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3106 PAPIER-ZEITUNG Nr. 75 das sie sich zu unterwerfen trachtete, mit einer Artischocke verglich, die nicht mit einem Bissen, sondern nur blattweise inkorporiert werden könne.« Kaum waren die Versicherungsgesetze in Kraft ge treten, da setzte auch die Kritik ein, und die Frage einer Vereinheitlichung wurde wiederholt erwogen. Im Jahre 1895 trat im Reichsamt des Innern die bekannte November konferenz zusammen, die sich zwar in der Hauptsache mit der Reform des Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetzes befassen sollte, daneben aber auch die Frage der »Zweck mäßigkeit und Durchführbarkeit einer organischen Zu sammenlegung der verschiedenen Zweige der Arbeiter versicherung« erörterte. Der damalige Präsident des Reichs versicherungsamtes, Bödiker, sowie der jetzige Vorsitzende der Landesversicherungsanstalt Berlin, Freund, machten Vorschläge für eine Organisationsreform. Bödiker wollte die Unfall- und Invalidenversicherung in Justiz und Ver waltung vereinigt und die Krankenkassen an die Organe der Rentenversicherung angegliedert wissen. Freunds Plan dagegen lief auf Verschmelzung der Krankenversicherung mit der Invalidenversicherung in den Landesversicherungs anstalten und auf die Schaffung eines gemeinschaftlichen territorialen Hilfsorganes, eines lokalen Unterbaues für die gesamte Arbeiterversicherung hinaus. Ein positives Er gebnis hatte die Erörterung dieser Frage auf der Konferenz nicht. Sie gab jedoch die Anregung, daß der Entwurf über die Abänderung des Invalidenversicherungsgesetzes von 1897 in den Motiven auf die Frage einging, diese gelangen jedoch zu einem negativen Resultat: »Die Frage der Reform der gesamten Arbeiterversicherung und deren Vereinfachung durch Zusammenlegung aller oder mehrerer Zweige der Versicherung kann zurzeit noch nicht be friedigend gelöst werden. So wünschenswert die Zusammen legung im Grundsatz sein mag, so sind doch die Schwierigkeiten und Weiterungen, die einer solchen Maßnahme noch entgegen stehen, schon deshalb sehr erheblich, weil die Meinungen über den hierbei einzuschlagenden Weg noch völlig auseinandergehen. Die ganze Angelegenheit erscheint im gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht spruchreif.« In dem neuen Entwurf zur Abänderung des Invaliden versicherungsgesetzes von 1899 wurde die Frage wiederum erörtert: »Es muß daran festgehalten werden, daß diese schwer wiegende Frage noch nicht reif ist, und daß die in der Be gründung des Entwurfs im Jahre 1897 näher dargelegten Be denken noch in voller Schärfe fortbestehen. Auch jetzt ist nur eine tunlichste Annäherung der verschiedenen Zweige der Arbeiterversicherung aneinander, ein Ineinandergreifen der Fürsorge und der Organisation, aber nicht eine Verschmelzung möglich; es muß der Zukunft überlassen bleiben, ob es gelingt, einen Weg zu finden, der weitere Schritte nach dieser Richtung, ohne überwiegende Bedenken hervorzurufen, ermöglicht.« Nunmehr konnte die Frage nicht mehr aus den sozial politischen Debatten des Reichstags verschwinden. Ge legentlich der Beratungen der Krankenversicherungsnovelle erkannte auch der Staatssekretär des Innern, Graf Posa- dowsky, an, »daß die Verbindung enger, systematischer sein sollte, als sie selbst durch diese Novelle hergestellt wird. Ich glaube aber, die Richtung, in der sich die sozialpolitische Gesetzgebung der Zukunft bewegen muß — und ich habe dies bereits in einer früheren Rede angedeutet — wird die sein, daß alle drei sozial politischen Gesetze in ein Arbeiterfürsorgegesetz verschmolzen, und da wird auch die Frage zu entscheiden sein, in welcher Weise dann eine solche einheitliche Arbeiterfürsorge organi satorisch zu gestalten ist.« Kurz darauf, am 20. April 1903, nahm der Reichstag folgende Resolution des Abgeordneten Trimborn an: »die verbündeten Regierungen zu ersuchen, in Erwägung darüber einzutreten, ob nicht die drei Versicherungsarten (Kranken-, Invaliden- und Unfallversicherung) zum Zwecke der Verein fachung und Verbilligung der Arbeiterversicherung in eine or ganische Verbindung zu bringen und die bisherigen Arbeiter versicherungsgesetze in einem einzigen Gesetz zu vereinigen seien.« Eingehender äußert sich Graf Posadowsky in der Reichstagssitzung vom 2. März 1905. »Wenn wir heute res integra hätten, würde doch kein ver nünftiger Mensch, glaube ich, daran denken, eine besondere Organisation der Krankenversicherung, eine besondere Organi sation der Unfallversicherung und eine besondere Organisation der Alters- und Invaliditätsversicherung zu schaffen. Unfall Krankheit und Invalidität sind doch drei, ich möchte sagen phy siologische Zustände, die miteinander in ihren Ursachen und Wirkungen eng Zusammenhängen. (Sehr richtig.) Das . sogen. System unserer sozialpolitischen Gesetzgebung ist lediglich ein Ereignis chronologischer Entwicklung. Würde man heute die sozialpolitische Gesetzgebung neu aufbauen, dann wäre, glaube ich, in diesem Hause auch nicht der geringste Streit darüber, daß eine einheitliche Organisation geschaffen werden müßte. (Sehr richtig und lebhaftes Bravo auf allen Seiten des Hauses.) Das würde den Gang des ganzen Werkes wesentlich verein fachen, verbessern und seine Kosten bedeutend verringern. Unterdes haben wir uns mit kleinen Hilfsmitteln beholfen. Wir haben in jedes Gesetz eine Reihe von Paragraphen gesetzt, die die gegenseitigen Rechte und Pflichten der Krankenkassenver sicherung, der Unfallversicherung und der Invalidenversicherung abgrenzen sollen. Aber trotz der sorgsamsten juristischen Fassung bieten natürlich diese Paragraphen Anlaß zu zahllosen Reibungen und Rechtsstreitigkeiten. Und weiter: durch dieses vielköpfige, verwickelte System wird natürlich auch die Wirk samkeit der Gesetze verlangsamt, und die Aufsicht über die Rentenempfänger leidet darunter, ganz abgesehen von der Er höhung der Verwaltungskosten.« In der Reichstagssitzung vom 6. Februar 1906 erklärte der Staatssekretär, das Reichsamt des Innern hoffe, den Gesetzentwurf bis Ende 1907 fertigzustellen. Die Arbeitgeber, welche durch die Arbeiterversicherung außerordentlich belastet sind, haben zweifellos ein Interesse daran, daß durch Vereinheitlichung die Lasten verringert oder doch wenigstens besser verteilt werden. Merkwürdigerweise haben die Berufsgenossenschaften, die Träger der Invalidenversicherung, amtlich noch keine Stellung zur Reformfrage genommen. Indessen geht aus gelegentlichen Aeußerungen und Vorträgen von Berufs genossenschaftsbeamten hervor, daß die Berufsgenossen schaften für Aufrechterhaltung der jetzigen Organisation in der Unfallversicherung eintreten werden. Auf dem nächsten Verbandstage der Berufsgenossenschaften wird die Reformfrage einen Hauptpunkt der Tagesordnung bilden. Dagegen hat ein Berufsgenossenschafts-Geschäfts führer, Lohmar, ein Programm zur Vereinheitlichung der Arbeiterversicherung aufgestellt. Lohmar betont ausdrück lich, daß er nicht als Vertreter der jetzigen Rechte der Berufsgenossenschaften auftrete, sagt vielmehr: »Man darf nicht deshalb an den überkommenen Einrichtungen an bisherigen Formen der Arbeiterversicherung hängen, weil sie manchem Beteiligten (die Krankenversicherung den Ar beitern, die Berufsgenossenschaften den Arbeitgebern) im Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung lieb geworden sind. Die Ein richtung, die Formen der Organisation sind nicht um ihrer selbst willen da, sie sind lediglich Mittel zum Zweck, und der Zweck, dem sie dienen, ist möglichst vollkommene Durchführung der sozialen Versicherung mit den denkbar einfachsten Mitteln.« Wiewohl Lohmar die Vereinigung der Arbeiterver sicherung mit allen Kräften erstrebt wissen will, bekennt er, daß in dem Augenblicke, wo eine befriedigende Lösung dieser Aufgabe erreicht ist, die bisherigen Organisationen ihre Daseinsberechtigung verloren haben. Er will nicht nur eine organische Verbindung, sondern zugleich auch eine materielle Verschmelzung. Wie die meisten Vor schläge, legt auch sein Vorschlag den Schwerpunkt .in den örtlichen Unterbau. Die örtlichen Verwaltungsstellen sollen nur einen kleinen Verwaltungsbezirk haben. Sie sollen selbständig, also nicht an andere Behörden angelehnt sein und tunlichst weitgehende Befugnisse haben. Zu diesem Vorschläge hat den Verfasser die Beobachtung bewogen, daß bei den Berufsgenossenschaften die Sektionen mit den umfangreichsten Befugnissen am allerbesten arbeiten, daher will er den lokalen Verwaltungsstellen nicht nur die Vor bereitung, sondern auch die Feststellung der Renten, die Ueberwachung der Entschädigten und die Beitragseinziehung übertragen wissen. Die ganze Organisation soll unter die Leitung von Berufsbeamten gestellt werden, die wegen der Notwendigkeit ihrer Unparteilichkeit nur Reichs- und Staatsbeamte sein könnten. Dem leitenden Beamten der örtlichen Verwaltungsstelle soll je ein Vertreter der Arbeit geber und Arbeitnehmer zur ehrenamtlichen Mitwirkung sowie ein Arzt zur Seite gestellt werden. Die Mittelstufe soll nach seinem Vorschläge die Landesversicherungsanstalt in ihrer gegenwärtigen Zahl bilden, jedoch unter Be schränkung der 8 bayerischen Anstalten auf etwa 3. Ueber ihnen soll dann das Reichsversicherungsamt stehen, für das er eine Trennung zwischen Justiz und Verwaltung erforder lich erachtet. Einen einheitlichen Vorschlag zur Zusammenfassung der drei Versicherungszweige macht Lohmar nicht. Er erörtert