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oben angeführten Ausnahmen in den mitteleuropäischen Kulturen erst recht auf. Eine Erklärung, warum in den betreffenden Kulturen des Neolithikums stets eine geringe Anzahl von Männern nach den für die Frauen geltenden Regeln bestattet wurde und eine noch kleinere Zahl von Frauen nach einer den Männern zukommenden Bestattungssitte, könnte u. a. in der gleichge schlechtlichen Veranlagung dieses Personenkreises liegen. Homosexualität ist in allen Kulturen und Rassen verbreitet, das Vorkommen der angeborenen Homosexualität wird allgemein auf etwa 2% geschätzt 159 ). Die bisexuelle Veranlagung, also der sowohl auf Männer wie auf Frauen gerichtete erotische Trieb, ist noch häufiger, jedoch ist hier die homoerotische Motivierung schwächer. Gleichgeschlechtliches Verhalten wird bei Männern um ein Viel faches häufiger beobachtet als bei Frauen. Es ist auch bei allen Naturvölkern nicht nur bekannt, sondern wird dort oft besonders geschätzt, ist häufig die Voraussetzung zur Betätigung als Schamane, Medizinmann und derglei chen 160 ). In Frauen verwandelte männliche Schamanen können Männer heiraten und mit ihnen eine regelrechte Ehe führen. Im völkerkundlichen Bereich sind Ehen unter Männern nicht selten 161 ). Daher bleibt das betref fende Paar gewöhnlich lange zusammen und achtet eifersüchtig darauf, daß sich keiner Seitensprünge leistet 162 ). Für uns ist dabei von besonderem Interesse, daß die solcherart als Frauen auftretenden Männer nur weibliche Arbeit verrichten und weibliche Tracht tragen. Früher hatte man zwar ange nommen, daß ein gleichgeschlechtliches Individuum auf Grund seiner sexu ellen Zwischenstellung auch im Körperbau einen Zwischencharakter tragen könne 163 ). Die neuesten Forschungen von Freund konnten das jedoch nicht bestätigen 164 ). Ein als Frau auftretender homosexueller Mann würde also 159) K. Freund, Die Homosexualität beim Manne. Leipzig 1963, S. 20; vgl. auch die bei A. Häusler, Übereinstimmungen, Anm. 78, angegebene Lit. Die Zahl der Intersexe wird dagegen nur auf 1 — 2°/00 geschätzt, vgl. R. Martin, Lehrbuch der Anthropologie, 3. Auf!., Stuttgart 1956 ff., S. 2427. 160 ) H. Baumann, a. a. 0., S. 14 ff.; anschauliche Beispiele bei G. Nioradze, Der Schamanismus bei den sibirischen Völkern. Stuttgart 1925, S. 77 ff.; T. Harrison, Some Physical and Social Factors Affecting Sexual Behaviour in Borneo, in: Man 1964, März, April, S. 55 L, spricht von “channelling of physically abnormal men or woman into acceptable nearhermaphrodite or ti ans- vesticis roles, especially as shamanes and ‘spirit liaision officers""; nach Stöhr, a. a. 0., S. 29, sind bei den Ngadju in Südborneo Homosexualität, Impotenz oder Hermaphroditentum Zeichen für das Amt des Priesters, und in der Idan-Gruppe trägt der Priester höchsten Grades Frauen* kleidung und nimmt weibliches Verhalten an (Stöhr, a. a. 0., S. 152); entsprechend gilt ähnliches für gleichgeschlechtlich empfindende Frauen, vgl. F. Frh. v. Reitzenstein, Das Weib bei den Naturvölkern. Berlin 1923, S. 317 f. 161) F. Karsch-Haack, Das gleichgeschlechtliche Leben der Naturvölker. München 1911. 162) Nach W. Schlegel, Die Sexualinstinkte des Menschen. Hamburg 1962, lebten von den 363 von ihm beobachteten homosexuellen männlichen Patienten 47% in eheähnlichen Dauerbindungen. 163) So M. Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes. Berlin 1914, ähnlich E. Frh. v. Eickstedt, Die Forschung am Menschen. Stuttgart 1938—1956, S. 1497. Andere Autoren werden bei K. Freund, a. a. 0., S. 160 referiert. 1641) K. Freund, a. a. 0., S. 163 ff.