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«MiMWM MMN. * Amtsblatt. Sonnabend, den 10. November 1900. Beilage. Nr. 261 Die chinesischen Wirren. Dem „Ostasiat. Lloyd" sind mit Bezug auf die Ermordung des deutschen Gesandten Freiherrn von Ketteler folgende Mitteilungen zugegangen: „Wie wir aus zuverlässiger Quelle erfahren, war Freiherr von Ketteler in der letzten Zeit keineswegs mehr pcr8onn §rata bei den Ministern des Tsungli-Namens. Aufsallenderweise war daran nicht am wenigsten der Umstand schuld, daß von Ketteler chinesisch sprach. Bei den Konferenzen auf dem Tsungli-Aamen soll es nicht selten vorgekommen sein, daß der Gesandte seinem Dolmetscher, der mit den üblichen Höflichkeits- Phrasen das Gespräch einleitete, um erst allmählich auf das eigentliche Thema zu kommen, Plötzlich ins Wort fiel und nun selbst mit weniger zierlichen, aber um so unzweideutigeren Phrasen gleich „in meclm8 ras" ging. Das konnten die Chinesen nicht vertragen, sie fühlten sich durch diese Art der Behandlung gekränkt und fingen an, Herrn von Ketteler leidenschaftlich zu hassen. Ein Vorfall aus der allerletzten Zeit schlug dann dem Fasse den Boden aus. Freiherr von Ketteler hatte wenige Tage vor seinem Tode eigenhändig einen Boxer in der Legationsstraße zum Gefangenen gemacht und nach der deutschen Gesandtschaft gebracht. Er theilte dies dem Tsungli-Iamen mit und forderte, daß sofort einige Mitglieder des Tsungli-Damen auf der Gesandtschaft den Boxer zur Exekution abholen sollten, andernfalls er selber den Gefangenen erschießen würde. Thatsächlich kamen auch einige höhere Beamte auf die Gesandtschaft, darunter angeblich auch der Fremden hasser Hsü-t'ung. Bei dieser Gelegenheit soll der Gesandte Hsü-t'ung offen ins Gesicht gesagt haben, daß er und Prinz Tuan die Häupter der Boxer seien. Hsü-t'ung und die anderen brachen in schallendes Ge lächter aus und empfahlen sich. Zwei oder drei Tage später war von Ketteler erschossen. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, um hier Ursache und Wirkung zu kombiniren. Jedenfalls kann jetzt, nachdem dieser Vorfall bekannt geworden ist, kein Zweifel mehr da rüber bestehen, daß die Ermordung unseres Gesandten von der regierenden Partei befohlen war. Sie war der wohlvorbereitete feige Racheakt der sich durchschaut fühlenden Häupter der fremdenfeindlichen Bewegung. Auf diese Art ist auch das um zwei Tage verfrühte Telegramm über die Ermordung Kettelers erklärlich." Wie dem „Standard" von gut unterrichteter Seite gemeldet wird, beabsichtigt die deutsche Regierung keinen Falles, ihre Truppen dein nach Singaufu ge flohenen Hofe nachfolgen zu lassen, beabsichtigt viel mehr nur, demselben die wichtigsten Hilfsquellen, da runter den Bezug der Seezölle und der Tribute, ab zuschneiden, wobei das Berliner Kabinett aus die Unterstützung der andern Mächte rechnet. Ueber die neuerlich von den Pekinger Gesandten vereinbarten Zusätze zu den französischen Vorschlägen bringt der Pariser Berichterstatter der „Moruing Post" folgende Aufschlüsse: Nebeu der Aufrechthaltung einer ständigen Besatzung von 2000 Mann zum Schutze der ausländischen Gesandtschaften sollen die Gesandt schaften befestigt werden und es soll keinem Chinesen gestattet sein, das Gesandtschaftsviertel zu bewohnen. Die letztere Bestimmung soll hauptsächlich den Ge sandten eine Handhabe verleihen, die Chinesen aus ihrem Viertel auszuweisen. Die Bestimmung über die Schleifung der Takuforts soll allgemeiner gefaßt werden, um die militärische Kommission zu ermächtigen, alle sonstigen strategischen Hindernisse bis nach Peking zu beseitigen. Von zwei neuen Klauseln lautet die erste, von den Franzosen beantragt: Die chinesische Regierung muß zwei Jahre lang in jeder Unter- Präfektur durch öffentlichen Anschlag den Beitritt zu der Gesellschaft der Boxer mit der Todesstrafe be drohen und die Bestrafungen der in die jüngsten Wirren Verwickelten aufzählen. Die zweite neue Klausel, von den Amerikanern beantragt, erklärt die Vizekönige für persönlich haftbar für Angriffe aus Ausländer oder chinesische Christen in ihrem Amts bereiche; wo solche Angriffe vorkommen, soll den Vizekönigen die Fähigkeit abgesprochen werden, öffenl- liche Stellungen und Ehren zu bekleiden. Nach ver „Nowoje Wremja" hätten sich Rußland, Frankreich, Amerika und Japan dahin verständigt, der der deutsch-englischen Vereinbarung bezüglich Chinas ein Gegenabkommen gegenüber zu stellen. Die „Post" bemerkt dazu: Diese Meldung trägt den Stempel der Unrichtigkeit schon an der Stirn, denn bekanntlich hat Japan sich dem deutsch-englischen Abkommen ohne jede Einschränkung und in der entgegenkommendsten Weise angeschlossen.' Und wie man überhaupt von einem Gegenabkommen gegenüber der deutsch-englischen Ver einbarung sprechen kann, da doch sämmlliche Mächte den beiden Grundprinzipien dieser Vereinbarung ihre Zustimmung ertheilt haben, ist uns unerfindlich. Ein Telegramm der Deutschen Flottenvereins ans Tientsin meldet: Tie kleine italienische Truppen- Abtheilung, von der unlängst gemeldet wurde, daß sie abgeschuitten sei, ist entsetzt worden. — Ein größeres Detachement, unter Führung des Obersten Garivni hat auf dem Marsche nach Peking 3 Bataillone regu lärer chinesischer Truppen abgeschuitten nnd entwaffnet. Die Chinesen vermieden den Kampf. In Jtschou ver bleibt eine französische Abtheilung. — Prinz Tiching hat dem deutschen Gesandten am l. dss. Mts. einen Besuch abgestattet, der gestern erivivert wurde. — Dem „Local-Anzeiger" wird aus Jtschou gemeldet: Von den bei Tsukingkwan schwer verwundeten Soldaten der Compagnie des Hauptmanns Bartsch sind gestern noch weitere 2 an ihren Wunden verstorben, sodaß die deutschen Verluste auf vier Tobte sich belaufen. Alle Vier werden hierhergebracht und feierlich beerdigt werden. — Am 30. October hat ein kleines Gefecht, westlich von Tsukingkwan, stattgefnnden. Ans einem Dorfe wurde auf unsere Patrouillen gefeuert. Das Dorf wurde erstürmt und niedcrgebrannt. Wir hatten dabei keine Verluste, die Chinesen hatten 20 Tobte. — Ans Tschangtichifu wird über London gemeldet: In Honan sind 14000 Chinesen zusammengezogen, um sich dem Vormarsch der Verbündeten entgegenzu stellen. — Nack telegraphischer Meldung des Trans- portfiihrers Oberleutnants z. S. Petzel haben mit dem Dampfer „Köln" 273 Unteroffiziere und 732 Mann Truppen die Heimreise angetreten. Aus Peking vom 3. wird telegraphirt, daß General feldmarschall Gras Waldersee das Todesurtheil über 5> hervorragende chinesische Beamte in Paotingfu bestätigt habe. Tientsin, 0. Nov. General Campbell, der, wie bereits gemeldet, von Paotingfu hierher zurück- gekehrt ist, hat auf feinem Wege keinen ernsten Widerstand gesunden. Er hat 20 Boxerdörfer be schossen und in Brand gesteckt und die Befestigungen von Menanhsien zerstört. Er zwang den richterlichen Beamten Jenchin, die Boxer seines Distriktes ergreifen und hinrichten zu lassen und den Christen eine Ent schädigung zu gewähren. Die Russen sandten am Sonntag zwei Kolonnen von Lutai nachLiangtsun. Rußland deckt die Karten auf! Das „Reutersche Bureau" veröffentlicht nachstehendes, heute aus Shang hai eing'gangeneS Telegramm aus Tientsin, welches keinen Datum trägt: General Lenewitfch hat durch VermiltUung des russischen Konsuls in Tientsin den Konsuln der übrigen Mächte mittheilen lassen, daß Vas gegenüber der britischen und deutschen Niederlassung auf der anderen Seite des Peiho liegende Gebiet von Rußland kraft des Rechtes der Eroberung annektirt sei, es fei denn, daß etwaige europäische Eigenthümer oieses Landes umgehend Dokumente einreichen, durch welche sie ihr EigenthumSrecht beweisen. Bloße Be sitzansprüche ohne rechtliche Titel werden nicht berück sichtigt werden. In dem annektirten Gebiet sind der Eisenbahngescllschaft gehörige Grundstücke eingeschlossen und wahrscheinlich auch das Ostarsenal. Es wird sicher Protest erhoben werden. Der Globe bemerkt zu der Nachricht, der Bahnbesitz in dem von Rußland anncctirten Theil von Tientsin ge höre England, die Anleihe daraus von 2,MX»,OOO Lstrl. ist von britischen Actionären gezeichnet unter der Garantie der britischen Regierung, daß die Bahn unter keinen Um. ständen in die Hände einer fremden Macht übergehen solle. Rußlands Action ist daher eine direkte Heraussorderunz an Großbritannien.