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3194 PAPIER-ZEITUNG Nr. 77 die ich nicht näher hier erörtern kann, ist die Forderung durchaus unberechtigt. , Zur Durchführung der gesamten Versicherung sollen unter Aufhebung der jetzt bestehenden Krankenkassen, Be rufsgenossenschaften und zugelassenen Kassenrichtungen allgemeine Versicherungsanstalten errichtet werden, welchen bestimmte räumlich abgegrenzte Bezirke mit nicht unter 100000 Einwohnern zuzuteilen sind. Die Versicherungs anstalt soll für die Versicherung sämtlicher in ihrem Be zirke versicherten Personen zuständig sein. Zur Erleichterung des Verkehrs mit den Arbeitgebern und den Versicherten sollen dieselben gehalten sein, in ihrem Bezirke nach Be darf örtliche Verwaltungsstellen einzurichten. Die Ver sicherungsanstalten sollen als Organe für die künftige Witwen- und Waisenversicherung sowie für die künftige Arbeits losenversicherung angesehen werden. Die Mittel zur Gewährung der vorgesehenen Leistung sollen vom Reiche, von den Arbeitgebern und von den Versicherten aufgebracht werden. Das Reich soll zu jeder Invaliden- und Altersrente einen Zuschuß von 100 M. ge währen, während die Arbeitgeber und Versicherten laufende Beiträge zu gleichen Teilen zu zahlen haben. Für die Bei träge sollen nach dem Einkommen in Klassen abgestufte einheitliche Sätze für sämtliche Versicherungsanstalten gelten. Diese Beträge sollen in einheitlichen feststehenden Beträgen für die drei Versicherungszweige: Krankheit, Unfall, Invalidität und Alter zu getrennter Verwaltung und Verwendung kommen, sodaß jeder der drei Zweige Reserve- und Deckungsfonds getrennt aufbringt. Für bestimmte, mit erheblich höherer Unfallgefahr verbundene Berufe soll ein Zuschlag zu den Einheitssätzen der betreffenden Versicherten erhoben werden. Arbeitnehmer und Arbeitgeber jeder ein zelnen Versicherungsanstalt sollen berechtigt sein, Mehr leistungen auf dem Gebiete der Krankenversicherung an die Versicherten zu gewähren und zur Deckung der ent stehenden höheren Kosten Zuschläge zu den Beiträgen für die Krankenversicherung beschließen können, und zwar sollen die Beiträge für die einzelnen Kalenderwochen be rechnet und erhoben werden. Zum Zwecke der Bemessung der Beiträge sowohl wie der Versicherungsleistungen sollen Lohnklassen gebildet werden, denen die Versicherten ihrem durchschnittlichen Arbeitsverdienst entsprechend zuzuteilen sind. Diese Lohn klassen sollen den Mindestbetrag von 300 M. als Jahres arbeitsverdienst umfassen und kleinere Abstufungen bei den niedrigen, größere Abstufungen bei den höheren Klassen ergeben. Für alle-Versicberungszwecke soll das Jahr zu 300, der Monat zu 25 und die Woche zu 6 Arbeits tagen einheitlich berechnet werden. Was die Verwaltung der Versicherungsanstalten angeht, so schlägt die Petition vor, dieselbe dem Vorstande und der Generalversammlung zu übertragen, die sich beide zu einem Drittel aus Vertretern der Arbeitgeber, zu zwei Dritteln aus Vertretern der Versicherten zusammensetzen. Der Vorstand soll von der Generalversammlung gewählt werden, die Generalversammlung soll von Vertretern gebildet werden, die von den Arbeitgebern und den Versicherten aus ihrer Mitte zu wählen sind. Zur Festsetzung von Unfall- und Invalidenrenten sollen Kommissionen von Sachverständigen gebildet werden. Man kann annehmen, daß die Vorschläge des Zentral verbandes der Ortskrankenkassen Deutschlands, betreffend die Verteilung der Stimmenzahl in der Leitung und Ver waltung der Versicherungsanstalt und ihrer Organe, wohl kaum die Zustimmung der gesetzgebenden Faktoren finden werden. Freund hat durchaus recht, wenn er behauptet, eine derartige Stimmenverteilung führe zur völligen Ohnmacht der Arbeitgeber. Die Reglung der Aerztefrage ist in der Petition merkwürdigerweise übergangen. Zu einer Ein führung der freien Aerztewahl werden die Krankenkassen wohl nicht geneigt sein, wie namentlich der Aerztekonflikt in Leipzig gelehrt hat. Selbst aus Kreisen der Ortskranken kassen sind Stimmen laut geworden, die mit vielen Einzel heiten dieser Vorschläge durchaus nicht einverstanden sind. Einer Dreiteilung der Versicherungsbeiträge werden die gesetzgebenden Faktoren wohl zustimmen. Die Konsequenz daraus wird die sein, daß sie auch die Verwaltung ent sprechend zusammensetzen. Unter allen Vorschlägen verdient an erster Stelle der Vorschlag von Bödiker, dem ersten Präsidenten des Reichs versicherungsamtes, erwähnt zu werden. »Der Rock, der dem Knaben paßte, paßt ihm als Mann nicht mehr.« Mit diesen Worten leitete Bödiker sein treffliches Referat auf dem internationalen Arbeiterversicherungskongreß zu Wien vom 17.—23. September 1905 ein. Bödiker tritt ein für Verbindung der eigentlichen Rentenversicherung (Unfall-, In validen- und Altersrenten) und für Angliederung der Krankenversicherung. Dabei geht er von dem Gedanken aus, es handle sich bei der Rentenversicherung um ver hältnismäßig seltene, aber dauernde Leistungen von ver hältnismäßig hohem Kapitalwert, dagegen bei den Kranken versicherungen um häufig vorkommende, vorübergehende Unterstützungen von verhältnismäßig geringem Kapitalwert, wozu noch als vierter Gesichtspunkt komme, daß die Kranken unterstützung unverzüglich gewährt werden müsse, während es mit der Unfallrente 13 Wochen Zeit habe, und während die Invaliden- und Altersrenten sich teils tatsächlich an die Krankenunterstützung (Krankenhauspflege) anschlössen, teils mit Muße von langer Hand vorbereitet werden könnten. Bödiker hält deshalb für die Krankenversicherung lokale, leicht erreichbare, entscheidende Organe für unentbehrlich: »Man kann den Krankenversicherungsorganismus nicht durch den wegen der Höhe der Objekte zu gründlicherer und lang samerer Arbeit gezwungenen Organismus der Rentenversicherung aufsaugen lassen, einen Organismus, der wegen der breiteren Schultern, die die Rentenversicherung tragen müssen, natur gemäß weniger allgegenwärtig ist. Andererseits begegnet die Gewährung der Krankenunterstützung aus größeren allgemeinen Fonds wesentlichen Bedenken (massenhafte Inanspruchnahme der Fonds bei Arbeitslosigkeit im Winter).« Dagegen steht nach Bödiker nichts im Wege, die Kran kenkassen an die Organe der Rentenversicherung zu gegen seitiger Unterstützung anzugliedern. Wenn demnach die Krankenversicherungs - Organisation neben der Renten versicherung »unbeschadet der Herstellung eines engeren Zusammenhangs unter ihnen und nötigenfalls der gleich zeitigen Einführung aller drei Beiträge« bestehen bleiben soll, so sollen aber die Unfall-, Invaliditäts- und Alters versicherungs-Organisationen in Verwaltung und Justiz grundsätzlich vereinigt werden. Und zwar in der Weise, daß die Invaliditäts- und Altersversicherungsanstalten unter der Bezeichnung »Landesversicherungsanstalten« den Stamm für Unfall-, Invaliditäts- und Altersversicherung abgeben, das Regelverhältnis bilden. Neben ihnen sollen jedoch die gewerblichen Berufsgenossenschaften für beide Renten versicherungen nach Analogie der zugelassenen Kassenein richtungen bestehen bleiben, soweit nicht die eine oder andere Berufsgenossenschaft mit einer anderen vereinigt wird. Da die landwirtschaftliche Unfallversicherung ohne hin sich mehr in der Richtung der Invaliditäts- und Alters versicherungs-Organisation entwickelt hat, soll sie mit den Landesversicherungsanstalten verschmolzen werden. Die sonstige Unfallversicherung, soweit sie nicht von den Berufs genossenschaften durchgeführt wird, geht auf die Landes versicherungsanstalt über, die ihrerseits die Invaliditäts- und Altersversicherung in den übrigen berufsgenossenschaft lichen Betrieben an die Berufsgenossenschaften abgeben. Auf diese Weise würden die Invaliditäts- und Alters versicherungsanstalten ein Drittel an die Berufsgenossen- schäften abgeben, zwei Drittel dagegen von den land wirtschaftlichen Berufsgenossenschaften usw. gewinnen: »Anstalten und Genossenschaften würden einen reicheren Inhalt erhalten, die Arbeiter nur mit einem Organ für beide Versicherungen zu tun haben, die Schiedsgerichte, welche jetzt für jeden Zweig getrennt bestehen, würden jetzt vereinigt, auf die Hälfte verringert und mannigfacher beschäftigt werden.« Den Landesversicherungsanstalten soll dann dieSektions- bildung der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften übertragen werden, wodurch sie reichere Gliederung auch für die Zwecke der Invaliditäts- und Altersversicherung erhalten. Dagegen fällt die den unteren Verwaltungs behörden gegenwärtig zustehende Vorbereitung der In validitäts- und Altersrenten weg. Die Vertrauensmänner der Unfall- und der Invaliditäts- und Altersversicherung sollen an Zahl wesentlich verringert werden. Auf alle Einzelheiten des Vorschlages von Bödiker kann ich mich hier nicht einlassen. Es sei nur noch be merkt, daß Bödiker für die Invaliditäts- und Altersver sicherung die Beitragsmarke sowie das Kapitaldeckungs- Verfahren beseitigt haben will. Bezüglich der Angliederung der Krankenversicherung