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I I ZZSZZLsZLLSoS L „Ann, Ann, komm doch rasch einmal her!" sprang eine andere Stimme hinter dem Haus hervor und dazwischen, „so komm doch rasch mal her." Timm wandte den Kopf zur Seite und blieb still stehen. Das Herz machte ein paar wartende, leise Schläge und dann sprang es dumpf und dröhnend. „Die Fenster größer gelassen ..." wiederholte Timm, seine Stimme war fern und fremd. „Ich wollte ... ich wollte da nämlich eine Veranda hinbauen ..." Er machte eine unbestimmte, erklärende Handbewegung. „Ach!" lachte die Helle Stimme auf, „gewiß sind Sie Architekt oder ...?" Das Helle Blau ihrer Augen war jetzt ganz auf Timm gerichtet. Das Mädchen kam einen unsicheren Schritt näher heran, ihr Gesicht wurde fragend und gespannt: „Ich kenne Sie doch ..." Nach rückwärts gewandt: „Ursel, Ursel ... so komm doch mal hierher", und wieder zu Timm in ratsoser Verlegenheit: „Ich kenne Sie doch." Sie wurde blutrot im Gesicht, hob ihre Hände wie zur Abwehr und ließ sie wieder sinken. „Natürlich sind Sie es. Ach, ach." Dann verstummte sie wie jemand, der keinen Ausweg findet. „Sicher sind Sie böse auf uns gewesen, daß wir uns nicht noch einmal bei Ihnen bedankt haben", sagte später Ursel, sie war größer und schlanker als ihre Schwester und beherrschte die Lage in Worten und Bewegungen wie eine Dame. „Ich hätte Sie übrigens sofort wiedererkannt. Wir wollten noch warten, bis wir hier aus dem Gröbsten heraus waren, und dann wollten wir Sie bitten, uns zu besuchen." Sie sah ihn lachend und vergnügt an und sprach über das unerwartete Wiedersehen, über das Haus, über das Wetter und über den Wald. Nur sehr einsam sei es hier oben. „Vielleicht zu einsam", wiederholte sie mit Nach druck, und Timm nickte ihr zu, denn sie sah ihm in die Äugen. Ann saß auf zwei Koffern, klein und verstört, und sagte kein Wort. Aber Timm hörte nur die Helle, lachende Stimme und sah wieder den endlosen, blauen Himmel. Der ganze Himmel war in zwei Augen gesunken und strahlte ihn zum Greifen nahe an. Einmal kam man doch an das Ziel. Er räusperte sich verlegen, wollte etwas sagen, fand aber nicht das richtige Wort, und hörte immer nur auf die Stimme. Ursel plauderte lustig: Natürlich freue sie sich schrecklich, daß sie sich wieder begegneten. Einmal wäre es ja doch geworden. Vater wollte an ihn schreiben und ihn einladen. Ja, der Vater müsse viel geschäftlich unterwegs sein. Deshalb wollte er auch hier draußen in der Natur wohnen. „Ja", nickte Timm, „es sei hier sehr ruhig und alles Natur." „Nur zu einsam", meinte Ursel, und verzog ein wenig den Mund. „Daran würde man sich gewiß gewöhnen. Der Blick über den Hang in die Ebene", sagte er, und fügte fast schuldbewußt hinzu: „Und auf die Strecke". Nein, die Züge würden Wohl nicht sehr stören. Etwas Lärm gäbe das ja immer, aber ob denn der Verkehr auf dieser Strecke so lebhaft wäre? „Nicht sehr", bestritt Timm. „Gewiß nicht, und die Züge führen ja mich nur vorbei, es wären keine Weichen und keine Signale zu beachten. Ein paar Minuten höch stens, dann wären sie schon vorüber." „Ich finde das aber gerade schön, immer die Züge zu sehen und so ..." „Ja, man kriegt dann bloß Sehnsucht nach der Stadt oder mit dem D-Zug zu verreisen. Man merkt dann die Einsamkeit doch immer doppelt." Timm nickte. Sicher spürte man seine Einsamkeit dann doppelt. Man saß hier oben, und unten rollten die Züge vorbei. „Aber so sehr weit haben Sie es ja zur Stadt auch nicht", sagte er wieder wie eine Entschul digung, „und dann können Sie ja schnell mal verreisen, wenn es Ihnen zu langweilig wird." „Ich verstehe dich nicht, Ursel, erst warst du doch selber von dem Plan begeistert, hierherzuziehen", sagte Ann und sah ihre Schwester vorwurfsvoll an. „Ich finde es bezau- I bernd schön, und wenn das Durcheinander erst mal vor- . bei ist..." : „Ja, ja, dir wird es bestimmt besser gefallen als mir", I meinte Ursel. Sie zog die schmalen Bögen über den , Augen noch höher. „Ich muß ab und zu mal Menschen ; sehen und Stadtlust haben, Musik hören und über» > Haupt ..." Sie wischte die kommenden Sorgen mit einer l Bewegung ihres Armes fort, „aber jetzt wollen wir uns I freuen, daß wir Sie wiedergefunden haben. Wußten Sie ; denn, daß wir hier oben bauen?" „Nicht eigentlich bestimmt", log Timm. Irgend je- I mand hatte einmal eine solche Andeutung gemacht, aber I er hatte das vielleicht wieder vergessen. ! Leider könnten sie ihrem Gast fast gar nichts anbieten, ! bedauerte Ursel. Das wäre zunächst der einzige bewohn- I bare — allerdings auch nicht bewohnbare — Raum im j Hause, aber in acht Tomen würde es schon ganz anders > sein. Wenn erst überall Fenster und Dielen wären. „Tüchtig Heizen müssen Sie dann, damit es nicht I feucht wird", meinte Timm, um auch einmal wieder etwas : zu sagen. ; „Siehst du, das sagt Herr Timm auch, feucht wird I es", rief Ursel. „Ich habe ja immer gesagt, so eilig wäre I das Umziehen nicht, und zuletzt werden wir uns alle ; hier noch was wegholen." Timm sah immer nur die stolzen Bögen, die wie I Brücken über ihre Augen führten. Unermeßlich blau und I tief war jeder Blick aus diesen Augen. Er hatte nie zu- ; vor so schöne Augen gesehen. Was denn seine Frage wegen der Veranda vorhin I bedeutet hätte, wollte sie im Hinausgehen noch wissen. ' „Wenn Sie doch kein Architekt sind." > Ach, nur so, er habe das nur so gefragt, weil er sich I dafür interessiere. Natürlich sei eine Veranda nicht nötig, I wo doch die Fenster größer seien. Timm stotterte und schluckte. Ursel ging vor ihm ! her, leicht und schwebend. Sie trug ein enganliegendes, I rot und weiß gemustertes Kleid. Sie sprang mit einem > Satz über eine Karre, die den Weg versperrte, und wollte » dann unvermittelt wissen, wie alt Timm eigentlich sei. ! Timm sagte es, aber sie schien es doch nicht mehr > zu hören. > „Sie müssen uns recht bald wieder besuchen", bat ; Ann, als sie sich verabschiedeten. „Vater muß Sie kennen- » lernen, und dann müssen Sie doch auch sehen, wie wir I uns einrichten." ! Er wollte schon recht bald wiederkommen, versprach ! er. Von hier aus konnte er auf den Hang zur Strecke ' sehen. Der Eilzug mutzte jeden Augenblick dort vorbei- I fahren. > * : Die Lokführer nickten sich zu, wenn sie sich irgendwo ' trafen. Der Gruß war wie eine Aufforderung zur Wach- I samkeit oder wie ein gutes Wort, was man sich mit auf I die Fahrt gibt. Heute traf es den und morgen den, und ! der Verrückte tauchte bald hier und bald dort auf. Er ' kam nachts in die Dörfer, stahl Brot und manchmal Hüh- I ner, die Bauern steckten die Köpfe zusammen und sagten, I es sei der Teufel. Das Grauen flog von Station zu ! Station. ' Der alte Schmidt witterte mit starken Augen jeden I vorbeifahrenden Zug. Auch wenn ihn der Bahnwärter » Reiste abgelöst hatte, stand Schmidt neben dem Blockhaus ! und wartete ans die Faust, die noch einmal zuschlagen I würde. Einmal würde sic wieder da sein, die Faust, die I nach dem alten Scb nidt mit Steinen warf. Er fühlte das, » wie man ein heranfziehendes Wetter in den Knochen ! spürte. In großen und immer weiteren Kreisen trieb ihn I die Unruhe um das Blockhaus, über die Lichtung binwcg I und zwischen die großen, braunen und roten Stämme. > Hier mußte das Tier damals lauernd gestanden haben ! und dann riß ihn das Signal nach der anderen Seite. ! Noch zehn oder zwanzig Schritte und alles wäre vielleicht I vorbei gewesen. ' (Fortsetzung folgt.) k o 8 »Q 6 L »2- sLZ« Ls Z -LL 8 1-Ä (2/ o Drei Brüder Von Hans Bethge (Nachdruck verboten.) Vor langer Zeit, als in Berlin noch ein Kurfürst von Brandenburg regierte, lebten dort drei Brüder, die nicht nur durch die starken Bande des Blutes, sondern auch durch eine vorbildliche geschwisterliche Liebe miteinander verbunden waren. Sie hießen Peter, Wilhelm und Klaus und waren im Alter nur wenige Jahre voneinander ge trennt, und was ihren Charakter anlangte, so war einer dem anderen zum Verwechseln gleich. Sie führten ein Dasein in Harmonie und ruhiger Sicherheit, an dem die anderen Menschen Freude hatten, waren immer guter Laune, verrichteten ihre Arbeit mit Lust, und jeder ihrer Mitbürger empfand es als ein Vergnügen, wenn er mit ihnen zu schaffen hatte. Eines Tages brach das Verhängnis über sie herein, wenigstens über den Jüngsten von ihnen, Klans — und damit über alle drei. Klaus hatte den Abend bei einer befreundeten Familie zugebracht und wanderte nun allein zur Nachtzeit heim. Als er durch die menschenleere Klosterstraße kam, sah er dicht an der Mauer eines Hau ses einen Mann mit reglos ausgestreckten Gliedern liegen. Er neigte sich verwundert auf ihn nieder, betastete ihn, spürte Blut an den Fingern und erkannte schaudernd, daß hier jemand umgebracht war. Während er noch überlegte, was er tun sollte, nahten zwei Wachtleute, fragten ihn, was er hier zu vollbringen habe, und als sie den Toten erblickten, nahmen sie Klaus fest und brachten ihn auf die Wache. Dort fragte man ihn aus, er versicherte, daß er überhaupt nichts wisse, und beschwor seine Unschuld, an die man nicht glaubte. Er wurde in das Gefängnis geworfen, zu seinem Entsetzen und zum Entsetzen seiner Brüder, die genau wußten, daß der Verdächtige unschuldig war. Die Polizei gab sich Mühe, einem anderen Täter auf die Spur zu kom men; aber alle Versuche mißlangen. So wurde Klans vor den Richter gestellt und, da sich der furchtbare Verdacht gegen ihn allein richtete, zum Tode durch den Strang ver urteilt. Er rief den Richter an, daß er mit der Tat nichts mehr zu tun habe als mit der Erschaffung der Welt — seine Versicherungen blieben ungehört, und er wurde in den Kerker zurückgeführt, um dort seiner Hinrichtung ent gegenzuharren. Und nun geschah etwas Unerwartetes. Am nächsten Tage nämlich meldeten sich die beiden Brüder des Ver urteilten, Peter und Wilhelm, beim Richter und eröffne ten ihm, daß sie beide gemeinsam die Tat verübt hätten. Sie hätten schon immer einen Haß gegen jenen Menschen gehegt, der ihnen sein Lebtag nur zu schaden gesucht hätte, und da sie ihm unversehens bei Nacht in der Klosterstraße begegnet wären, hätten sie ihn getötet. Sie hätten gehofft, daß ihr Bruder Klaus wegen mangelnder Beweise frei- gesprochen würde. Nun aber, da er verurteilt sei, stellten sie sich, von ihrem Gewissen getrieben, dem Richter, da sie nicht mit ansehen könnten, daß der Unschuldige ihretwegen den Tod erleid«. Der Richter hörte diese Worte mit wachsender Ver wunderung. Er ließ den Verurteilten aus seiner Zelle herbeiholen, stellte ihn seinen Brüdern gegenüber und teilte ihm mit, was diese soeben gestanden hätten. Klaus zuckte ein wenig zusammen, senkte für einen Augenblick die Augen, riß sich mit Gewalt empor und sprach: „Was meine Brüder ausgesagt haben, ist nicht die Wahrheit. Aber ich selbst bin jetzt gezwungen, die Wahr heit zu verkünden, da sich jene in brüderlicher Liebe für mich opfern wollen. Wenn ich bisher geleugnet habe, so ist es aus Feigheit geschehen. Denn ich allein habe das Verbrechen in jener unseligen Nacht begangen, es ist aus Eifersucht geschehen, da jener Mann sich unterfing, einem Mädchen nachzustellen, dem mein Herz gehört. Ich allein bin der Schuldige, und es war ganz in der Ordnung, daß man mich sogleich auf die Wache und dann vor den Rich ter brachte. Ich bin zu Recht verurteilt worden und er warte meine Strafe." Der Richter geriet durch diese Worte in die größte Verwirrung und sah keine Möglichkeit mehr, wie er eine so undurchsichtige Angelegenheit zu Ende führen sollte. Er > überlegte, daß es noch einen Ausweg gab: sich an den Kur fürsten zu wenden. Der Richter wurde bei dem Herrscher vorgelassen und berichtete mit bewegten Worten die rätsel- haften Vorgänge. Der Kurfürst trat an das Fenster, sah eine Weile schweigend hinab, wo die Zweige junger Weiden das Wasser der langsam fließenden Spree berührten, dann wendete er sich an den Richter und sprach: „Ein Gottes urteil soll entscheiden, — denn hier versagt die Weisheit der Menschen. Jeder der drei Brüder soll eine junge Linde auf dem Heiligengeistfriedhof pflanzen, zu gleicher Zeit, und zwar sollen sie nicht die Wurzeln der Bäume in die Erde stecken, sondern ihre Kronen. Wessen Linde unser Herrgott grünen läßt, der ist unschuldig; wessen Linde ver dorrt, der ist der Täter und soll den Tod erleiden. So mag es geschehen, die Weisheit Gottes wird den Schuldigen klar erkennen lassen." Der Richter verneigte sich, ging und ließ die nötigen Anordnungen treffen. An einem sonnigen Frühlings morgen wurden die drei Brüder von der Obrigkeit zu dem Friedhof hinausgeleitet, jeder eine junge Linde über der Schulter. Sie schritten aufrecht und mft ernsten Mienen, und eine Menge Volkes wälzte sich neugierig hinter ihnen her. Aus den Fenstern blickten die Leute mit wehmütigem Empfinden herab und gaben ihnen ihre besten Wünsche mit, denn keiner wollte an das Verbrechen glauben, dessen sich diese drei so leidenschaftlich bezich tigten. Auf dem Friedhof knieten die Brüder hin und pflanz ten mit sorgsamen Händen ihre Bäumchen auf jene un gewöhnliche Art, die ihnen vorgeschrieben war. Dann er hoben sie sich, verrichteten ein Gebet und kehrten, vom Strom der Menge umflutet, in ihre Gefängniszellen zurück. Nun geschah wieder etwas Sonderbares. Es waren noch nicht zwei Wochen vergangen, da fingen auf dem Friedhof alle drei Linden an den in die Luft gehobenen Wurzeln mit solcher Macht zu grünen an, wie sonst auch die auf natürliche Weise gepflanzten Bäume in so kurzer Zeit nicht auszuschlagen pflegen. Blatt neben Blatt sproßte hellgrün und strotzend aus dem Wurzelstock her- vor, zur Verwunderung aller, dis es sahen. Gottes Weis heit hatte gesprochen: Alle drei Brüder waren unschuldig. Und der Richter selbst begab sich freudestrahlend in ihre Zellen, um ihnen das Wunder zu verkünden und ihnen die Freiheit wiederzugeben. Der Kurfürst ließ sie vor sich kommen und unterhielt sich lange und gütig mit ihnen. „Ihr habt uns große Sorge gemacht", sagte er, „aber der Himmel hat euch Gerechtigkeit widerfahren lassen." Die Kronen der Linden wuchsen mit der Zeit zu einem dichten Dach ineinander, so daß sie sich in Liebe zu um armen schiene». Sie bildeten die Zierde des Friedhofes, und noch die kommenden Geschlechter betrachteten sie mit Bewunderung. Peter, Wilhelm und Klaus haben noch lange Zeit gelebt, in schöner Eintracht, sich selbst zum Glück und allen anderen Menschen ein Beispiel. Goldene Worte Sorgen trug ich in den Wald hinaus, Blütenzweige bring' ich mit nach Haus; Was dazwischen hat gelegen, All das Hin und Her von Lust und Pein, Bis zum vollen, gold'nen Frühlingssegen, Soll mein andächtig Geheimnis sein! Anna Ritter. * Früher, da ich unerfahren Und bescheidner war als heute, Hatten meine höchste Achtung Andre Leute. Später traf ich auf der Weide Außer mir noch andre Kälber, Und nun schätz' ich, sozusagen, Erst mich selber. Wilhelm Busch.