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Die Brüderanstatt mit Rettungshaus zu Moritzburg im Zahre 1899. Tie Anstalt, die 27 Jahre unter Leitung des Pastor Höhne in Oher- gorbitz gestanden hatte, ist nach Moritzburg verlegt worden. Der Ernst und die Bedeutung dieses Wendepunktes in der Geschichte der Arbeit wurde der Anstaltsgemeinde vom HauS-Bater vor die Seele gestellt, als er am Sonntage Exaudi zum letzten Male die Kanzel betrat, die am 1. Advent 1879 geweiht worden war, um auf Grund von Psalm 122 die Frage zu behandeln: War bewegt uns, da wir uns zum Auszug rüsten? 1. Die Freude an dem BciunSwohoen unseres GotteS. 2. Der Glückwunsch für alle, welche die Wohnung GotteS lieb haben. Am Montag begann der Auszug. Eine Schar Kinder nach der andern zog zum letztenmal durck Gorbitz nach Dresden und nahm — manches nicht ohne Wehmuth — Abschied. Hast jeden Tag wurde eine Fuhre HauSrath fortgeschafft — und so ging's Wochen lang. Am Sonnabend vor Pfingsten, den 20. Mai, abend» gegen 9 Uhr kam die letzte Abthcilung in Moritzburg an. ein langer Zug, jedes Kind mit einer Hucke unterm Arm. Voran schritt der Vater. Ein ergreifendes Bild! Der Pfingstgottesdienst wurde im Mädchenhause abgehalteu. Die Räumerei ging daun noch die ganze Woche fort, und erst am Tage vor der Weihe der neuen Anstalt kamen die letzten Möbel au. Eine zahlreiche Festgcmeinde von Gönnern und Freunden der Anstalt, darunter auch die Brüderschaft, hatte sich am Nachmittage d-S TrinitatiSfonntagS, des 28. Mai eiugefunden. Die Weihercde hielt als Mitglied des VerwaltungS- ratheS und zuständiger Ephorus Herr v. Harig aus Großenhain über Matth. 17, 1—4. Darauf überbrachte Herr Oberkonsistorialrath Clauß die Segenswünsche des cv.-luth. Landeskonsistoriums, welches mit drei gemalten Fenstern einen Beitrag zur künstlerischen Ausschmückung der Avstaltskapelle stiften werde. Der Vorsitzende des Landesvereins für innere Mission, Herr Graf Vitzthum, erinnerte an die mannigfachen Beziehungen der Anstalt zum Landesverein. Herr Pastor Hickmann übergab die vom Meißner Kreisverein für innere Mission gestiftete, in die Altarnische eingebaute herrliche KreuzigungSgruppe. An die Feier schloß sich ein Rundgaug durch die neue Anstalt. Am 14. September besuchte Ihre Majestät die Königin Carola die selbe, besichtigte eingehend die Kapelle und die Schulräume, ein KnabevhauS, daS Wirtschaftsgebäude und »aS Mädchenhaus und verweilte zuletzt noch im Direktorialgebäude, alle Einzelheiten des Anstaltslebens verständnißvoll erkundend. Dieser Ehrentag wurde durch eine Festspeisung und den ersten Familienabend ausgezeichnet. Als ein Zeichen königlicher Huld empfingen wir später durch Ihre Majestät 5000 Mark aus den Ucberschüssea der volksthümlichen Ausstellung für HauS nd Herd. Die Brüder hatten kein leichtes Jahr. ES sollte an ihrer Ausbildung nichts versäumt werde», uud doch stellte die Verlegung der Anstalt sehr weitgehende Anforderungen an ihre Kräfte. Der Anstaltsvorsteher mußte ihnen ja gle.ch im Anfänge des Jahres erklären: «Rechnet nicht darauf, daß ich Euch regelmäßig Unterricht ertheilen kann; mich werden die Moritz burger Geschäfte ost abrufen". Und nicht der Vorsteher bloß hatte viel zu laufen und zu besorgen, sondern bald hieß eS: „ES müssen ein, zwei, vier Brüder nach Moritzburg, um Arbeiten mancher Art zu verrichten." Zwei neu eintretende Brüder mußten gleich auf dem Bauplatze zugreifen, während die Gorbitzer 25 schwere Fuhren mit HauSrath zu beladen hatten. Der Brüderunterricht wurde in Moritzburg auf Grund eines neuen Lehrplanes begonnen. Er zerfällt in Elementar- und Fachunterricht Unter den Realien wird neben geläufigem Rechnen nach den bürgerlichen Rechnungsarten und gutem, auSdrucks- und verständnißvollem Lesen be sonders der deutsche Sprachunterricht gepflegt. Dabei kommt es uns zuerst darauf an, daß der Bruder einen Gedanken, einen Bericht oder einen Auf trag in gutem Deutsch bündig und klar schriftlich und mündlich auSdrücken kann. Jedoch wird in der oberen Abtheilung ein höheres Ziel angestrebt. ES werden Stoffe aus Geschichte, Geographie, innerer Mission, und der Bibel (Lebensbilder, Charakteristiken) b.-handelt, wobei die Brüder, je länger je mehr, ganz ohne Hilfe deS Lehrers zu arbeiten lernen sollen. Es werden auch kurze Andachten abgefaßt, nachdem die zu behandelnde Schriftstclle g-nau besprochen und die nöthige Anleitung gegeben worden ist. Dabei darf die katechetische Form nicht unberücksichtigt bleiben, besonders um der Brüder willen, die unter Kindern arbeiten. Das religiöse Lehrge biet umfaßt Glaubenslehre mit Berücksichtigung der UvterscheidungSlehrev, Katechismus, Kirchevgcschichte, alt- und neutestamentliche Bibelkunde und BibelauSlegung. Der speciellen Berufsbildung dient die Innere Mission und die Buchführung. Die Musik wird möglichst gepflegt durch vierstimmigen Gesang, Harmoniumspiel und Posaunenblasev. Der HErr schenke zum Wollen das Vollbringen! Auch im vergangenen Jahre wurden von unserer Brüderschaft neue Arbeitsgebiete übernommen: die Herberge zur Heimath III. in Leipzig mit 3 Brüdern, das Waisenhaus in Bautzen, das RettungShauS „Wettinstift" in Glauchau und das BezirkssiechenhauS Obercunnersdorf bei Löbau mit je einem Bruder. Im ganzen sind mit Moritzburger Brüdern 53 Stationen in Sachsen und Thüringen besetzt und zwar: 19 Rettungshäuser, 1 Knabenhort, 5 Waisenhäuser, 3 Arbeiterkolo "ien, 2 Stadtmissionen, 19 Herbergen zur Heimath, 4 Kranken und Siechenpflcgen. Die Zahl der ausgesandten Brüder beträgt 50, die der Gehilfen 29, zusammen 79 Unsere Kinder müßten keine Kinder sein, wenn sie nicht durch die Un ruhe eines wochenlangen Umzuges und durch die neuen Verhältnisse, in die sie versetzt wurden, ganz und gar in Anspruch genommen worden wären So galt eS denn in Schule und HauS mit liebevoller Nachsicht, aber ent schiedenem Ernste dafür zu sorgen, daß die Arbeit in der gewohnten Weise fortgesetzt werden konnte. Eine besondere Schwierigkeit bleibt es ja immer, daß während des ganzen Jahres Kinder kommen und eingerichtet werden müssen. Neben vieler Freude ist uns auch manches Leid und manche Ent täuschung nicht erspart geblieben. Doch wir wissen, daß unsere Arbeit nicht vergeblich ist im Herrn, und wir hoffen, daß auch da, wo wir wenige oder keine Erfolge sahen, einst unsere AuSsaot noch Früchte bringen wird, und sei eS erst nach Jahren und manchen wechselvollen Geschicken unserer Zöglinge. Ueber alle Glieder unserer HauSgemeinde hat Gott segnend und schirmend seine Vaterhände gebreitet. Wie beim AuSzuge auS Gorbitz, so werden wir auch beim Rückblick auf das hinter uns liegende Jahr vom Herrn unserer Arbeit gefragt: „Habt ihr auch je Mangel gehabt?" Wir müssen bekennen: „Ric, keinen." „Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich und sördre das Werk unserer Hände bei uns; ja daS Wnk unserer Hände wolle er fördern!" Das Abendläuten. Wer in der Großstadt wohnt, fern von der nächsten Kirche, aber mitten m drängenden Gewühl, dessen Lärm von der Straße zu seinen Fenstern dringt, der hört selten einmal daS volle Geläut der Glocken am Sonntage, noch seltener den stillen Friedeusruf der Abendglocke. Aber euch, ihr lieben Landbewohner, beneidet er, über deren Häuser die Glocke Abend für Abend ihren Ruf zur Sammlung und zum Gebete hinträgt. In christlichen Familien auf dem Lande ist eS noch heute Sitte, daß die Männer auf dem Felde beim Beginn des Abendläutens die Mütze ziehen und ein stilles Vaterunser beten, oder die Familienglieder in der Stube die Hände falten und beten: Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ, weil es nun Abend worden ist. Manchen Alten aber und Kranken in der Gemeinde mahnt die Feier abendglocke an den eigenen, vielleicht recht nahen Feierabend seines Lebens. Gott erhalte in unserer, an schönen Sitten immer mehr verarmenden Zeit überall in deutschen Landen, wo er noch geübt wird, diesen frommen Brauch aus der Zeit der Väter! Einer anderen Bedeutung legte Wilhelm der Eroberer, der zu Ende des 11. Jahrhunderts über England herrschte, dem Abendläuten unter. Durch das Läuten einer Glocke ward den Einwohnern angezeigt, daß sie nunmehr das Herdfcuer zuzudecken, das Licht zu löschen und die Ruhe zu suchen hätten. So sorgte die weithin schallende Abendglocke für Ordnung und Zucht in HauS und Gemeinde. Die Puritaner brachten diesen Brauch aus der englischen Heimath mit nach Nordamerika hinüber. Dort sank er im Laufe der Zeit in daS Grab der Vergessenheit, wie so mancher alteng- lifche Brauch. Heute hat ihn die Roth der Zeit wieder aus der Grabes ruhe geweckt. Wo jetzt in den Städten und Ortschaften des Staates Minnesota abends um 9 Uhr die Glocke läutet, da darf sich kein Knabe oder Mädchen unter 16 Jahren, wenn nicht die Eltern oder sonst verant wortliche Personen das Kind begleiten, auf der Straße blicken lassen. Wer die Glocken überhört, wird gewarnt. Hat die Warnung nichts ge- fruchtet, so wird der Ungehorsame mit einer Strafe von 3 bis 10 Doll. (12 bis 40 Mk.) oder mit Gefängmß bis zu 10 Tagen belegt. In anderen Städten deS nordamerikanischen Westens tönt di. Glocke, welche die Straße von einer unbeaussichtigtev und zuchtlosen Jugend säubert, bereits um 7 oder 8 Uhr Abends. Der Einrichtung wird so viel Gutes nachgerühmt, daß man auch in der Millionenstadt New-Jork ernstlich daran denkt, mit dem Ton der Abendglocke der Verwahrlosung der Großstadtjugend ent- gegenzuarbeiteo. Ob hier nicht die „alte Welt" von der „neuen" etwas lernen könnte? Wir meinen wenigstens auch, daß Kinder nach dem Abendläuten nach Hause gehören und daß auch die Heranwachsende Jugend beiderlei Geschlechts keineswegs durch Schreien und Johlen auf der Straße in den späten Abendstunden ihre Bildung verräth. Druck von I. Ruhr Nachfolger Max Förster, Hohenstein-Ernstthal.