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Kollegien hörte, arbeitete er zu Hause. Er warf Bücher auf > hen Fußboden, daß das ganze Haus dröhnte, entschuldigte i stch bei Timm: „Es war mir zu still." „Es ist mir zu still; ich gehe jetzt in irgendeinen Bier- I keller", sagte Polk zu Timm, „aber denken Sie, jetzt ist > mein letzter Zehnmarkschein fort. Einfach fort. Gestern lag , er noch an seinem Platz... Hier wird gestohlen, mein i Perehrtester, sehen Sie sich vor, aber zunächst pumpen I Me mir einen anderen Zehner..." Polk wedelte mit » Weißen Handschuhen vor Timm herum. Der glaubte erst noch an einen Ulk, wer weiß, wo Polk I seine Scheine ausgab. Aber Polk gab eine genaue Beschrei- I bung seines Verlustes, derweil kramte Timm in seinen ; Sachen herum und erschrak. Der kleine Betrag, den er » immer in einer Blechschachtel aufbewahrte, war auch ver- l schwunden. Es war nicht viel gewesen, aber Polk hatte I recht: Hier wurde gestohlen . . . Er nahm aus der Brieftasche einen Schein und reichte » ihn Polk, der rasch damit verschwand. Das Geld aus der I Schachtel war fort, zwei silberne Manschettenknöpfe fehl- ! ten. Timm sah sich nm, und dann war kein Zweifel mehr: ' Auch die Zeichnung war fort. Wenn schon gestohlen » wurde, dann mußte ja auch die Zeichnung fehlen, natür- I ltch! Und nicht etwa eine von den vielen herumliegenden, I sondern nur die fertige, fehlerfreie, die vielleicht die ' Lösung jahrelanger Fragen enthielt. Ein Unglück darf » nicht allein kommen, immer findet sich Gesellschaft zu ihn«. I Wie betäubt saß Timm auf seinem Platz. Jetzt mußte I man still sitzen und hinnehmen. I Er kramte dann noch eine Weile in den Papieren her- ' um, aber wozu, davon kam die Zeichnung nicht wieder I herbei. Die Wiese war fort, also mußte auch die Zeichnung I fort. Was kam nun noch hinterher? Nur keine Aufregung i und Anstrengung! Die Zeichnung war fort, und nicht vor ' einer Woche oder einem Monat, sondern heute oder gestern, I wo sie vielleicht fertig war ... Warum redeten die Menschen auf der Straße so laut, i ihre Stimmen klangen schrill und zornig. In den Schläfen ! stieg ein feiner, ziehender Schmerz auf. Schlich da nicht schon wieder jemand an der Tür vor- > hei. Timm riß die Tür auf, aber da war nur die frühe ! Dunkelheit des Herbstabends. Er schloß die Fenster, um ! die Stimmen von draußen nicht mehr hören zu müssen. ! Knackte die alte Treppe? Der Wurm bohrte knisternd in I den Balken und die Dielen ächzten unter jedem Schritt. ! Das Haus war still und doch voller Erwartung und Ge- : schehnisse. Frau Gröber kam gewichtig quer über die Straße I und steuerte dem Hauseingang zu. ' „Ja, ja, heute morgen war er da", nickte sie, „aber ! nur auf einen Sprung ... was ist denn ... was soll denn I sein? Warum fragen Sie denn so nach ihm?" Das Mitz- I trauen stieg jäh in ihr auf. Und dann war sie atemlos i und aufgeregt: „Er hat doch nichts getan ... er hat doch ' nichts . . ." Sie brach erschrocken ab und zwang sich zu I einem beruhigenden Lächeln. „Nein, nein, er war ja nur I auf einen Sprung hier. Geld wollte er von mir haben ! für Näscherei, weil doch heute Jahrmarkt ist . . ." „Und haben Sie ihm Geld gegeben?" fragte Timm weiter. „Nein . , . ja . . . etwas . . .", stotterte Frau Gröber I und verfärbte sich allmählich. „Herrn Polk fehlen nämlich zehn Mark und mir sieben ! . aber das ist nicht so wichtig . . . mir ist da außerdem I noch eine Zeichnung weggekommen." ; „Weggekommen? Weggekommen?, sagen Sie . . . in ' meinem ehrlichen Hause. Gestohlen wollen Sie sagen . . . I in meinem ehrlichen Hause wird gestohlen, sagen Sie?" I Ihre Stimme war schreiend und schrill: „Sie müssen das i zurücknehmen auf der Stelle . . ." Timm versuchte, die Aufgeregte zu beruhigen: „Fort I ist das Geld jedenfalls. Ich kann es verschmerzen, aber I die Zeichnung muß wieder herbei. Von ihr hängt viel ab." „Gestohlen, gestohlen, in meinem ehrlichen Hause", > jammerte Frau Gröber fassungslos. „Wenn die Zeichnung morgen wieder an ihrem Platz I liegt, ist mir überhaupt nichts gestohlen worden. Ich ver- j gesse das andere dann wieder!" Aber da verlor die Frau den letzten Rest von Beherr- I fchung. Alle Enttäuschung, die Timm ihr bereitet haben mochte, entlud sich in einer Flut von Vorwürfen. „Warum l haben Sie Ihre Sachen nicht besser aufgehoben? Warum ' liegen die Papiere so auf dem Tisch herum? Warum und. i warum?" Timm wurde noch kälter, hier war mit Vernunft nichts I mehr auszurichten. „Ich bitte Sie, die Sache bis morgen ' in Ordnung zu bringen, sonst muß ich leider die Polizei ! benachrichtigen." Die Tür knallte ins Schloß. * „Ich habe die Polizei nicht benachrichtigt", sagte i Timm zu der in Tränen und Verzweiflung aufgelösten I Frau Gröber, als ein paar Tage später ein Polizist ins ; Haus trat. „Ach nein, ach nein, daß mir das passieren muß ...» Ach Gott, ach Gott, was soll nun werden? Ich kann l doch nichts dafür, ach Gott, ach Gott . . ." „Nun seien Sie endlich einmal still, ich muß Herrn ; Timm verschiedenes fragen Man kann ja sein eigenes i Wort nicht mehr verstehen", sagte der Polizeiwachtmeister I Schnabel. Wann Herr Timm den Verlust gemerkt habe, und ob ; schon früher etwas gestohlen wäre. Frau Gröber zuckte i wie unter einem Stich zusammen. „In meinem ehrlichen ! Hause. Ach Gott, ach Gott", jammerte sie noch einmal. j Dann ergab sie sich mit einem furchtsamen Blick auf den ; Polizeibeamten in ihr Schicksal. Timm erklärte die Sache, soweit er konnte. Als er I gefragt wurde, ob er vielleicht einen bestimmten Verdacht s habe, überlegte er einen Augenblick, aber dann sagte er, ; daß Frau Gröbers geisteskranker Neffe eS gewesen sein > könnte. Frau Gröber wehrte sich nicht mehr. Nun würden sie ! also beide eingesperrt, ihr Neffe und sie. Die Schande ; könnte sie nicht überleben. Gestern war Jahrmarkt ge- i wesen, und der Mensch war wieder gekommen und hatte Geld gefordert. Mit fünfundzwanzig Jahren aß er Lecke- reien noch lieber als Brot. Warum hatte man ihn nicht > schon längst in eine Anstalt gesperrt? Stahl er nicht überall i und geriet dann in Wut und zerschlug Geschirr und Fen- I sterfcheiben? Einmal mußte sie ihm ein Messer fortnehmen, j mit dem er einen Briefträger überfallen wollte, der ihn ; geärgert haben sollte. So hatte es ja kommen müssen. Nun , war das Unglück geschehen, nun würden sie gleich beide I eingesperrt, und alle Menschen zeigten mit Fingern auf sie. j Wachtmeister Schnabel machte ein amtliches Gesicht. > Sein Mund wurde ganz schmal und blaß: „So ist das i also! Na, den Burschen kennen wir ja ganz gut! Ein- > gesperrt gehört so was. Alle paar Tage ist eine neue An- I zeige gegen ihn da, aber jetzt wird Schluß gemacht!" Die Vernehmung war zu Ende. So rasch war er aus dem Zimmer verschwunden, daß ! Frau Gröber es überhaupt nicht fassen konnte. Immer > noch erwartete sie eine harte Faust und die Aufforderung: » So, nun kommen Sie mit! Aber der Wachtmeister Schnabel . war fort. Timm stand neben ihr und redete ihr freundlich zu. ' Wahrhaftig, er sprach ganz wie früher, wie vorige Woche » und all die Jahre. Er verachtete sie also nicht? Sie ließ I die Worte an sich herankommen. Ach, es tat ja so wohl, I von einem Menschen nicht verachtet zu werden. Vielleicht > würde später doch noch alles gut. Aber dann überkam > sie wieder die Verzweiflung: „Daß mir das passieren mutz > . . . in meinem ehrlichen Hause ..." * I Auf der Polizeistube saß Werner, Frau Gröbers ! Neffe, wie ein gefangenes Tier. Er stützte den Kopf in > beide Hände und flackerte alle Menschen mit wilden I Blicken an. ! Als Timm hereintrat, flog er wie von einer Feder ' getrieben, auf die Beine: „Du Hund ... du Hund", I keuchte er und versuchte, über das niedrige Holzgitter zu I kommen. Die Augen waren rot umrändert und fielen ihm ! fast aus den Höhlen. Schnabel drückte ihn mit einem sicheren Griff auf die I Bank zurück: „Ruhe, Ruhe, gleich kommst du dran!" (Fortsetzung folgt.) Es «»psi Eine Schulgeschichte von H. Klockenbusch. (Nachdruck verboten.) Die Klasse schätzte ihn nicht sonderlich, weil er wäh- !! rend des Unterrichts nicht die geringste Abschweifung ge- ! stattete. Nach der Auffassung von Sekundanern ist eine I gewisse Sicherheit im Uebersetzen aus der Odyssee kein ; Ziel, das unter allen Umständen erreicht werden muß. Da ; war der Lateinlehrer, der hier und da eine Anekdote, ein I Histörchen einflocht, doch ein anderer Kerl! Sogar den f Mathematiklehrer, der gelegentlich einen von grimmigster ; Ironie erfüllten Witz in die Klasse schleuderte, fand man ' erträglich. Aber den Bemühungen des Professors Scharf- I fenberg setzte man die geschlossene Phalanx passiven ' Widerstandes entgegen. Wenn er mit seiner brüchigen - Stimme die Verse des Homer las und sich an der voll- ! tönenden Sprache der Hellenen bis zur Weltentrücktheit I berauschte, wirkte er ein wenig lächerlich, und man sann . auf Mittel, den griechischen Unterricht unterhaltsamer zu ! gestalten. Husten, Räuspern, mit den Füßen scharren schienen in > diesem Fall nicht sehr aussichtsvoll. Man hatte die Er- ! fahrung gemacht, daß Professor Scharffettberg solche i Dinge meistens gar nicht bemerkte oder sie als harmlos I und zufällig anzusehen schien. Dagegen stand es fest, daß . ihm nichts so unangenehm war wie das Klopfen an der ? Tür. Immer hatte es einige Zeit gedauert, bis er nach I solchen Unterbrechungen den Unterricht fortzusetzen ver- I mochte. Hier war die Stelle, wo man den Hebel anzu- ; setzen hatte, mit dem man die langweilige Welt, die Pro- ! fessor Scharfsettberg vor der Untersekunda aufbaute, aus l den Angeln heben konnte. Und der Plan, den Lewark I ersonnen, verdiente in der Tat ungeteilten Beifall. Er ; war denkbar einfach, wie alles Geniale. Nun galt es, ! sestzustellen, wer das Attentat ausführen sollte. Man j hatte dem Primus, Meier ll, diese Aufgabe zugedacht. > Aber Meier II lehnte ab und verscherzte sich eine nie wie- - verkehrende Gelegenheit, die durch seine Streberei ver- 1 lorene Gunst seiner Kameraden zurückzugewinnen. Dann ! wollte man das Los entscheiden lassen. Ehe es jedoch dazu ' kam, erbot sich Lewark freiwillig, seiner Erfindung zur ! Auswirkung zu verhelfen. „Ich habe Nichts zu verlieren", I erklärte er. „Wenn ich sitzenbletbe, muß ich ohnehin von ! der Schule, und sitzenbletbe ich bestimmt." Einige fanden es feige und eines deutschen Mannes I unwürdig, jemanden vorzufchicken, der nichts zu verlieren ! hatte. Aber sie wurden überstimmt. Man hatte der sommerlichen Hitze wegen die Fenster- i Vorhänge des Klassenzimmers an diesem Vormittag ge- ! schlossen, und dämmeriges Halbdunkel erfüllte den Raum. » Eine gespannte Erwartung hatte sich der Klasse bemäch- ' tigt, als Scharffenberg mit dem Glockenzeichen eintrat und l die Bücher auf'das Pult legte. Aber während er sonst I unverzüglich mit dem Unterricht zu beginnen pflegte, ging ! in dieser Stunde der Lehrer einige Male in dem Raum ! zwischen Tür und Fenster hin und her. Dann blieb er vor I den Bänken stehen und sah lange in die Klasse. Mit un- ; gewöhnlich ernstem Blick streifte er der Reihe nach die ! Gestalt jedes einzelnen seiner Schüler. In seinem falti- I gen, vergilbten Gesicht schienen nur die Augen zu leben. I Einige erröteten unter diesem Blick. Andere blickten gleich- ; gültig zur Decke hinauf. Das tiefe Summen einer Fliege » machte die lautlose Stille noch eindringlicher. Dann ging I Scharffenberg langsam zum Pult und ließ den zuletzt » gelesenen Abschnitt der Irrfahrten des Odysseus noch ein- ' mal übersetzen. Zum ersten Male schien es, als wäre er ! nicht recht bei der Sache, als horchte er unruhig nach der I Tür, Zum grenzenlosen Erstaunen des Primus Meier II . blieben einige grobe Fehler ungerügt. Man tauschte bedeutungsvolle Blicke, die alle den I gleichen Verdacht ausdrückten. Vielleicht war die Sache bereits verraten, und Scharffenberg wartete nur darauf, den Uebeltäter auf frischer Tat zu ertappen. Natürlich ; Meier II, der Musterknabe ... An die Stelle der Empö- » rung, die sich gegen den Streber zu verdichten begann, I trat allerdings bald ein anderes Gefühl. Das der Be- I Wanderung für die Kühnheit Lewarks, der sich durch die ! Anzeichen drohenden Unheils keineswegs beirren ließ. > Plötzlich nämlich klopfte es zweimal. Hart und nachdrück- I lich. Scharffenberg zuckte zusammen und stürzte zur Tür. ! Dann trat er auf den Flur hinaus und kehrte mit rat- ! losem, bestürztem Gesicht ins Klassenzimmer zurück. „Es I hatte doch eben geklopft, nicht wahr?" fragte er mit un- I sicherer Stimme. Man bejahte. Der Lehrer nickte, als ; wollte er eine gute Antwort anerkennen, und ging zum ' Katheder zurück. Es war erwiesen, daß der Verdacht gegen I den Klassenbesten unbegründet gewesen. Trotzdem wollte » keine rechte Freude an dem Gelingen des Unternehmens ; aufkommen. Das Verhalten des Professors gab Rätsel i auf, denen man hilflos gegenüberstattd. Die kühle Däm- I merung machte es unmöglich, das Gesicht des Lehrers < genau zu beobachten; aber irgendwie ließ sein Verhalten ! auf eine mühsam unterdrückte Erregung schließen. Irgend- l wo schmetterte ein Lautsprecher eine fröhliche Marschweise. I „Wir wollen die Fenster schließen", sagte Scharffenberg in ! einem Ton, als bäte er um Entschuldigung, und fuhr fort ! zu lesen. Telemach bat um ein Schiff, um den verschölle- I nen Vater zu suchen. Scharffenbergs Stimme wurde tief ; und weich... ; Da klopfte es Wieder! Lewark hörte hinter sich ein wütendes Zischeln. < Scharffenberg ging zur Tür, öffnete sie mit einer merk- » würdig steifen Bewegung und blickte hinaus, kehrte aber I sogleich zurück, als habe er gewußt, daß niemand draußen I stand. Er nahm seinen Platz auf dem Katheder wieder . ein und blickte über die Köpfe der Jungen hinweg starr ! auf das Bild an der Hinteren Wand des Zimmers. Es I schien, als bewegten sich seine Lippen im Selbstgespräch. I Eine bedrückende Stille entstand. Meier II sah nervös » auf die Uhr. Lewark ließ den Bindfaden zu Boden fallen, i mit dem er den genial erdachten Klopfmechanismus auf I der Rückseite der Wandtafel in Bewegung gesetzt hatte. - Die Sache hatte sich glänzend bewährt. Kein Üneinge- ! weihter hätte ahnen können, daß die Klopftöne aus der ! Richtung der neben der Tür aufgestellten Wandtafel I kamen. Dennoch beeinträchtigte etwas Lewarks Befrie- ! digung über den wohlgelungenen Scherz. Und plötzlich i stürzte Professor Scharffenberg mit einem gurgelnden I Laut vom Stuhl des Katheders ins Klassenzimmer und ! blieb regungslos am Boden liegen I Das wohlwollende Antlitz des Direktors war ttef- I ernst, als er die Klasse betrat. „Wir haben Herrn Professor Scharffenberg in seine I Wohnung bringen lassen. Ich hatte ihm mit Rücksicht auf I das Unglück, das ihn betroffen hat, nahegelegt, einige j Tage Urlaub zu nehmen: Er wollte nicht darauf ein- ; gehen, obgleich sein einziger Sohn sehr krank ist und seit » Tagen zwischen Leben und Tod schwebte. Die Nerven I müssen völlig versagt haben, denn Herr Professor Scharf- I fenberg behauptete, es sei wiederholt an die Tür geklopft > worden. Ich habe festgestellt, daß in der fraglichen Zeit i niemand an der Tür war. Erfreulicherweise erhielt ich I soeben die Nachricht, daß die Krisis in der Krankheit des » jungen Herrn Scharffenberg überwunden ist und daß Aus- H sicht besteht, ihn seinem Vater und dem Leben zu erhalten. I Ich erwarte von Ihnen, daß Sie sich, wenn Herr Pro- I fessor Scharffenberg wieder unterrichtet, ihm gegenüber I besonders gut betragen werden!" — Es hätte dieser Ermahnung nicht bedurft. Die An- I erkennung aber, die Scharffenberg am Schluß des Jahres k der Klasse aussprach, war saft noch schwerer zu ertragen ! als die Schande, nicht versetzt zu werden. j