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Nr. 63 PAPIER-ZEITUNG 2601 Ansichtskarten in England 1. Englisch-deutscher Waren-Austausch Ein Jahrhundert lang war Englands Industrie unsere große Lieferantin und versorgte uns mit allem, was wir brauchten, um die Schätze, die in der Erde ruhen, zu bergen, um die Ernten, die der Boden hervorbringt, heimzubringen, um den Verkehr zwischen den Landesteilen zu vermitteln, um unsere Wohnungen zu bauen und auszustatten, um uns zu kleiden, um das Leben behaglich zu gestalten durch die Erzeugnisse des Luxus und des Komforts, mit einem Worte zur Befriedigung unserer mannigfaltigen Bedürfnisse. Das Fach des Papiers und der Schreibwaren, dem wir angehören, und dem diese Zeitung dient, hat keine Ausnahme davon gemacht. Papier, roh, wie auch seine vielfachen Verar beitungen, alle Gegenstände für das Schreiben und Zeichnen kamen von drüben, und als die ersten Versuche begannen, sie im eigenen Lande herzustellen, mußte der wagemutige Industrielle sich wenigstens die Maschinen mit allem Zu behör bei unsern Vettern holen. Dies dauerte bis 1871, wo neben vielen sonstigen Aenderungen in unserem Wirtschafts leben auch hierin Wandel eintrat. Wir lernten von unsern Lehrmeistern und konnten manches bald besser machen als sie selbst, anderes wenn auch nicht besser so doch billiger, und unsere früheren Lieferer kauften es als gewiegte Kaufleute dann gern von uns. Wir hörten auf, nur immer die Nehmenden zu sein, und ein gleichmäßiger Austausch aller Erzeugnisse trat an die Stelle einseitiger Einfuhr; die beiden Länder wurden sich gegenseitig die besten Kunden. In dem verhältnismäßig engen Ausschnitt der gesamten Handelsbeziehungen, den unser Fach dar stellt, hat sich die Lage allerdings zu unsern Gunsten ver schoben, denn die Rimessen, die Deutschland für Waren lieferungen der Papierindustrie empfängt, sind erheblich größer, als diejenigen, die es zu geben hat. Wenige Waren nur zeugen noch von der ehemaligen Uebermacht eng lischen Gewerbefleißes; so sind noch englisches Whatmari und feines Briefpapier, engliche Farben und englische Stahlfedern in jedem Laden zu finden. Wie unübersehbar ist dagegen die Reihe derjenigen Erzeugnisse, die in unserer Ausfuhrstatistik unter der Abteilung »England« einher marschieren. Oft wird es schwer, zu entscheiden, ob man uns all dies abkauft, weil wir es besser oder weil wir es billiger machen als andere. Leicht ist die Entscheidung bei den Fackeln, die in Birmingham helfen mußten, Chamber lains Jubelfest zu verherrlichen, schwer dagegen bei den Un mengen von Rohpapier, die wir als Ueberschuß unserer Fabrikation und um den eigenen Markt zu entlasten hin überwerfen, welchem Zwecke ein Heer von rührigen Agenten und die regelmäßig in diesem Blatt erscheinenden Londoner Marktberichte dienen. Gewiß können wir aber besser her stellen die tausendfachen Erzeugnisse, mit denen unsere chromolithographischen Fabriken sich die Welt erobert haben, alles, was in dies weite Gebiet gehört: Kalender, Etiketten, Postkarten, Gemäldewiedergaben, Oeldrucke, Heiligenbilder, Malvorlagen, Bilderbücher, vor allem die un zähligen Abarten von Gelegenheitskarten, mit denen wir bei frohen Festen wie bei traurigen Anlässen unsern Mit menschen gegenüber unsere Empfindungen ausdrücken, und die sich gleichsam wie bunte Blumen um das vielfach verschlungene Gewirr gesellschaftlicher Beziehungen ranken. Eine ganze Industrie baut sich- auf dieser Ausfuhr auf; in Leipzig, Nürnberg, Berlin usw. finden tausend fleißige Hände lohnenden Erwerb dadurch. So unbedeutend, fast wertlos der einzelne Gegenstand ist, zu so gewaltigen Be trägen summieren sie sich in der Gesamtheit. So stark ist die Ausfuhr, daß manche Fabrik nur für England ar beitet. Andere, die nicht so weit gehen wollen, würdigen ihre Landsleute wenigstens insofern, als sie Entwürfe, die ursprünglich lediglich dem englischen Geschmack dienen sollten, nachher mit kleinen Aenderungen dem hiesigen Publikum vorsetzen. Oft genug begegnen einem auch in den Auslagen unserer Papierhandlungen Karten, die einen ganz angelsächsisch anmuten, die man im vorigen Jahre schon irgendwo in Oxford-Street gesehen zu haben glaubt, so daß mancher, der mit den Verhältnissen nicht vertraut ist, glauben könnte, es wäre englisches Erzeugnis und würde hier gekauft von wegen der leidigen Ausländerei der Deutschen. Dabei stammen sie vielleicht aus dem urdeutschen Nürnberg, wenn auch die darauf abgebildeten Kinder in Haltung und Ge sichtszügen englich erscheinen, und wenn auch die Frauen gestalten auf den Kalendern das Ideal einer Miß verkörpern. II. Vorstoß englischer Ansichtskarten England mußte all diese Bilderdrucke bei uns kaufen, bis sich in der letzten Zeit ein Wandel vollzogen hat. Jetzt sieht man in den Schaufenstern eine Reihe von Erzeugnissen der Vervielfältigungs-Technik, die in England hergestellt sind und englische Aufschriften tragen aber ohne den ver schämt in eine Ecke gerückten Zusatz: »Printed in Germany«, sie zeigen vielmehr die Aufschrift: »Printed in England«. Ich meine die Erzeugnisse der rührigen und unternehmenden Londoner Firma Raphael Tuck & Sons Ltd. Zu tausenden werden sie gekauft, und jeder Papierhändler wird es be stätigen, daß sie genommen werden, nicht weil sie englisch, sondern weil sie eigenartig sind. Es ist ein schwacher Trost für uns, daß es eigentlich ein deutsches Haus ist, das sich so hervortut, denn fast mittellos ist der Gründer der Firma aus Deutschland nach London gekommen, hat klein begonnen, indem er Leipziger chromolithographische Erzeugnisse hausierend in England vertrieb, bis sich sein Haus zu dem jetzigen Welthause ent wickelte. Vor einigen Jahren hat es ein Zweighaus in Berlin gegründet und trug so gleichsam den Kampf ins Land des Feindes. Vor 5 Jahren wurde die Firma in eine Aktiengesellschaft, und zwar mit dem für die Verhältnisse unseres Faches enormen Kapital von 10 Millionen Mark umgewandelt. Die Generalversammlung, die am 23. Juli in London stattfand, gab Anlaß zu einem Rückblick auf diesen Zeitraum. Mit Stolz wies der Leiter, Herr Adolf Tuck, Sohn des Gründers, darauf, daß, während in den letzten Jahren der Privatfirma der durchschnittliche Jahresgewinn 770 000 M. betragen hatte, sich dieser jetzt auf 1 Million M. beliefe, und daß außerdem noch 1400000 M. Reserven angesammelt seien. Noch in jedem Jahre seien sie gestiegen, 8 V. H. hätten regelmäßig als Dividende verteilt werden können; auch seien die Schwankungen im Ergebnis der einzelnen Ab teilungen sehr gering gewesen. Glückwunschkarten, die ursprünglich einzige Ware der Firma, gingen nach wie vor gut. Redner sprach auch über die im Oilette-Verfahren her gestellten Ansichtspostkarten des Hauses, die ihren Sieges zug weiter fortsetzten. Mit Zuversicht sprach er sich aus über die Ziele, die sich das Haus gesteckt habe, und mit rückhaltloser Offenheit, die vorteilhaft absticht von der üb lichen Geheimniskrämerei in den Generalversammlungen, über die Mittel, die zu diesen Zielen führen sollen. III. Wettbewerbe zur Verbreitung von Ansichtskarten Adolf Tuck sagte in der erwähnten Generalversammlung unter anderem: »Vor 8 Jahren begannen wir mit der Einführung der Ansichts postkarten in Groß-Britannien, und seit jener Zeit sind wir un ablässig bemüht gewesen, die Verbreitung dieser köstlichen, der Kunsterziehung wie nichts anderes dienenden Grußboten zu fördern, mit einem Erfolge, den selbst Mr. Asquith, der Finanz minister, bereitwillig in seiner Budgetrede anerkannt hat. Aber wir haben bisher nichts unternommen, was den Absatz der Post karten mehr steigern konnte, als den diesjährigen Wettbewerb. Die Gesamthöhe der ausgesetzten Preise beträgt rund 135000 M, und ihre Zahl 1260. An diesen Zahlen können Sie ermessen, wie überzeugt die Verwaltung davon ist, daß sie auf diese Weise den Absatz ungemein steigert.« Der Wettbewerb ist eingeteilt in drei, von einander unabhängige Abteilungen, deren sinnreichste »Tucks Post- karten-Kette«. ist, die wir nachstehend schildern wollen. Sie knüpft an an die Eigentümlichkeit des englischen Lebens, gemeinnützige Anstalten der Krankenpflege und Nächstenliebe durch private Sammlungen und Beisteuern zu gründen und zu erhalten. Wer nun beabsichtigt, einem solchen Unternehmen zu helfen, fängt eine Postkartenkette zu dessen Gunsten an, d. h, er sendet ihm eine oder mehrere von Tucks Postkarten und veranlaßt seine Freunde, ein Gleiches zu tun; diese wirken wieder auf ihre Freunde und so weiter ins Endlose. Diejenige Anstalt, sei es Krankenhaus oder Kinderkrippe oder Lungenheilanstalt oder Arbeitshaus oder Schule, die nach Jahresfrist die meisten so erhaltenen Tuck-Karten einsenden kann, erhält von den 50 ausgesetzten Preisen den höchsten, nämlich 20000 M. Ferner wird auch derjenige, der die Anregung zu