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gezwungen, ihre Pläne zu ändern; sie konnten daher, weil sie spät kamen, nicht an dem Kampf theilnehmen. Die Führung der verbündeten Truppen war aus gezeichnet. Der größte Wetteifer trat überall zu Tage, aber trotzdem halten die Mannschaften aller Nationen treue Waffenbrüderschaft. Der erste ChinatranSport der „Eisenbahner- hat u. a. in einem besonderen Eisenbahnzuge auch eine Feldbahn für eine 50 Kilometer lange Strecke mitge nommen. Zwei Kilometer Schienenstrang können in einer halben Stunde gelegt werden, so daß der Bau der ganze Strecke 12'/, Stunden in Anspruch nimmt. Der zweite Transport, der ebenfalls aus 250 Mann bestehen soll, wird eine zerlegbare Brücke aus Eisen- construction mit auf die Reise nehmen. Diese Brücke, welche innerhalb 48 Stunden errichtet werden und einen Fluß oder eine Schlucht von 24 Meter Breite überspannen kann, ist bedeutend praktischer als eine Pontonbrücke oder eine Bockbrücke, wie sie die Pioniere bauen, weil die Schifffahrt durch sie nicht gestört wird und sie auch von schweren Fuhrwerken, Kanonen und Eisenbahnzügen passirt werden kann. Zwei weitere Brücken derselben Construction, welche einen Raum von 60 Metern Überspannen können, sind für das Regiment bestellt worden. Auch mit einer reichhaltigen elettrischen Ausrüstung, bestehend aus Bogenlampen, Scheinwerfern, Feldtelegraphen ufw. wird die Truppe ausgerüstet. Di* Nerve« der Kaisrrirr-Mittrve. Ungemein bezeichnend für die chinesische Denk weise, in die wir Europäer uns nur schwer hinein versetzen können, ist eine Vorstellung, die die Vice könige der südchinesischen Provinzen unmittelbar vor der Einnahme Pekings an sämmtliche Consuln der Mächte in Shanghai gerichtet haben. Sie sagen in diesem Schriftstück der Köln. Ztg. zufolge, daß sie mit Entsetzen von der Nachricht des Vorrückens euro päischer Truppen gegen Peking gehört hätten. Sie bitten aufs dringendste, diesen Vormarsch sofort ein zustellen, da sonst die Gefahr entstände, daß die Kaiserin von China durch den Kriegslärm und daS Schießen mit Kanonen beängstigt und erschreckt werden könne. Eine derartige Belästigung Ihrer himmlischen Majestät müsse unter allen Umständen vermieden werden, und die Vicekönige bäten daher die Consuln, den Militär befehlshabern zu telegraphiren, sofort den Vormarsch einzustellen, der für die Nerven Ihrer Majestät fo beklagenswerthe Folge haben könne. Weder die Con suln noch die militärischen Befehlshaber sind in der Lage gewesen, diese zarte Rücksicht auszuüben, und die Kaiserin von China, die das Bombardement der europäischen Gesandtschaften zwei Monate lang allem Anschein nach ganz gut aushalten konnte, hat sich nun darein finden müssen, auch den Donner der europäischen Kanonen zu vernehmen. Wir halten es nicht für ausgeschlossen, daß der Bequemlichkeit und den Nerven der hohen Dame noch weitere respectwidrige Be lästigungen Vorbehalten sind. Die nahezu grotesk wirkende Eingabe der Vicekönige, die allem Anschein nach ernstlich daran glaubten, daß sie durch solche künstliche Vorstellungen den Vormarsch der verbün deten Truppen verhindern könnten, zeigt uns, wie ganz anders in den Schädeln selbst hochstehender Chinesen sich die Wirklichkeit ausmalt als bei uns. ES zeigt aber auch, daß trotz aller anarchistischen Vor gänge der Einfluß und die Macht der Kaiserin in den Augen ihrer Vicekönige noch jetzt so bedeutend ist, daß eS schwer fallen wird, die Kaiserin von der Verantwortung für den Bruch des Völkerrechts zu entlasten. Siichsisches. Hohenstein - Ernstthal, 21. August 1900 Vi!nhtU ungen von allgemeinem Interesse werden dar bar «m zegengenommen uno eveutl. hovvr'rt. — Ueberficht über Niederschläge und des Temperatur in der August. zweiten Dekade (Mittheilung der hiesigen meteorologischen Niederschläge Niedrigste Höchste in Ltt. pro Tem- Tem- Station.) Temperatur mittags Tag. Quadr.- Met. peratur. peratur. 12 Uhr. 11. 2.6 11.1 15.7 13.3 12. 1.6 10.7 17.0 13.7 13. —— 7.6 21.0 20.2 14. 2.8 14.8 20.1 19.4 15. 0.1 8.0 19.0 16.8 16. — 13.1 24.6 22.9 17. — 15.1 26.6 25.2 18. — 15.7 26.4 25.4 19. — 17.1 28.3 28.2 20. 3s. 7.1 14.2 d. Niederschläge. 26.6 25.5 — Im Saale des Neustädter Schützenhauses er folgte gestern Abend eine Ueberreichung von Aus zeichnungen für geleistete Feuerwehrdienste. Der als Vertreter der städtischen Behörden anwesende Herr Stadtrath Zeißig führte, nachdem die Compagnien Aufstellung genommen hatten, in einer Ansprache aus, daß die Auszeichnungen um so höher anzuschlagen seien, als die Feuerwehrdienste freiwillig geleistet würden, trotzdem damit, wie stattgefundene Brände bewiesen haben, Gefahr für Gesundheit und Leben verbunden sei. Herr Stadtrath Zeißig wünschte schließlich, daß besonders die jüngeren Mitglieder den Ausgezeichneten nacheifern möchten. Hierauf wurden für 25jährige Dienstzeit durch Ueberreichung des von Sr. Majestät unserem König gestifteten Feuerwehr zeichens geehrt die Herren: August Reiß, Franz Theodor Haugk (1. Comp.) und Lucian Wilhelm Sittner (2. Comp.). Diplome für 20 jährige Dienst zeit erhielten die Herren: Emil Robert Haselhuhn (1. Comp.), Friedrich Wilhelm Baumgärtel, Emil Ferdinand Albani und Louis Ackermann (2. Comp.). Auszeichnungen erhielten ferner für 15 jährige Dienst zeit die Herren: Karl Heinrich Hüttenrauch, Edwin Redslob (1. Comp.), Theodor Venter und Heinrich Oespig (2. Comp.); für 10jährige Dienstzeit die Herren Max Schmidt, Richard Mayer, Ernst Meisch, Karl Hermann Schmidt (1. Comp.), Emil Schulze, Fritz Bollow, Emil Scheubner und Otto Vogel (2. Comp.). Herr Stadtrath Zeißig knüpfte hieran seine besten Wünsche. In einer Ansprache gedachte der Haupt mann der 1. Compagnie, Herr E. Redslob, des regen Interesses, das die städtischen und staatlichen Behörden, ganz besonders auch unser König, den Feuerwehren widmen. Redner schloß mit einem Hoch auf König Albert und die Behörden. Herr Branddirektor Schellenberger brachte endlich den heute Ausgezeichneten ein Hoch. Gesangsvorträge einiger Mitglieder der 2. Kompagnie bildeten den Schluß. — Nach den letzten amtlichen Bekanntmachungen vertheilen sich die Konfessionen auf die einzelnen Kreis- Hauptmannschaften Sachsens folgendermaßen: Bautzen: 347 770 Lutheraner, 259 Reformirte, 34 892 Römisch- Katholische, 34 Deutsch-Katholiken, 1834 andere (außer dem 278 Israeliten); Dresden: 1 005 529 Lutheraner, 2959 Reformirte, 51 908 Römisch-Katholische, 312 Deutsch-Katholiken, 4079 andere, 2867 Israeliten; Leipzig: 906 616 Lutheraner, 6520 Reformirte, 23 793 Römisch-Katholische, 501 Deutsch-Katholiken, 2586 andere, 5109 Israeliten; Zwickau: 1351755 Lutheraner, 800 Reformirte, 29 692 Römisch Katholische, 581 Deutsch-Katholiken, 5132 andere, 1648 Israeliten. Das ergiebt für das gesammte Königreich: 2 611670 Lutheraner, 10 538 Re- formirte. 140 285 Römisch-Katholische, 1428 Deutsch. Katholiken, 13 631 andere, 9902 Israeliten. — Die „Berl. Pol. Nachr." schreiben: Wenn von einigen Zwangsinnungen in letzter Zeit offenbare Fabrik, betriebe als Mitglieder reklamirt worden sind und wenn der Versuch gemacht worden ist, sie zur Beitragszahlung für die Innungen heranzuziehen, so darf nicht übersehen werden, daß es sich hier um vereinzelte Ausnahmefälle handelt und daß die Aufsichtsbehörden schon die erforder- liche Remedur eintreten kaffen. Da das Handwerks- organisationsgesetz vom Jahre 1897 eine Definition des Begriffes „Handwerksstätte- nicht gegeben hat, auch wohl nicht gut geben konnte, so waren solche Mißgriffe seitens einzelner Innungen vorauszusehen. Verwunderlich bleibt es nur, daß einige Innungen die Heranziehung großer Fabriken zur Mitdeckung der Jnnungskosten vorgenommen haben, um eine richterliche Endentscheidung herbeizuführen. Eine solche liegt bereits seitens des Reichsgerichts inso fern vor, als dieses alle diejenigen Betriebe, in denen die Arbeitstheilung durchgeführt ist, als Fabriken erklärt hat Wo demgemäß dieses Kriterium zutrifft, würde durch eine nochmalige Verfolgung des Rechtsweges gar keine neue Entscheidung herbeigeführt werden können. Es können vielleicht über mittlere Betriebe Zweifel betreffs des Fabrikcharakters entstehen, die größten, ganz unzweifel haft als Fabrikbetriebe zu betrachtenden Etablissements aber zur Zahlung von Jnnungsbeiträgen heranziehen zu wollen, kann gar keinen anderen Erfolg als den haben, daß die betreffenden Innungen sich selbst Kosten und Un gelegenheiten verursachen. — Aus dem Jahresbericht der Handels- und Ge werbekammer auf 1899. Das Geschäft in Kulirhand- schuhen in Mittelbach erfuhr 1899 einen kleinen Aufschwung; die Besserung ist aber noch nicht durchgreifend genug, um die Fabrikation überhaupt zu heben. Der billigere geschnittene Handschuh macht dem Artikel große Konkurr nz. Die stattgefundenen Preiserhöhungen der Rohmaterialien dürften den weiteren günstigen Verlauf unterstützen, da ein Rückgang im Preise des Fabrikats nicht mehr möglich ist Die Preissteigerung beträgt ca 15 Proc. für Baum wolle (Garn und Flor), 20—25 Proc. für Chappe-Seide und 30 Proc. für Trame-Seide, das bedeutet für die Kulirhandschuhe eine Vertheuerung von etwa 20 Pf. per Dutzend bei Flor, 40 Pf. per Dutzend bei Halbseide, 80 Pf. per Dutzend bei Chappe-Seide, 2 Mk. per Dutzend bei Trame-Seide. Diese Erhöhung läßt sich bei der Kundschaft aber nur schwer durchsetzen. In den ganz billigen Sorten herrscht keine Nachfrage mehr. In den besseren Qualitäten finden außer glatten Genres in 3 und 4 Knopflängen auch schöne elegante Muster in Petinets guten Anklang. Befähigte, exakte Arbeiter können in diesen Petinets während der Saison noch auf 15—20 M. Äochenverdienst kommen, andere, die glatte Hand schuhe Herstellen, bringen es im Durchschnitt auf 10—15 Mk. Frankreich kauft den Artikel schon seit vielen Jahren nur noch in beschränktem Maße, weil es in Folge der hohen Zölle im eigenen Lande ebenso billig fabrizirt, als Deutschland den Kulirhandschuh zu liefern vermag. Als Hauptabsatzzebiet kommen lediglich das westliche Deutsch land, sowie Belgien und Holland in Betracht. — Die Handschuhindustrie in Oberlungwitz hat sich vom Nieder gang der letzten Jahre noch nicht erholt, wenn auch der strenge Vorwinter 1899/1900 die Läger größtentheils räumte und zahlreiche neue Aufträge brachte. Die Er höhung der Preise für Rohmaterialien beeinflußte den Nutzen erheblich. — Unter den deutschen Ausstellern der Pariser Weltausstellung, die mit großen Preisen bedacht worden sind, befinden sich folgende sächsische Firmen Scheiter u. Giesecke-Leipzig, Meißner u. Buch-Leipzig C. G. Röder-Leipzig, Riffarth u. Co.-Leipzig, Breit- köpf u. Hänel-Leipzig, E. F. PeterS-Leipzig, Karl Bädecker-Leipzig, BibliographtscheS Institut iMeyer)- Leipzig, I. I. Weber-Leipzig, Max Hildebrand- Freiberg, Julius Blüthner-Leipzig, Reinecker-Chemnitz, KircheiS-Aue, Kirchner u. Co.-Leipzig, Rudolf Sack- Leipzig-Plagwitz,Ober-OekonomierathSteiger-Leutewitz, Sächsische Maschinenfabrik vorm. Richard HaNmann (A.-G.)-Chemnitz. — Waldenburg, 20. August. Zu unserem Vogelschießen hatte sich gestern die Schützengesellschaft zu Hohenstein-Ernstthal, Neustadt, in einer Stärke von gegen 50 Mann mit Musik eingefunden, um am Auszug und am Feste theilzunehmen. Beinahe wäre der Auszug durch Gewitter gestört worden, aber daS Wetter ging gnädig vorüber, ohne daß ein Regen tropfen fiel. Dagegen soll eS in Glauchau stark ge gossen und theilweise auch gehagelt haben. Auf dem Schützenanger entwickelte sich in den Nachmittagsstunden ein außerordentlich reges Leben und Treiben, die Schankzelte waren zeitweise überfüllt und vor den Schau- und Würfelbuden staute sich eine zahlreiche Menschenmenge. — Meerane. Vorsicht scheint geboten zu sein bei Entgegennahme von Einmarkstücken. In einem hiesigen Geschäft wurde am Sonnabend ein solches Geldstück angehalten, das ziemlich geschickt nachgeahmt war, aber einen bleiernen Klang hatte und auch leichter war als ein echtes. — Zwickau, 21. August. Der 19 Jahre alte Arbeiter Karl Bogel aus Planitz, der wie gemeldet, seine Geliebte, die 18jährige Rosa Falk daselbst, durch 3 Messerstiche schwer verletzte, hat sich in der heutigen Nacht im hiesigen Untersuchungsgefängniß erhängt. — Crimmitschau, 20. August. Bei einem gestern Nachmittag auf dem hiesigen Güterbahnhof angekommenen Viehtransport, bestehend aus 85Schweinen und 24 Schafen, wurden 21 Schweine todt auf gefunden. Dieselben, größtentheils einem hiesigen Viehhändler gehörig, wurden sofort vom Kaviller abgeholt. — Plauen, 20. August. In der Nacht zum Sonntag haben zwei Burschen, die heute verhaftet worden sind, in der Gegend von Syrau geradezu fürchterlich gehaust. Mit 75 Getreidegarben haben sie die von Mehltheuer nach Syrau führende Straße kurz vor dem Dorfe Syrau mauerartig abgesperrt, sodann haben sie 9 Stück je 5 Meter hohe Apfel bäume, die an der nämlichen Straße gestanden hatten, abgebrochen, Laternen zerschlagen und noch an anderen Sachen Schaden angerichtet. Der eine der beiden Vandalen kommt aus Elberfeld und war erst hier zugereist. Als er heute früh 4 Uhr verhaftet wurde, erklärte er dem ihn verhaftenden Polizeibeamten gegen über, er habe die That nur begangen, um heute im Blatte zu lesen, was man über dieselbe schreiben werde. — Plaueu i. B., den 19. August. Am vorigen Sonntag ist daS Fuchssche Mühlengut im Stadttheile Chrieschwitz abgebrannt; heute früh war Feuer in der inneren Stadt. Es brannte das ziemlich umfangreiche Hintergebäude des an der Ecke der Forst- und Fürstenftraße gelegenen Hotels „Fürstenhalle-. DaS obere Stockwerk des Hintergebäudes, in dem sich Heu und sonstige Futtervorräthe, sowie Wirthschaftsgeräthe befanden, ist dem Elemente zum Opfer gefallen. Als Entstehungsursache des Brandes muß böswillige Brandstiftung angenommen werden, da es zu gleicher Zeit auch in einem im Hauptgebäude befindlichen Seine Schwester. Roman von Fanny Stöckert. 4S. Fortsetzung und Schluß. (Nachdruck verboten.) Dem zarten Kinde konnte er ja auch selbst die Pflege nicht angedeihen lassen, das mußten sanfte Frauenhände thun. Jetzt aber war das anders. Freds ganzes Herz hing jetzt an seinem kleinen Sohn, der sein getreues Ebenbild zu werden versprach. Wenn er seine sommerliche Erholungsreise anttat, dann galt sein ganzes Denken und Sehnen dem Knaben, da kaufte Fred die schönsten Spielsachen zum Geschenke für den Liebling, und konnte dann immer ven Moment kaum erwarten, wo er die Bahnstation erreicht uno das Lockenköpfchen seines Buben ihm entgegenlachte. „Das ist mein alter Fred wieder," meinte seine Mutter oft, wenn sie ihn mit seinem kleinen Sohn im Park zu Landecken sah, denn da leuchtete die Lebensfreude wieder in seinen sonst so ernsten Augen, alle Würden seines Berufs wurden dann abgestreist, und seine Patienten, denen er stets so viel Respekt einzuflößen wußte, würden ihn hier kaum wieder er kannt haben. Für die Frau Justizräthin, die ihr Heim jetzt in dem Forsthause hatte, wo Melitta längst als glück liche Frau Oberförster Harden schaltete und waltete, war diese Ferienzeit Freds stets die schönste des ganzen Jahres. Hatte doch ihre Liebe zu dem Sohn nie eine Trübung erfahren, da Melitta das Geheimniß seiner Schuld treu gehütet, auch ihrem Mann gegen über. „Ich mag nichts davon hören," erklärte dieser, als sie eines Tages meinte: sie dürfe doch als seine Gattin kein Geheimniß mehr vor ihm haben, und Fred hätte ihr ja auch die Erlaubniß ertheilt, zu ihm davon zu sprechen. „Nein, nein," lehnte er entschieden ab, „eS betrifft ja nicht Dich, Liebling, sondern nur Deinen Bruder, und wohl noch eine Andere?" Melitta nickte stumm, und Harden wußte genug, aber seiner vornehmen Natur widersprach es durchaus, da noch weiter zu forschen. Und die Andere! Hin und wieder tauchte sie doch vor Fred wieder auf, Erinnerungen wurden lebendig, aber Macht gewannen sie nicht mehr über ihn. Auch wenn sie ihm einmal wieder begegnen sollte, was ja nicht unmöglich war, so wußte er, daß sein Herz nicht höher schlagen, seine Seelenruhe nicht gefährdet werden würde. — Seitdem er am Begräbnißtage feiner Frau einen Blick gethan in den Abgrund der Seele des chönen falschen Weibes, da hatte er sie verachten ge- ernt, und Verachtung war der Tod der Liebe und Leidenschaft. Der Tag aber sollte kommen, wo sich )iese Verachtung in Mitleid wandelte. Fred fand Carla eines Tages unter den Kranken einer Nervenheilanstalt, wohin man ihn gerufen hatte. „Morphiumsüchtig im höchsten Grade," sagte der Anstaltsarzt im glcichgiltigen Ton, als die Ruine der einst so schönen Frau mit scheuen, irren Blicken an den beiden Herren vorüberglitt, ohne Fred zu er kennen. Fred stand einen Moment wie erstarrt, war das wirklich Carla Axhausen, dieses ganz und gar zerrüttete Menschenkind mit diesen graublassen Antlitz, dem wirren Haar, den unstät flackernden Augen; ein schwarzes Sammtkleid schlotterle förmlich um die einst so üppige, jetzt furchtbar abgemagerte Gestalt. Tiefes Mitleid erfaßte ihn. War es nicht möglich, sie zu retten, sie dem Leben wieder zu geben, dem Leben, daß sie so sehr geliebt. Eingehend ließ er sich von dem Anstaltsarzt über ihren Zustand be richten, aber alles, was er hörte, lautete ziemlich hoff nungslos. „Ihr Nervensystem ist ganz und gar zerrüttet," erklärte der Arzt; „dabei muß sie eine urkräftige Natur früher gewesen sein, sonst wäre sie längst zu Grunde gegangen, so hat sie es getrieben." „Ja, das war sie," bestätigte Fred, „ein lebenS- sprühenderes und lebensdürstenderes Geschöpf hat es wohl kaum je gegeben." „Der Lebensdurst, das ist es! Dieses Uebermaß der Genüsse unsrer Zeit, das treibt solche Menschen, die die stetige Arbeit fliehen, ins Verderben. Es ist furchtbar schwer, solch einen Kranken zu irgend eine'. Thätigkeit zu bestimmen, und doch ist daS meist der erste Schritt zur Heilung. Aber kommen Sie, Ihre Zeit ist knapp bemessen, und ich wollte um Ihren Rath über eine ganz andere Kranke bitten." Nur zögernd folgte Fred dem Arzt, als er sich noch einmal umwandte, starrte Carla ihnen mit weit aufgerissenen Augen nach, einen Moment belebte sich ihr Gesicht, sie that ein paar Schritte, als ob sie den Herren folgen wollte, sank aber dann sofort wieder in sich zusammen und brach in ein fassungsloses Weinen aus. Ein leises Erinnern mochte in ihr aufdämmern, und solch ein Erinnern, solch ein Augenblick der Klarheit ist furchtbar für derartige Kranke. Fred wußte das, er wandte sich nicht wieder um nach ihr, es war besser für sie, sie fiel wieder in ihren Traum- zustand zurück und kam nicht vollständig zur Er- kenntniß der traurigen Wandlung, die mit ihr vor gegangen. Von dem beklagenswerthen Bilde der Kranken aber konnte er so leicht nicht wieder loskommen, er blieb zerstreut, auch bei der interessanten Patientin, zu welcher er jetzt geführt und um derentwillen er hierher berufen war. Bei der Untersuchung mußte er seine ganze Willenskraft zusammen nehmen, um den Anforderungen gerecht zu werden, die hier an ihn, als einer ärztlichen Autorität, gestellt wurden. Noch verschiedene Kranke wurde ihm vorgeführt, arme, blaffe, nervöse Geschöpfe, für ihn ein gewohnter Anblick, heute aber meinte er denselben nicht ertragen zu können, wie erlöst athmete er auf. als sich die Pforten der Anstal t hin'er ihm schlossen, und das Dampfroß ihn von dannen trug, nach der meerumrauschten Insel, wo er seine jetzt begonnene Ferienzeit wie alljährlich verleben wc >lte. O, wie er sich sehnte nach dem An blick gesunder, froher Menschen, die nicht über Nerven klagten, wie es ihm heiß verlangte nach seinem Buben, der da in der frischen Landluft so herrlich gedieh. Endlick; war die Bahnstation erreicht. „Papa, Papa," töm? eine jubelnde Kinderstimme, als der Zug hielt. Da stand er, sein Junge, und schwenkte die Matrosenmütze und der Abendwind spielte mit seinen Locken. Wie ihm das Herz warm wurde bei diesem Anblick, und da neben dem Jungen, das Menschen paar Melitta und Harden, denen das volle Glück aus den Augen strahlte. ES gab doch ein reines Glück auf der Welt, das nicht angekränkelt war von der hastenden, nervösen Unruhe unsrer Zeit, das auf sicherem Grund stand. Nun hielt er seinen Jungen im Arm, und konnte sich nicht satt sehen an dem blühenden Kindergesicht, das ihm wie aus den Augen geschnitten war, und dann geleitete ihn Melitta und Harden nach dem Wagen, wo seine Mutter saß, ihm glückstrahlend die Hände entgegenstreckend. Ihr Haar war schneeweiß, aber das liebe Gesicht frisch und blühend. „Mein Fred, mein lieber, lieber Junge, nun wirst Du Dich mal wieder ordentlich ausruhen bei uns," sagte sie. „Ja, bei Muttern auSruhen," lachte Fred, die lieben Händ, streichelnd. Harden hatte die Zügel ergriffen, und die Pferde zogen an, den wohlbekannten Weg in den Wald hin ein. Tiefe Abendstille herrschte hier. „Wie das wohl thut, diese erquickende Lust, diese Stille," sagte Fred und athmete tief auf. Ihm war es, als läge die Welt und all ihre Unruhe weit, weit ab von ihm, als führe er mit den Menschen, die ihm die Liebsten auf der Welt, dem ewigen Frieden zu. Ein paar Wochen war es ihm vergönnt in diesem Frieden zu leben, und sie genügten, ihn für lange Zeit zu stärken und zu kräftigen für seinen schweren Beruf und den Glauben an echtes Menschenglück, der ö oft schwankend in ihm werden mußte, wieder zu estigen. In dem stillen Forsthaus, da war es zu ind en, solch echtes Menschenglück, das Glück im Winkel, wie es Carla spöttisch genannt. Er hatte den Seinen und seinen Schwiegereltern, als man eines Tages im Park zu Landecken saß, von ihrem Schicksal erzählt. „O die Aermste!" rief Melitta voller Mitleid. Wir wollen sie Herkommen lassen, vielleicht beruhigen sich ihre Nerven hier in unserm Frieden, unsrer Wald einsamkeit." „Nein, um alles in der Welt nicht!" wehrte Fred, „solch eine Kranke gehört unter ärztlicher Auf- icht. Diese zerrüttete, friedlose Erscheinung hier in )iesem Friedensasyl, nein, es war nicht denkbar, auch einem Sohn mußte solch ein Anblick erspart werden, er sollte das Elend der Menschen noch lange, lange nicht schauen. „Ich sehe sie noch deutlich vor mir hier im Park, die schöne Carla," sagte Harden — „dort unter oem Rosenstock standet Ihr einst, Du und sie, ich traute ihr damals schon nicht!" Fred ließ seine Blicke über den Rosenstock gleiten, ja dort hatten sie gestanden Auge in Auge, in seliger Weltvergessenheit. Hätten sie damals einen Blick in die Zukunft thun dürfen und er sich gesehen, der lebenslustige Student, jetzt ein so ernster gesetzter Mann und Carla ein Schatten nur noch von dem was sie damals gewesen. Sie würden Beide solch ein Zu kunftsbild wohl lachend von sich gewiesen, nicht an die Möglichkeit solcher Wandlungen geglaubt haben, und in welcher kurzen Spanne Zeit hatten sich dieselben vollzogen! Ja, es sind oft wunderbar verschlungene Pfade, wohin das Leben uns leitet, wohl dem, der sich noch zurückfindet auf den einzig reichten Weg, den Weg der Pflicht. Daß er ihn gefunden, dankte er in erster Linie seiner Mutter und Schwester, zu denen er sich in allen Lebenslagen immer wieder zurückgefunden. Bewegt blickte er von einer zur andern, moderne Frauenerscheinungen, wie sie ihm täglich in der Resi denz begegneten und oft seine ärztliche Kunst in An spruch nahmen, waren sie nicht, aber echte Frauen, die ihre Mission auf Erden treu erfüllt, und trotz aller Bewegungen auf dem Gebiet der Frauenfrage, wie sie die Noth der Zeit gebietet, werden solche nie ganz aussterben. Wohl dem Manne dem sie zur Seite stehen, in welcher Eigenschaft es auch sei, ob als Gattin, Mutter oder Schwester, er ist immer gut berathen.