Volltext Seite (XML)
Sonnabend, den 23. Juli 1938 Pulsnitzer Anzeiger — Ohorner Anzeiger Nr. 170 Seite g Die Leibesübungen entsprangen immer dem natürlichen Drang und Trieb nach körperlicher Bewegung und Geschicklichkeit als Aeußcrung eines frohen Menschentums im selbstsicheren Gefühl der Gesundheit, Kraft und Schönheit. Die Erkenntnis der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit führte vom unbewußten Trieb zum planmäßigen Betrieb zum Zwecke der Gesunderhaltung, der Wiedergesundung, der Uebung der Le bensfreude, der Förderung der Körper- und Lebenstüchtigkeit zu Zeiten fo sehr, daß der gesunde und natürliche Kern der Leibes übungen, geboren qus dem Unterbewußten und Tricbmäßigen, ganz und gar verdeckt oder sogar ertötet wurde. Das führte zur Mißgeburt des Muskel protzes, zur Einseitigkeit, zur völligen Ent- geistigung. Von diesen Züchtungsergebnissen sind wir heute freilich wenig erbaut. Kein Wunder, wenn in den verflossenen Jahr hunderten sich der Geist gegen diesen „Kör per" auflchnte und eben wiederum seiner seits das andere Extrem, nämlich das des geistcsgroßen Schwächlings, zeigte — wenn Körperlichkeit mit Sündhaftigkeit gleichge- setzt wurde. Wir haben noch selbst die Zeit erlebt, wo beide Grundsätze miteinander im Streit lagen, wo das gewichtige Alter sich in die eine, die vorwärtsstürmende Jugend sich in die andere Waagschale warfen. Was ...ckfen da alle erhobenen Zeigefinger derAutoritäts- gewalügen und Erzichungsbeflissenen. Was besagten uns Einwände wie: „Wir sind auch ohne den Sport groß geworden!" Wir sind auch „so" groß geworden — jawohl! —, ohne es bereu zu müssen, in sportlicher Beziehung sozusagen als Selfmademan, denn wer kümmerte sich schon um uns. Dann kam in Deutschland auch im Sport die Zeit der Scheinblüte, des leidigen Ver bands- und Verbändchenwesens, der Ziel- und Haltlosigkeit, der Entartung und Ent nervung in Materialismus und Indivi dualismus. Zunächst wuchs zahlenmäßig die Sportbewegung ins Riesenhafte, dann aber trat etwa um 1925 Stillstand ein und dann immer schneller der Rückgang, in dem sich die verherrenden Auswirkungen des Ungeistes der Zeit offenbarten. Viele selbst verschuldete Ursachen brachten den vielleicht zu schnell zu herrlicher Blüte gelangten deutschen Amateursport hart an den Rand des Ruins. Die ganze innere Morschheit, versteckt hinter der verlogen grinsenden Maske von Geschäftemacherei, Rekordrum mel und Startum, trat immer offener zutage. Die ordnende, neu aufbauende starke Hand des Führers war 8uch hier die Ret tung. So wurde der einheitliche Block der geschlossenen deutschen Sportfront im Reichsbund für Leibesübungen geschaffen, der Sport rm Staat verwurzelt, zu einem erstrangigen Erziehungsfaktor bestimmt und entsprechend gefördert, verwoben als eine der lebenswichtigsten Wirkzellen im Volks- und Staatskörper. Deutsche Leibesübungen sollen die charak teristische Lebensform deutscher Kultur wer den, unentbehrliches Bildungsgut für die Jugend, darüber hinaus selbstverständliche und liebgewordene tägliche Uebung und Gewohnheit des ganzen deutschen Volkes zu seinem Wohle. Von Wilhelm Auffermann Photo: Schirner — M. Der Buchhalter Flechsig hat Urlaub. Drei Wochen. Die Großstadt hat ihm das letzte Quentchen Kraft genommen, nun darf er sich erholen. Soll neue Kraft stapeln für den Segensudler Mammon. Aber er stapelt Langeweile? Langweilt sich tödlich. Willen los geht er am letzten Tag spazieren. Ver geht sich, kommt an die Peripherie der Stadt. Es lockt ihn hinaus. Etwas benom men duckt er sich, aber dann ist er ohne Furcht. Läßt die Stadt hinter sich. Das erste mal nach langen, langen Jahren. Land ist da. Felder, Wiesen, Wälder und Heide, und über allem Sonne. Und über der Sonne breitet sich der Himmel aus, eine blaue gläserne Glocke. Umfriedet die Stätte, wo Mensch und Tier von den Früchten der Erde leben. Leise bläst der Wind die Aehren der Felder, dann rauschen sie gleich dem Meere. Sie singen in den Himmel hinein, lauter und immer lauter. Und neben den gleiten den Wellen der Halme läuft aufgeregt Herr Flechsig und hat das alles nicht geahnt. Läuft verblüfft das weiße Band der Straße. Eine wunderliche Straße, bedeckt von Stei nen, Laub und Lehm. Sie meidet le Stadt, als sei sie ein Sonderling und weiche der Frage aus: Wohin führst du, alte Straße? Entscheide dich, nimm Richtung an! Man will auch dein Ziel kennen. An Hecken und Sträuchern läuft Herr Flechsig vorbei, die rote Blüten tragen, ge reifte, schwarze Beerenbüschel, deren Namen er nicht kennt. An einem hölzernen Heiligen. Der lächelt verwundert unter seinem Hei ligenschein, predigt dem aufgeregten Wan derer Demut und Ruhe und sieht auf die Straße, als nickte er den vielen spitzen Steinen zu: Verschont mir den alten Buch halter! An eine Wiese. Ein Mädchen schneidet Kraut für die Ziegen. Sie schreitet langsam durch das taufeuchte Gras. Wenn sie sich niederbeugt mit der Sichel, dann berühren ihre Zöpfe die Blumen und Gräser. Flechsig bleibt stehen. Sieht zu. Er hört den Ruf eines Vogels über seinem Scheitel, den Jubel der kleinen Kreatur, der jauchzend über die Erde schwillt. Er will dem Mäd chen etwas Liebes sagen. Weiß nicht was. Er sagt: „Wieviel verdienst du?" Erstaunt sieht ihn das Mädchen an. Da geht er ver legen weiter. Weiter seitwärts macht ein Bauer einen Streifen Heide zu Ackerland. Sein Kittel ist grob gewebt. Er geht hinter dem Pfluge, gekrümmt, und spricht zuweilen mit seinem Pferd. Als er rastet, wischt er sich den Schweiß von der Stirn. Da fragt ihn Flechsig: „Darf ich's auch einmal versuchen?" Der Bauer lacht froh und nickt: „Man muß nur fest den Griff drücken." Und Herr Flechsig legt so fest die Hand um den Griff, daß weiße Streifen in ihrer Haut erscheinen. Er zieht die Furche aus, dreht den Pflug und stößt neuerdings das Eisen in das Erd reich. Beugt sich tief, um sich von dem Rau schen erfüllen zu lassen, mit dem die braune Erdscholle sich wendet. Sein Blick ist nach innen gekehrt, mit seherischer Inbrunst der krummen Furche zu gerichtet, die er zieht. „In drei Jahren vielleicht, daß hier Korn wächst", murmelt der Bauer. Vom Schwung des Hügels scheint Flech sig, der alte Buchhalter Flechsig, wie der Sonne entgegengehoben, vom Licht die ge krümmten Schultern gebadet, in einfacher Klarheit biblischer Handlung. „Und aus Korn wird Brot", sagt er zu sich selbst. Weiter wandert er. Das Dorf taucht auf. Wie mit offenen Armen kommt es ihm entgegen. Ein richtiges kleines Dorf mit bemoosten Hütten, versonnten Häusern und kleinen Höfen und allem Gelebe. Wie ein Aquarell, von Kinderhänden gemalt. Da meckern die Ziegen und Schafherden über die Straße hin, da schnaufen unruhige Kühe, die zur Tränke wollen. Aepfel und Birnen fallen in ihren Staub, Kinderspie len. Und doch trägt sie auch Leid als Last auf ihren Schultern. Flechsig atmet tief. Ihm wird die Straße ein offenes Buch voll kleiner Geschichten, voll süßer Stille. Aus den Häusern an beide« Seilen flat tern sie, aus Türen und Fenstern. Aus den Bäumen, die wohl nachts im Mondschein klingen. Stur lesen muß man können, Hier, wo Tagelöhner neben Bauern wohnen, wo Handel und Behörden fehlen, hier lebt man unvcrloren in eigener vorurteilsfroher Art. Flechsig liest die Geschichten mit der Seele, beinahe traurig. Traurig um ver lorenes Gut, das er nie besaß. Er liest sie ganz langsam. So langsam, wie er die Straßen durch das Dorf schlendert. Er ver gißt sogar aufß Schreiben der Ansichtskar ten. Der Kirchturm singt ein Glockenlied. Als er umdreht und die Straße zurück wandert, kriechen ihm Tränen über die ver- falteten Backen. Das Schlimmste ist, daß das Herz in der Brust wächst und weh, so unendlich weh tut. Es will wohl klopfen wie in der Jugend, und kann nicht mehr. Hinter seinem Rücken kräuselt Herdrauch vom Dorf aufwärts und winkt ihm nach. Kilometerstein um Kilometerstein wan dert er schleppenden Schrittes zurück. Dann liegt die Stadt vor ihm, grau und staubig, endlos grau aus ausgetürmten Steinen. Giftiger Dampf qualmt aus den Fabrik schloten, verdunkelt den Himmel. Er ver schwindet darin mit seinen Tränen. Tags darauf ersucht Flechsig um Ur laubsverlängerung. Wird abgewiesen. Da sitzt er am Schreibtisch, und die Feder zap pelt in seiner Hand. Seine zuckenden Finger nesteln im Nichts am Weh um Verlorenes.. Nicht wegen des Urlaubs... Er weiß mm, daß er sein Leben versäumt hat.