Weiberrock wild auf ihn zu; ein Paar weit aufgerissene, blutunter laufene Augen sprühten ihn verzweifelt an, und aus einem zahnlückigen Mund gellte es: „Mörder!" Ott war mit der Laterne zur Stelle und lenchtete voran. In einem hohen, luftigen Gelaß, das erst vor wenigen Tagen von überzähligen Weinflaschen geräumt wordeu war, lag auf dem Strohsack, mit einer groben Wolldecke zugedeckt, der Leineweber Gottlieb Beutner und regte sich nicht mehr. Die Augen waren geschlossen. Die spärlichen Haarsträhnen hingen ihm in die Stirn. Blasser noch war er als sonst, und spitzer war seine Nase. Die Gretlies warf sich hemmungslos aufheulend und wimmernd über den Leichnam. Der Freiherr lief mit kur zen, schnellen Schritten im Gemach hin und her, bei seiner behäbigen Fülle ein ungewohnter und erschreckender An blick, und die Männer aus dem Dorfe standen mit finste ren Gesichtern beiseite und sahen den Baron böse an. „Herr Baron", sagte schließlich der Schultheiß und er hob seine Stimme lauter, als er sonst mit dem gnädigen Herrn sprach, „das ist ein Fall, der natürlich nicht im Ort unter uns bleiben kann. Mein Amt zwingt mich, ihn wei terzumelden, samt allen Umständen, die dabei vorgefallen sind." „Gnädiger Herr hätten besser getan," murrte der Bauer Wieprecht grollend in seinen Bart, und es klang dem Freiherrn wie das Donnern eines heranziehenden vernichtenden Unwetters, „wenn gnädiger Herr damals auch die Fronen der Hintersättler und Häusler aufgehoben hätten. Dann wäre so etwas Grauenhaftes nicht vorge kommen." Der Freiherr von Harras hielt in seiner ruhelosen Wanderung an und blieb vor dem Wieprecht stehen. „Hätten! Hätten! Ja! Ja! Aber sagt selber, Wiep recht, womit hätten diese Leute die Handdienste und die Jagdfron ablösen sollen? Das wäre ihnen doch gar nicht möglich gewesen." „Mag sein", knurrte der Bauer Fenzlein. „Ich sollte aber meinen, die Zeiten wären vorbei, daß ein so reicher Herr umsonst für sich arbeiten ließ." Darauf versank der Freiherr in sich selber. Als ob er immer noch nicht glauben könne, was sich zugetragen, wandte er sich wieder an den Kerkermeister: „Ist denn gar keine Hoffnung?" „Ich habe ihn gerüttelt und gezwickt und ihm eine Feder vor die Nase gehalten. Da war kein Lebenszeichen mehr." Der Baron stierte in eine Kellerecke, und beim Schein der Laterne war es, als glitzere etwas in seinem linken Augenwinkel. Schauerlich gellten ihm die Schreie der Gretlies in die Ohren. „Ihr Männer!" sagte der Baron schließlich. „Was geschehen ist, ist nicht mehr ungeschehen zu machen, und so Will ich verantworten, was ich nun eben verantworten muß. Aber bei Gott! Ihr Männer", und er hob feierlich die Rechte gegen die Kellerdecke, „wenn ich gewußt hätte, daß sich's der arme Schelm so sehr zu Herzen nehmen würde, ich hätte ihm die Fron für immer erlassen. Und wenn ich ihn damit wieder lebendig machen könnt« —" Da schob der Leichnam die heulende Gretlies beiseite, richtete sich auf und sprach: „Das soll ein Wort sein, gnädiger Herr!"