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0 Sonnabend, den 14. November 1936 Pulsnitzer Anzeiger — Ohorner Anzeiger Nr. 267 - Seite 11 enib^ >ie ei"Ä -ehr Z :ni Ü e. l>, Ä erw>re z. s!^ >E llÄ ll.^ u.s; nF nF nF iunoA mit F-L I ha N al^ IlB tniS^ und mier. ! Z»^ Le^ 4S.November^S3e> >L«L, -e« A».<L-»»e<-L«. BNd-r°>-M - M ^De» '§s«»^ c/s» Musik, wie sie entsteht und erhebt Das Genie ist frei, und in seiner Echt heit ist es absolut. Das heißt, es setzt sich selbst die Schranken der Erkenntnis oder des Verstehens. Der talentierte Mensch ist immer noch gebunden an körperliche und geistige Voraussetzungen. Der geniale Mensch aber durchbricht die Schranken und Fesseln der Tradition und Gebundenheit. Sein Betätigungsfeld ist das nicht vollkom men verstandesmäßig zu Erfassende. Das Genie ist wie ein Urquell göttlicher Gnade. Aus seinem Mund tönt die Stimme in edler Reinheit und Vollkommenheit. Es schafft seine musikalischen Formen ohne Rücksicht auf Ausführbarkeit. „Glaubt ihr, ich denke an eine elende Geige, wenn der Geist des Schöpfers zu mir spricht?" So sagt Beet hoven, als man ihm vorhält, daß die Violinstimme einer seiner Sinfonien zu schwer zu spielen sei. Die erste Stufe ist das Genie des Künst lers. In seiner Brust äußern sich die Tem peramente. Er lauscht mit dem inneren Ohr in die Natur. Er lauscht auf ihr geheim nisvolles Weben und Streben, auf ihr Ent falten und Sichschließen, auf Blühen und Verwelken, auf ihr Leben, und in seiner Seele spiegeln sich Wider Freud und Leid, Schmerz und Kummer, Liebe und Haß der fremden Menschen. Alle diese Momente wirken auf des Künstlers Seele ein und be einflussen sie in bestimmter Richtung. Noch wird vielleicht sein Innerstes von einem Chaos menschlicher Leidenschaften durch schüttelt. Da versucht er, seine Stimmung in Noten aufzuzeichnen. Das ist bereits die zweite Stufe des schöpferischen Prozesses. Alles, was sein Herz bewegt, schreibt er in die schwarzen Notenköpfe. Sein Herzblut fließt in das Papier. Und wie er Seite um Seite schreibt, so löst sich der Bann, der über ihm lag. Ihm wird freier und leichter zumute. Das Explosive seiner Seele hat den Ausweg gefunden. Sein ganzes Wesen hat er in diese Schriftzüge hineingelegt. Er hat seine Seele wieder reingeschrieben, und für ihn ist dann die Geburt seines Werkes zu Ende. Die dritte Stufe stellt den Vermittler in den Vordergrund der Betrachtung. Und als Vermittler gelten Menschen und In strument. Dieses Doppel-Jch sucht durch intensive Vereinigung dem schöpferischen Künstler nachzukommen. Schwierig ist die Aufgabe, denn es drängt sich etwas Stoff liches, nämlich das Instrument, in die Seele Hausmusik! Fast schien es, als sei die Ausübung und Pflege der Musik im Hause in Gefahr, zu verkümmern, weil uns ja die mo derne Technik es so leicht macht, zu jeder Zeit gute Musik zu hören. Der musikliebcnde Mensch wird sich aber niemals ganz mit dem Hören allein begnügen können, es treibt ihn dazu, selbst, und sei es in dem beschei densten Nahmen, zu musizieren, in der Aus übung ein neues Musikerlebnis zu suchen. Unsere Jugend singt und musiziert, ist auf geschlossen für den reinen Quell der Freude, den uns die Hausmusik spendet. Wenn des Abends das Mädchen seine Flöte nimmt, der Junge seine Geige spielt und ein guter Freund die Begleitung klampft zu alten schlichten Weisen, dann ist das Hausmusik! Wenn Vater, Mutter und Kinder ganz leise mit den ihnen von der Natur gegebenen Stimmen ein Kanon sin gen und dabei über das „Oh, wie wohl ist mir am Abend" hinausgedrungen sind und vielleicht gar etwas von den köstlich-heiteren Kanons Haydns wissen, dann ist das Haus musik! Und gar erst, wenn musikalische Menschen sich in einem Klaviertrio, in einer kleinen Streichmusik zusammengefunden haben und ausübend in die Wunderwelt klassischer Musik eindringen, erhebt sich in der Hausmusik das Herz zu Gott! Darin liegt ja ihr Wesen, daß man selbst die Musik ausübt. Es ist ein wunderbares Erlebnis, die Meisterwerke der Musik in einem Konzert oder durch den Rundfunk auch in einem Meistervortrag zu hören, und die größten Schöpfungen gehören ja auch dem Konzertsaal. Aber die kleinen Werke der Meister sind für das Haus gedacht, sic wollen ja, daß wir als Musizierende der Musik so herznah kommen wie einer Ge liebten, von der wir nimmer wieder lassen können. Es gibt viele Menschen, die wagen des Ausführenden oder des Nachschaffenden. Und diese Spannung von Stofflich-Geisti- dem gilt es, zu überwinden. Je mehr Instrument und Seele übereinstimmen, um so näher kommt man dem Klangideal des Genies. Meistens sind nachschaffende Künstler ähnlich gestimmt wie der Kom ponist. Denn wenn der innere Kontakt fehlt, so bleibt alles seelenlose Spielerei. Nur durch seelische Gleichgestimmtheit lassen sich die technisch-stofflichen Hindernisse über winden. Endlick die vierte Stufe des Prozesses bildet der Hörer. Er ist in seiner Ichheit wieder passiv. Er nimmt nur auf. Für ihn gibt es nicht den Kampf von Materie und Seele. Vielmehr lauscht er nur mit dem inneren Ohr dem Klang des Geistigen. Wie kann nun in seiner Brust die Ideen- und Gefühlswelt eines Beethoven lebendig wer den? Dadurch, daß die Voraussetzung er füllt ist. Und die ist die absolute Ueber einstimmung mit des Künstlers Seele. Die Welle des Verstehens schlägt dann über vom Komponisten zum Hörer. In seiner Seele wird dann das Werk wiedergeboren. Es ist dann wie ein einziges Fließen im All. Stimmungen, die vor mehreren hun dert Jahren einen Himmelsstürmer durch schüttelten, sic begeistern auf Grund der schöpferischen Wiedergeburt auch heute noch unsere Jugend, deren Seele mit der des Meisters der Töne übereinstimmt. So ist es verständlich, daß Leidenscha.ren heute mit elementarerer Gewalt aus dem Hörer hervorbrechcn als ehemals, denn heute ist man vielleichr erst fähig, die gleiche Seelen- tätigkcitseinstellung zu haben, wie früher sie schon der Komponist hatte. Denn immer sich trotz ihrer Sehnsucht nicht an die Haus- musik heran, sie glauben, das sei alles zu schwer. Und doch, wie würde sich das Wagnis lohnen. Es gibt so viele kleine, leicht spielbare Weisen von unendlicher musikalischer Tiefe, die sich auch der Anfän ger erarbeiten kann, um sich dann belohnt zu seh»n durch das Wunder der Hausmusik. Wenn man ein Stück spielt, das man lieb gewann, wenn die herrlichen Harmonien einer kleinen Kammermusik aufklingen, wenn wir uns liebend einfügen in das Zwischenspiel mit gleichgestimmten musikali schen Freunden, dann kommt die Musik über uns wie ein erquickendes Bad der Seele, dann schwingen die Akkorde bis tief in unser Blut hinein, und die Musik spricht uns an, greift an unser innerstes Fühlen mit der Urgewalt wärmster Empfindungen, so, wie es keines Dichters Worte vermögen. Die Flöte, die du spielst, die Geige, die du streichst, das Cello, dem du menschliche Töne entlockst, der Schlag der Laute, der warme Klang deines Klaviers bringen dich zu den Instrumenten in lebendige Beziehung und, indem du spielst, spürst du ihre Seele! Das Hören guter Musik und ihre eigene Pflege im Hause müssen sich ergänzen. Gute Musik zu hören, führt uns zur wahren Musikkultur, führt uns auch dazu, in der Hausmusik nicht mit Dingen paradieren zu wollen, die ihr gar nicht znkommen. Was der Alltag an Leid und Arbeit auch bergen mag, glücklich der Mensch, der sich zur Musik gefunden hat, denn sie schenkt uns Gleichgewicht der Seele, in ihr finden wir Trost und freudige Erhebung. Kein Mensch ist einsam und ohne Freund, der es ver steht, mit einem kleinen Instrument die er quickende Zwiesprache schöner Hausmusik zu pflegen. I. B. ist das Genie seiner Zeit um Jahrzehnte voraus. Die Frage: Wo und wann höre ich Musik?, die sich nun aufwirft, sollte man im Grundsatz immer beantworten: In einer Umgebung, deren Stimmung so mit Musik kultur angefüllt ist, daß sie allein schon da durch den Hörer in die richtige vorberei tende Stimmung versetzt. Um große Künstler zu hören, um dadurch den wahr haften Maßstab zur vollkommenen Wieder gabe zu finden, wird man gewiß immer einmal in ein vorbildliches Konzert gehen. Damit ist durchaus nicht gesagt, daß dieses Konzert der vorbildliche Kunstgenuß ist. Schon die Tatsache, daß man seiner selbst nicht sicher ist, daß man vielleicht in einer Stimmung Hingeht, die gar nicht zum Musikhören geeignet ist, machen ein Konzert von zahllosen Kleinigkeiten abhängig. Eine wohlvorbereitete Hausmusik aber, hei der man hörend oder tätig mitwirkt, bei der man ans die Wahl der Stücke und ihre Wie dergabe Einfluß haben, die man in einem Kreis gleichgestimmter Menschen pflegen kann, wird dieser Art des Musikgenusses immer einen unerreichten Vorteil vor dem glänzendsten Konzert sichern. Schließlich noch ein praktischer Rat, der unmittelbar daraus folgt: Wenn du Musik hörst, so treibe nichts anderes! Eben weil Musik deine ganze Seele fordert, kannst du beim Zuhörcn dich nicht mit anderen Dingen beschäftigen. Du kannst nicht lesen, du darfst deine Gedanken nicht spazierengchen lassen! Das alles zerstört dein Musikerlebnis. Ver suche nur einzig und allein, dich in die Musik zu versenken, dann wirst du innerlich reich, reif, groß und edel!