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HaWkEl 5 MM 2. Beilage Sonntag, den 11. September 1892 Mrst-Klichm Ml bis AmMg 10 Ilft Vermischtes. Von der böhmisch-sächsischen Grenze schreibt man der „N. Fr. Pr.": Bei der Elbe sicht es wirklich trostlos aus! Der Wasserstand ist so niedrig, daß man die Elbe an vielen Stellen bequem durchwaten kann. Das sonst so rege Leben an den Umschlag- und Landungsplätzen ist ganz erstorben, die Flößerei liegt danieder, und mehr als 60 leere Fahrzeuge liegen hier vor Anker. Welchen Entganz diese öde Situation sür die Stadt selbst bildet, ist leicht zu berechnen, wenn mau z. B. erwägt, das jeder Wagen Kohle 22'/z Kreuzer Uferzins zahlt und bei gutem Wasserstande ca. 1000—2000 Wogen täglich verladen werden. Es ist dieser Verlust, den jetzt die Stadt erleidet, ein um so empfindlicherer, als er, nachdem jetzt die meiste Kohle per Bahn versendet wird, kaum mehr hereinzu bringen ist, wenn sich die Verhältnisse auch baldigst bessern sollten. Und nun erst der große Verlust, den die Arbeiter er leiden. ES feiern etwa tausend Kohlenarbeiter, von denen die meisten sonst einen ziemlich hohen Verdienst haben. Es giebt nicht wenige Arbeiter, welche in guten Zeiten täglich zehn bis zwölf Gulden verdienen; das entfällt jetzt, und dazu kommt noch, daß keinerlei andere Beschäftigung zu finden ist. Die private Mildthätigkeit ist in reichem Maße wirksam; auch unsere vorzüglich eingerichtete Volksküche, in welcher für 14 Kreuzer eine sehr ausgiebige Kost verabreicht wird, Hilst den beschäftigungslosen Arbeitern das Ungemach der Zeit ertragen. Aber wenn dieser unheimliche Stillstand jeglichen Verkehrs noch lange anhält, dann wird zweifelsohne auch noch sür Brod ge sorgt werden müssen. Trirt günstigerer Wasserstand ein, wozu bei der jetzigen regnerischen Witterung alle Aussicht vorhanden ist, dann wird der jetzige Ausfall rasch wettgemacht, ohne irgend welche Spuren zu hinterlassen. Deshalb kann der Regierung nicht warm genug empfohlen werden, bei aller Aufrechterhaltung strengster, sanitärer Maßregeln den Schifffahrtsverkehr in mög lich vollstem Umfange aufrecht zu erhalten. * * * Berlin, 8. September. Der Redacteur der „Neuen Deutschen Zeitung" in Leipzig und der in Berlin erscheinenden Zeitschrift „DaS 20. Jahrhundert," Dr. Erwin Bauer, hatte sich heute vor der zweiten Strafkammer des Landgerichts Berlin I. wegen öffentlicher Beleidigung des Reichskanzlers Grafen von Caprivi und des FinanzmioifterS Dr. Miquel zu verant worten. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte der Landgerichts- director Brausewetter, die Anklagebchörde vertrat Staatsanwalt Dr. Benedix, die Vertheitigung führte Rechtsanwalt Hertwig (Charlottenburg). Der Angeklagte, der erst kürlich eine wegen Maj-stätsbclcidigung ihm auferlegte zweimonatliche Festungs haft verbüßt hat, ist der Verfasser eines im Zwanzigsten Jahr hundert veröffentlichten Artikels unter der Ueberschrift „Was nun?" welcher Anlaß zur Anklage gegeben hat. Der Artikel be zeichnete die Berathung der Handelsverträge im Reichstage als Komödie und sprach im Anschluß daran von Verbindungen des läßt er mich. Mein Freund erscheint sehr bald und glaubt, zunächst mir einen Gefallen erweisen zu können, wenn er die Thür zur Baracke öff n läßt. Einen Blick werfe ich da hinein. Welch' eine Unsumme von Elend und Jammer! Sich windend und krümmend, wimmernd und schreiend liegen die Aermsten in ihren Betten. Dort in einem Bette befinden sich zwei Kinder — nie weide ich den Anblick vergessen! — ein Knabe von 5 und ein Mädchen von 6 Jahren. Beide waren cholera krank eingeliefcrt. Das Mädchen lag schon seit einer Stunde als Leiche da, während der Knabe sein Schwesterchen fest umschlungen hielt. In jenem Bette l egen sogar vier kleinere Kinder, sie sind zusammen mit den Müttern oder erwachsenen Angehörigen eingebracht, welche aber bereits als Leichen in's Leichenhaus gebracht sind. Keiner weiß jetzt, wie die Kleinen heißen. Aber hier diese Frau in der ersten Ecke links, was ist mit ihr? sie sieht ja schon aus wie todt, so eingefallen, so regungslos? „Nein," belehrt mich mein Freund, die ist die einzige Genesende, welche ich in meiner Baracke habe. Sie hat alle Stadien der Krankheit überstanden, durch Koch salz-Infusion ist sie gerettet worden." Eine andere Kranke schreit ganz fürchterlich, schlägt um sich und qeberdet sich wie wahnsinnig. Mein Freund führte mich zum Leichenhause, wo nur das Nageln der Särge durch die Stille drang. Zu Hun derten lagen sie hier, die von ihren Leiden Erlösten, auf langen Tischen nebeneinander und übereinander. Die Särge sind nichts weiter als einfache, rohe lange und niedrige Kisten mit flachem Deckel. Nach einander werden die Leichen, die als Kennzeichen einen Nummerzettrl — am linken Fuße angebunden — trage», in solch' eine Kiste eingrpackt und auf den vor dem Lcichen- hause haltenden Möbelwagen geladen, so zahlreich, wie eben der Wagen zu halten vermag. Geschäfts-Anzeiger für Hohenstein-Ernstthal, Oberlungwitz, Gersdorf, Luga«, Hermsdorf, Bernsdorf, Langenberg, Falken, Langenchursdorf, Meinsdorf, Rüßdorf, Wüstenbrand, Grüna, Mittelbach, Ursprung, Leukersdorf, Seifersdorf, Erlbach, Kirchberg, Pleißa, Reichenbach, Grumbach, Callenberg, Tirschheim, Kuhschnappel, St. Egidien, Hiittengrund u. s. w. Ich verlasse die Steinstraße mit ihren Schrecknissen und wende mich südlich dem Hasen zu. Daß auch das Hafengebiet schrecklich angestcckt ist, werden Sie anderwärts schon gelesen oder davon gehört haben. Beim Dovenfl-Ht trete ich in das Hafengebict ein und wcnde mich rechts in den Straßcnzug. „Am Dovcnflcht", einem „ZippelhauS", wo fast ausschließlich Contore von Schiffsrhedcrn und Spediteuren sind, ist Alles ruhig, hier wohnen die Wassermcnschcn nicht, ebenso „beim neuen Krahn", obschon hier gestern und vorgestern viele Fälle von Erkrankungen vorgckommen sind. Auch die Leichenwagen haben hier zu thun gehabt. Anders ist es in der Fortsetzung dieser Straße: „bei den Mühren". Ebenso wie in der Stein straße giebt es hier sogenannte Gänzewohnungcn, die von Hafenarbeitern bevölkert sind. Hier hat die Seuche schon cnt- letzlich gehaust. Gestern Abend zwischen 10 und 11 Uhr sind hier allein 25 Transporte gewesen, theils von Cholera-Er- kranktcn, thcilS von Leichen, heute Morgen waren schon acht abgeholt woiden. Eben hält wieder vor mir ein Wagen, der bisher wohl nur als Schlächter- oder sonstiger Geschäftswagen gedient hatte, und jetzt in einen hohen viereckigen Kastenwagen umgcwandelt ist, mit Persennig (thecrgetränktcS Segeltuch) überzogen. Ein improvisirter Leichenwagen. Drei Träger ent stiegen dem unheimlichen Gefährt, der Kutscher stieg vom Bock und alle Vier verfügten sich von der Straße aus in einen Keller. An einen gutmüthig drcinschaucnden Seebären, der gegenüber dem Hause am Geländer stand, wandle ich mich um der Frage, ob Jemand dort im Keller gestorben sei. Wi> staunte ich aber, als ich die belehrende Antwort erhielt, daß dort gar keine Kellerwohnung sei, die Treppe an der Seit« führe unter dem Hause durch in den Hof. „Und von da holen sie eine Leiche." „Schauderhaft!" Sieben Stufen tief liegen hier die Gänge! Gar nicht lange währte eS und man kam mit der Leiche an. Es ist kaum möglich, den Eindruck zu schildern, der für einige Minuten die Sinne hier umfangen hielt. Vier Männer tragen in einem Leintuche, das, desinfi- cirt mit Carbsl, geradezu ekelhaft anzuschaucn war, eine an Cholera gestorbene Frau; in der Mitte wehte der Wmd das Laken auseinander und zeigte den nackten Körper. Der Wagen wird geöffnet und die Leiche hineingeschoben zu vier anderen, welche darin schon lagerten. Nachdem die Träger sich selbst und die Gaffer desinficirt und dann aus einer Schnapsflasche, welche sie im Wagen aufbewahrten, getrunken hatten, ging das traurige Gefährt nn Trabe weiter dem Hafen entlang, um mehr Leichen abzuholen. Aber auch hinter mir, auf dem Wasser, hat die Epidemie ihre Opfer geholt. Zwar sehe ich keine Transporte, wohl aber sehe ich, wie große Elbkähne von Be amten der Hafevpolizei in Sicherheit gebracht werden. Der Schiffer nebst Frau und zwei Kindern, mitsammt dem Schiffer knecht, sind erkrankt oder gestorben und sorttranSportirt, und führerlos hat man die Fahrzeuge angetroffen. Ich hatte von dieser Gegend genug, kehrte um und bestieg einen Pfcrdcbahnwagen, der mich nach Rolhenburghorst und der Veddel bringen sollte. Das ist auch eine böse Gegend! Unheimlich und düster auSschanende Gängewohnuugen giebr's hier nicht, dafür aber hohe 5- und 6stöckige Etagenwohnungen, in denen, besonders auf der Veddel, kleine Beamte ihr Domicil aufgeschlaqeu haben. Eisenbahn- und Pferdebahuschaffner sind hier die Bewohner der ersten Etagen. Ich fuhr wieder zurück mit dem Eindruck, daß auch hier der unsichtbare Geist erbarmungs los gewüthet haben muß. Ich passire auf einem Umwege die Vororte Harvestehude, Pöseldorf und einen Theil von Rother baum und Eimsbüttel. Nur in ganz vereinzelten Fällen hat sich auf dieser Seite der Alster die Epidemie gezeigt. Jetzt komme ich zum Neuen Allgemeinen Krankeohause. Vor dem Verwaltungsgebäude stehen, wie in der Stadt, Hun derte von Menschen, welchen der Eintritt verwehrt war. Wenn nur eine einzige fühlende Seele dagcwescn wäre, welche die Leute durch ein paar Worte über das Befinden ihrer Ange hörigen beruhigt hätte. Ein Schutzmann wies einen jeden ab, der hinein wollte. Da ich selbst mit einem Arzt, der hier in der Anstalt beschäftigt war, befreundet bin, so wurde mir der Ein tritt nicht schwer. „Ich wünsche zu Herrn Oo. N., Pavillon 23." „Wissen Sie Bescheid? Ich habe augenblicklich Niemand zur Hilfe, der Sie führen könnte," lautete die Antwort des Portiers. Ich trat in den wundervollen, aber so viel Elend beherbergenden, parkähnlichen Garren. Jm P willon 23 erfuhr ich, Herr vr. N. habe Dienst in Cholera-Baracke U der Fraucn- Abthcilung. Bis hierher war ich demnach glücklich gekommen. Soll ich noch weiter? Mitten hinein in die vielen Lagerstätten der verseuchten Opfer? Ein Wärter stand bereits an meiner Seite, er habe Auftrag, mich zur Baracke ö zu führen. Willig lasse ich mich führen. Mit Ausnahme der Aerzte findet kein männliches Wesen Eintritt weder in eine Baracke, noch in einen Pavillon der Frauen-Abtheilung. Der Wärter über mittelt deshalb einer Wärterin meine Wünsche, und dann ver- Ein Gang durch die Todtenstadt. Hamburg, Anfangs September. Von meiner im Vororte Bcrgfelde — östlich der Alster und nördlich der Elbe — belegenen Wohnung lenkte ich meine Schritte zunächst der Stadt zu durch die Vorstadt St. Georg, welche im Norden durch die Lochmühlenstraße begrenzt ist mit dem Alten Allgemeinen Krankcnhause. Die demselben gegen überliegende Troltoirseite ist dicht von Mcuschen besetzt, der Fahrdamm ist frei für den Wagenverkehr. Große Placate an den Thoren kündigen an, daß jeder Besuch im Krankcnhause untersagt ist. Der Wagenverkehr war enorm. Aber nur Acrzte- fuhrwerke, Krankentransport- oder Leichenwagen waren sichtbar. Das harrende Publikum war in einer äußerst auigeregtcn Stimmung. Klagen und Jammern auf Seiten der Frauen und Mädchen, Schimpfen und Fluchen der Männer über die Härte der Behörden, welche jede Auskunft über Leben oder Tod der Angehörigen verweigern. Neben dem Krankcnhause war man eifrig damit beschäftigt, im Gemüsegarten vier Baracken zu er bauen, von denen zwei bereits fertiggcstcllt waren. St. Georg gehört zu denjenigen Bezirken, welche sehr stark hcimgesucht sind. Durch die Hauptstraße St. Georgs, den Steindamm, führt mein Weg. Der Geruch von Chlor und Carbol, der aus allen Häusern ausströmt, ist fast betäubend Man muß sich daran gewöhnen. Menschcn-Ansammlungen in kleineren und größeren Trupps, so weit man sehen konnte. Und wo die Menschen zusammenstandcn, konnte man sicher sein, da hielt auch vor einem Hause ein Kranken- oder gar ein Leichen wagen, letztere aus allen nur denkbaren Vehikeln für diesen Zweck improvisirt. Der Gegenstand der Unterhaltung war immer und überall derselbe: Die Einzelheiten der Eckrankung der oder des Kranken, dessen Transport man eben erwartete. Da kommen sie. Ein bleiches «Rädchen wird von zwei Trägern aus dem Hause getragen, trüb und traurig, wie verstört, schaut sie auf die Umstehenden. Gewiß, auch sic fühlt, daß sie den Stcindamm zum letzten Male sieht, sie weiß, daß sie nicht zurückkchrt von da, wohin man sie bringen will. Scheu und furchtsam weicht die Menge zurück. DaS Mädchen wird in die Ecke des Wagens gesetzt, in eine wollene Decke eingehüllt, ein Träger setzt sich daneben, während der andere sich auf den Bock schwingt, und im scharfen Trabe geht es fort- — fort wohl au! Nimmerwiedersehen! Der Anblick war entsetzlich, aber noch Traurigeres sollte ich erleben. Ich gehe weiter den Stcindamm hinauf, der Stadt zu. Die ebengeschilderte Scene wiederholt sich noch sechs Mal, auch Leichen werden eingeladen. Ich wende mich dem Innern der Stadt, der Steinstraße zu. Die Steinstraße, im Mai 1890 der Schauplatz wüster Tumulte während des Gasarbeiterstreikes, beherbergt in ihren Häusern gegen 30 000 Menschen. Die Bevölkerung gehört dem ärmsten Arbeiterstande au. Hier hat die Cholera gar viele, viele Opfer gefordert und fordert weitere. Roh und gefühllos sind hier die Menschen, Männer wie Frauen. Wird ein Kranker oder ein Todtcr aus dem Hause getragen, so drängen sie so weil vor, daß den Trägern kaum der Raum bleibt, zum Wagen zu kommen. Alle umstellen den Wagen, um von allen Seiten hincinschauen zu können; schließlich weiden sie von den Trägern, die dazu verpflichtet sind, mit Carbol begossen. Kein Wunder, daß hier die Seuche nicht abnehmen will, während sie doch in anderen Bezirken nachzulassen scheint. Wenn man aber z. B. sieht, wo und wie diese Leute wohnen, dann werden diese traurigen Zustände, die ein Schandfleck für Hamburg sind, nicht weiter räthsclhaft bleiben. Geht man als Fremder durch die Stein- straße, die zu beiden Seiten fast nur hohe 2- und 3stöckige Giebelhäuser hat, welche zum Theil sogar modcrnisirte Läden und Schaufenster zeigen, so werden einem schwerlich die kleinen niederen Eingänge besonders auffallen. Aber diese Eingänge, oder besser Durchgänge oder noch deutlicher Unterführungen sind cS, welche uns den Weg in die eigentlichen Pesthöhlen zeigen. Sie führen unter dem ganzen Hause hindurch; der Gang ist nicht höher als ein Mann mittlerer Statur, ein größerer kann nur gebückt passiren; Begegnungen laufen selten ohne An- rcmpcln ab. Von diesen Gängen kommt die Bezeichnung „Gängewohnung". Ich habe jedesmal mit einem Gefühl des Schauders in diese Gänge hineingeschaut. Heute gehe ich hinein, um sagen zu können, wie cs in einem solchen Hofe aussicht. Der von mir betretene war etwa 4 Schritte breil und, nach meinem Augenmaß, 50—60 Schritte lang. Zu beiden Seiten 3stöckige Häuserreihen, Fenster an Fenster und je 6 Eingänge zu den Wohnungen. In diesen wohnen Hunderte von Menschen, theils in Einzelwohnungen von 1—2 Stuben mit gemeinschaft lichen Küchen, theils in Sälen, die von mehreren Parteien be wohnt sind. Lin Luftzug kann hier nicht eiudringen, denn ein Quergebäudc schließt den Hof ab; cs ist dumpfig und schwül; kaum bin ich im Stande, Athem zu holen. Daß hier Menschen wohnen müssen, ist ein grausames Schicksal.