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Tenor. Nils war ein guter Sprecher und entpuppte sich bei den Proben als brauchbarer Schauspieler. Beide hat ten die Anfertigung der Dekorationsentwürfe über nommen. An den gemeinsamen Mahlzeiten nahmen auch Toni Fischer und Elly Siebenhaar teil. Sie vervollständigten den Künstlerbund. Toni hatte ihre Stellung als englische Korrespondentin aufgegeben und übte fleißig ihre alten Tänze. Elly, die ihrer hübschen Sopranstimme wegen in das Ensemble ausgenommen worden war, hatte sich eng an Toni Fischer angeschlossen . . . Während die beiden Brüder mit aufgekrempelten Hemdsärmeln am Herd hantierten, saß Jo pfersenschmau- chend am Tisch und ließ behaglich schmunzelnd die Zeich nungen, die Kai bisher angefertigt hatte, durch seine Hände gleiten. Man hatte sich darauf geeinigt, eine kleine Revue zusammenzustellen. Zehn Bilder wollte man bringen und jedes Bild vor einem andern Hintergrund. Folgende Entwürfe waren fertig: Atelier, Hafen schenke, Hotelhalle, Straßenecke bei Nacht, Nachtlokal, Meeresstrand, Promenadendeck eines Ozeandampfers, Kaffeehaus in Kairo, indische Dschungel und Südseeinsel. Die Aquarelle waren farbenprächtig und phantasievoll. Die Statisterie, die man sich ersparen wollte, hatte Kai aus die einfachste Art in die Hintergründe hineingezeichnet. Nachmittags und abends saßen alle um den großen Tisch, entwarfen die Szenen und feilten die Dialoge, die zum größten Teil von Jo stammten. Alle arbeiteten mit Feuereifer. Eine sehr schwierige Arbeit hatte der bärtige Nils übernommen: er dichtete die Liedertexte. Denn es sollte viel gesungen werden. Einige Lieder waren schon fertig, und Jo hatte schon begonnen, Melodien zu komponieren. Das Orchester wollte Jo mit seinem Bandoneon ganz allein bestreiten. Ein Berg von Arbeit lag vor ihnen, und so rechnete man damit, daß sich die Vorbereitungen — man wollte unbedingt saubere Arbeit leisten — noch wochenlang hin ziehen würden. . . Man war von der Ausführbarkeit der Idee fest überzeugt — sofern es Jo gelingen würde, recht zeitig das nötige Geld und das Auto herbeizuzaubern. Jeden Abend bestürmten sie ihn deswegen. Jo zün dete sich dann geruhsam seine Pfeife an, schmunzelte in die Runde, ließ seine blanken Blicke herumwandern — und antwortete mit weit ausholendem Redeschwall. Er würde es bestimmt schaffen, er habe bereits alle Beziehun gen wieder angeknüpft, und wenn sie mit den Proben fertig wären, dann stünde auch das Auto, ein fabelhaftes, sechssitziges Ungetüm, bestimmt vor der Tür. Er würde dann aussteigen und ihnen seine dicke Brieftasche vor die Nase halten. Immer noch ging er jeden Morgen fort und spielte den Rattenfänger von Hameln. Diesem Manne, diesem seltsamen und weitgereisten Jo Swentikow, war auch das Unmöglichste zuzutrauen: die Verwirklichung eines Märchens. . . Inzwischen war die sogenannte Aalsuppe fertig ge worden. Nils setzte die ungeheure Terrine auf den Tisch. Es duftete herrlich. Und Kai trug auf einer Platte den mächtigen Schinkenknochen heran. In diesem feierlichen Augenblick kamen Toni Fischer und Elly Siebenhaar durch die offene Tür. Nils warf stürmisch den Schöpflöffel in die Terrine zurück und stürmte ihnen entgegen. Er umarmte beide Mädchen in seiner grimmig-verzückten Art. „Deerns", rief er triumphierend aus, „heut sollt ihr was erleben!" Elly schoß das Blut ins Gesicht. „Hat Jo das Geld aufgetrieben?" „Und das Auto?" fragte Toni. „Nicht doch", brummte Nils. „Aber wir haben ne richtige Hamburger Aalsuppe gekocht!" „Oh", meinte Elly enttäuscht. Jo, der genießerisch in seiner Suppe löffelte, ließ sich nicht stören. Kai küßte den Damen galant die Hand. Und dann setzten sie sich um den Tisch. * * Die weiten Grashalden um das kleine Wochenend haus herum lagen im Licht des Mondes. Es war elf Uhr vorüber, und die Mädchen wollten nach Hause gehen. Jo und die Brüder Andersen brachten sie jeden Abend heim. Doch schließlich entschloß man sich, noch einen kleinen Spaziergang zu unternehmen. Sie gingen über die hügeligen Grasflächen auf den Wald zu: zwei Paare und ein Einzelgänger. Dieser Einzelgänger war der bär tige Nils, der lieber zu seinen Kaninchen ging. Kai und Elly trennten sich von Jo und Toni. Sie setz ten sich auf einen Hügel ins Gras. Elly trug heute eine hübsche weißseidene Bluse zu ihrem blauen Rock — ein Geschenk von Jo. Es hatte sich nichts zwischen ihnen verändert. Sie betete ihn an, ohne sich in ihn zu verlieben. Jo war ent zückt von ihr. Er nannte sie häufig seine kleine Schwester. Auch Kai war alles andere als ein stürmischer Lieb haber. Er sprach über den Revueplan, als ob es sich um einen netten und freundlichen Zeitvertreib handle. Im übrigen war er gläubig wie sein Bruder Nils, nur ließ er es niemals merken. „Wunderbar, das ganze Leben", sagte Elly versonnen. „Jo ist herrlich, nicht wahr? Es ist großartig, wie er alles in Schwung bringt." „Und was für gute Sachen er jeden Tag heran schleppt", sagte Kai und legte den Arm um ihre Schulter, „ich setze noch Bauch an, wenn das so weitergeht." „Ich bin niemals im Leben so satt gewesen", ant wortete Elly und schmiegte sich an ihn. „Ich auch nicht", sagte Kai. „Es ist ein ganz wunder bares Gefühl." Dabei streichelte er ihren Arm. Und dann sprachen sie eine ganze Weile überhaupt nichts. Endlich begann Elly von neuem. „Du glaubst doch, daß Jo das mit dem Geld schaffen wird?" „Felsenfest", antwortete Kai mit offener Ironie. Elly merkte es nicht. „Es ist ja auch ganz klar, daß er es schaffen wird. Ich habe nie einen Menschen gekannt, zu dem ich größeres Vertrauen hatte als zu Jo. Ich glaube an eine großartige Triumphfahrt. Wir werden Geld verdienen wie Heu, und eine ganze Menge Menschen werden wir kennenlernen." „So, so", meinte Kai, er konnte sein Staunen nicht verbergen, „Menschen willst du kennenlernen?" „Und ob! Das ist doch die Hauptsache. Ich bilde mir zum Beispiel ein, ich könnte auf dieser Tournee einen Mann kennsnlernen, der mich heiratet. Was hältst du von dieser Idee?" Kai ging es wie ein Stich durchs Herz. Er hatte sich ein wenig verliebt und bekam nun das berüchtigte Wasser über den Kopf. Doch seine Stellung als Philosoph und Skeptiker ließ es nicht zu, erregt und stürmisch ihre Idee zurückzuweisen. „Fabelhaft", sagte er, „und ich möchte darauf schwö ren, daß du dein Ziel erreichst. Du bist nämlich sehr hübsch und verstehst die Männer einzuwickeln." Dann lachte er gezwungen und drückte ihr rasch einen Kuß auf den Mund. Sie machte sich hastig frei, war ihm aber nicht böse. „Das darfst du nicht wieder tun", sagte sie. „Jo hat mir erst gestern gesagt, daß man nicht weiterkommt, wenn man mit Liebesgeschichten anfängt. Sieh mal, ich weiß ganz genau, daß Jo in Toni verschossen ist, aber er hält sich zurück, um unsere Sache nicht zu gefährden." „Mein Gott", meinte er wegwerfend, „das mit dem Kuß hast du falsch aufgefaßt." Elly erhob sich schnell und klopfte ihren Rock ab. „Komm, gehen wir." Inzwischen gingen Jo und Toni Arm in Arm. Toni sah zur Mondscheibe hinauf. Jo musterte Toni heimlich von der Seite und geriet in Bewunderung und Be geisterung. „Wie schön der Mond auf deinem Gesicht liegt, Toni!" Sie blieb stehen und schloß einen Augenblick die Augen. Sie badete sich im Mondlicht. Dabei lächelte sie seltsam. Dann gingen sie Weiler. „Jo", begann sie nach einer Weile, „du hast gestern unsere Kostüme bestellt. Wir sind alle schrecklich neugierig, woher du das Geld nehmen willst." „Hoho, das Geld ist schon da." (Forlsetzung folgt.) Die Branönacht Wie ein Untier, das mit giftigen Krallen und un gebärdiger Kraft seine Beute umfängt, ist die Nacht her eingebrochen. Aber die große Stadt schläft nicht. Die wenigen, die auch der Siegeszug des großen Korsen nicht aus ihren alten Wohnstätten hat vertreiben können, sind bereit. Wenn irgendwo einmal eine Tür klappt, hastig geöffnet und wieder zugeworfen wird, dann dringt ein schwacher Lichtschein auf die Straße, der ahnen läßt, daß sie tief im Innern der Häuser, in den Kellern und in den Gewölben sitzen und sprechen. Aber blitzschnell wer den die Lichter gelöscht, wenn draußen der feste Schritt der Füsiliere oder die klappernden Huse der reitenden Garde durch die stillen Straßen hallen. Einzig in den vielen Gebäuden des Kreml steht hier und da in den Fenstern ein Lichtschein. Dort ist das Quartier des Kaisers der Franzosen, der nicht ge ruht hat, das Ziel seiner Wünsche, Moskau, zu erreichen. Mit dicken, samtenen Vorhängen sind die hohen Fenster des prunkvollen Gemaches verhängt, in dem Napoleon am goldverzierten Tisch sitzt und sich berichten läßt. „Nicht nur das Schicksal Ihrer ruhmreichen Armee, sondern Ihr gewaltiges, mit Blut und Opfern ge schaffenes Reich steht auf dem Spiel. Die Absicht, das teuflische Vorhaben der Russen ist klar zu durchschauen: Sie wollen uns ins Innere dieses unermeßlichen Landes locken, sie wollen uns von jeder Zufuhr und Verbindung mit der Heimat, mit Europa, abschneiden. Folgen wir, so ist unser Untergang nur eine Frage der Zeit!" Der Kaiser erhebt sich und geht mit schweren Schritten an ein Fenster, zieht den Vorhang zur Seite und blickt schweigend auf das Ungetüm Moskau, das sich finster und unheimlich vor seinen Augen breitet. Welche Opfer hat es schon gekostet, und wieviel Blut ist schon geflossen, um Herr dieses finsteren und unheilbrütenden Stein kolosses zu werden! „Man soll einen Schlitten mit kräftigen Pferden für mich bereitstellen, Neville!" Blutigrot wird plötzlich ein Schein jenseits der Vorhänge sichtbar. Neville ist an der Tür stehengeblieben und zeigt entsetzt auf die Fenster. Der Kaiser stürzt vor und reißt mit hartem Griff den Vorhang zu Boden. Ein gleißender Feuerschein flammt durch die Fenster den beiden Männern entgegen und taucht das Zimmer, dessen Licht Neville gelöscht hat, in rötliche Dämmerung. Die Stadt scheint, wie aus einem tiefen Schlafe erwacht, die Glieder zu recken, sie öffnet ihren furchtbaren Rachen und brüllt — brüllt — brüllt! In den Fenstern spiegelt sich der Schein des gewaltigen Feuers Wider, dicker Qualm zieht durch die Straßen, Staub und Ruß Wirbeln hoch auf über die Dächer und nehmen die Sicht. Mos kau brennt! Schreiend rennen die wenigen, die geblieben sind, durch die Straßen. Viele von ihnen halten brennende Fackeln und Pechhölzer in den Fäusten, stürzen ins dunkle Innere noch unversehrter Häuser und laufen wieder hin aus, weiter, von Straße zu Straße. Die Gebäude, in denen sie gewesen sind, bleiben nicht lange mehr dunkel und still. Feurig frißt sich die Lohe durch das Dachgebälk und schlügt hoch. Krachend sinken die Kuppeln und Türme der Paläste in den Staub, und verkohlte Balken splittern auf die Steine der Straßen. Aus den niedri gen Fenstern eines Kellers knallen einige Schüsse, blutend sinken die Helfer auf die Straße und das Wasser zum Löschen versickert zwischen den Fugen der runden Straßensteine. Der Kaiser starrt wortlos auf dieses Schauspiel. „Rußland opfert einen Schatz, um mich zu vernichten! Der Feuerschein Moskaus wird uns auf dem Heimweg leuchten müssen. Was hier in Asche sinkt, ist nicht nur Moskau, sondern alles, was wir erobert haben!" „Sire —", Neville ist keiner Worte mehr mächtig. Der Kaiser fährt herum und fragt leise: „Ist der Schlit ten bereit?" — „Ja, Sire, der Schlitten ist bereit!" Wenig später fährt ein Schlitten den Korsen in die russische Nacht hinein. Fern im Osten bleibt noch nächte lang ein blutigroter Schein am Himmel: Das brennende Moskau, Napoleons verlorenes Werk. H. Weber. Die erste Ernte Von Käthe Kamossa. Einer der schönsten Augenblicke, die ich in meinen Kindertagen hatte, war der, als ich von den Eltern hörte, daß wir aus der schrecklich großen Stadt fortzogen, weit hin nach Ostpreußen, in eine Siedlung, wo der Vater uns ein Haus gekauft hatte. Den Abend konnten wir, meine Geschwister und ich, nicht einschlasen vor Glück und Auf regung. Vermutungen, Hoffnungen flogen hinüber und herüber von einem Bett zum andern. Aus einer Ecke kam es: „Johannisbeersträucher werden wir in dem Garten pflanzen!" „Und Spalierobst vors Haus!" warf ich aufgeregt dazwischen. „Na, und natürlich doch Apfel- und Pflaumenbäume und statt Spalierobst lieber Kletterrosen vors Haus!" „Du, sagte ich empört, „Spalierobst ist edles Obst und wichtiger als Kletterrosen!" „Na, nun aber!" Die Tür ging auf und die Mutter kam herein. „Schlaft ihr denn immer noch nicht? Wer jetzt noch weiter laut ist, muß allein in Berlin bleiben." Die Wirkung war verblüffend. Niemand wollte in Berlin bleiben. Die nächste Zeit ging wie ein Traum vorüber, die Tage bis zum Umzug, die Fahrt auf der Eisenbahn, der Einzug in das Haus der ostpreußischen Siedlung. Ost preußen war die Heimat meiner Urahnen, meiner Groß eltern, meiner Eltern, und den Aufenthalt in Berlin hatten wir nie als dauernd angesehen. Der Vater ließ den Garten anlcgen, wie wir es uns erträumt hatten. Mein größtes Glück bedeutete der Um stand, daß tatsächlich Spalierbäume vors Haus kamen. Aber auch mein Bruder kam mit seinen Kletterrosen zu seinem Recht. Die Kletterrosen kamen an die Vorder wand des Hauses, das Spalierobst an die Längswand. Eins von den Spalierbäumchen schenkte mir der Vater, ich durfte mir es aussuchen; ich wählte das Apfel bäumchen. Das heißt, vorerst war nichts zu sehen, nicht einmal Blüten, denn es war rauher Vorfrühling. Die Spaliere bekamen Hüllen. „Im Sommer", sagte der Vater, „im Sommer kommen die Blüten, und wenn es gut geht, sind später zwei oder drei Aepfel dran." Nun, ich hegte mein Spalierbänmchen, dieweil es Frühling und Sommer wurde, und hatte meine Helle Freude, als die ersten weitzrosa Blüten einmal über Nacht aufgegangen waren. Ich konnte es mir nicht vorstellen, wie daraus nun Aepfel werden sollten. Aber auch der Tag kam, als ein großer, schöner Apfel mit roten Backen am Spalter hing, nachdem ich wochenlang jeden Morgen nach dem kleinen grünen Ding geguckt hatte, das nicht größer werden wollte. Alle, bis auf den einen schönen Apfel, waren unentwickelt ahgefallen. Die Geschwister fingen schon an, mich auszulachen und nannten mich „Die Spalierjungfrau". Sie spielten lieber oder tollten in der Siedlung und interessierten sich wenig für das Wachstum im Garten. Eines Tages entschloß ich mich, den Apfel zu pflücken und der Mutter als erste Ernte zu bringen. Ich lief an mein Spalierbäumchen — und der schöne Apfel war weg! Als ich mich umdrehte, sah ich drüben am Zaun den frechen Nachbarsjungen stehen, hohnlächelnd hielt er den Apfel in der Hand und wollte gerade hineinbeißen, als ich, mich nicht mehr kennend, wie ein Raubtier über den Zaun kletterte, dem Jungen nachrannte, ihm den Apfel aus dem Mund riß und wieder zurückkletterte. In die Haut des roten Apfels war schon das Gebiß des Nachbarsjungen eingezeichnet, aber das hinderte mich nicht, den Apfel voller Stolz der Mutter hinzulegen. „Na, der ist ja schon angebissen?" „Ja", sagte ich, „er wäre vom Nachbarsjungen bei nahe geklaut und gegessen worden." Da lachte die Mutter und meinte: „Bring den Apfel dem Jungen, er möge sich deine erste Ernte gut schmecken lassen." Worauf ich mit meinem Apfel in die Wasch küche schlich, ihn staunend und zärtlich von allen Seiten betrachtete und andächtig aufatz.