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2514 Börsenblatt f. d. Dtschn. Buchhandel. Fertige Bücher. ^ 47. 2K. Februar 1912. Aus einem Feuilleton der Neuen Freien Presse vom 17. Februar 1912 Ein Feuerbach-Schicksal V°n Karl Scheffler Vor einigen Wochen habe ich hier von Anselm Feuerbachs Briefen gesprochen, von dem Künstler, der dahinter steht und von seinen Lebensschicksalen. Ich schloß damals: „In das Em pfinden, womit der Leser dieses große Herz grüßt, das nach fünfzigjährigem Kampfe in Venedig, im Exil sozusagen, zu schlagen aufhörte, schleicht sich eine ungewisse Scham. Wir sind noch dieselbe Nation, die diesen Edelsten gleichgiltig hat sterben lassen. Es wandelt noch heute das Feuerbach-Schicksal unter uns einher." Heute will ich von solch einem Feuerbach-Schicksal sprechen, das lebendig unter uns erlebt wird. Die Lebenden meinen sehr viel klüger zu sein als die Väter, die sich mit der Verkennung Feuerbachs so schwer kompromittiert haben: im Grunde aber hat sich nichts geändert- Eben haben wir den hundertsten Jahrestag des Todes Heinrich v. Kleists gefeiert, mit selbstgerechter Verurteilung des Zeitgeistes um 1800 und in dem eitlen Bewußtsein, so etwas könne heute nicht mehr geschehen; aber es wiederholen sich dennoch die Erscheinungen, als handle es sich um ein Gesetz der Zeit. Obgleich jeder Literat heute auf der Lauer liegt, um verkannte Talente zu ent decken, geht die Kritik, geht die Nation an großen Naturen, die ihr ganzes Wesen auf Unbe dingtheit und Vollkommenheitstrieb eingestellt haben, empfindungslos vorüber. Nicht aus Bosheit, aus Ahnungslosigkeit. Talente, die heute, 1912, von außen so aussehen wie das Talent Meistens um 1811 oder wie das Feuerbachs um 1870 — die werden freilich nicht mehr verkannt; die Begabungen aber, die so aussehen, wie Kleist und Fenerbach heute aussehen würden, wenn sie in gewandelten Zeiten sich entwickelt hätten, Begabungen, die das Gesicht der Zukunft haben — an ihnen geht man nach wie vor vorüber. In der Poesie wenigstens. Die Heutigen sind den Vätern gegenüber sicherlich differenzierter und kritisch vorurteilsloser; das Menschentum aber ver sagt, wie es im ganzen neunzehnten Jahrhundert versagt hat, vor der unbedingten Reinheit und Redlichkeit des Wollens, vor der Leben gewordenen Gebärde von klassischer Einfachheit vor jener Originalität, die aus einer vollständigen Hingabe an die Sache entspringt. Ich sage das alles mit Bezug auf den in Weimar lebenden Dichter Paul Ernst, der noch zu den unbekanntesten, am wenigsten gelesenen und aufgeführten Dichtern der Zeit gehört. Und doch steht dieser Dichter heute aus einer Plattform für sich. Er ist nicht eigentlich von seiner Zeit, das ist wahr; doch nur, weil er höher steht als seine Zeit, weil er der Zukunft schneller entgcgenlebt als andere Dichter. Ein Feuerbach-Schicksal, nur daß Paul Ernst glücklicherweise nicht das ungeduldig klagende, das sich hysterisch fast gebärdende Temperament des rastlosen Anselm hat, sondern einen stillen männlichen Ernst, der den Dingen sehr bewußt ins Auge sieht, der aus der erzwungenen Einsamkeit, die man fast ein Exil im Vaterland nennen könnte, der aus der allgemeinen Indifferenz sich die Kraft zu immer neuer Vertiefung gewinnt und aus Leiden ein großes Ethos lebendig entwickeln lernt. Es ist nicht meine Absicht, eine Charakteristik dieses Künstlers nach allen Seiten zu geben. An laß dieser Ausführungen ist vielmehr das Erscheinen eines neuen Novellenbandes von Paul Ernst „Der Tod des Cosimo". Was das Stärkste in diesen Novellen ist, enthält das Wort, das mir einst eine kluge, aber keineswegs empfindsame Dame der Gesellschaft bei der Rückgabe des Romans „Der schmale Weg zum Glück" von Paul Ernst sagte: „Man nimmt sich nach der Lektüre vor, besser zu werden, als man ist". Nach welcher anderen Lektüre moderner Dichtwerke empfinden Gesell schaftsmenschen wohl diese Wirkung, die die Klassiker unserer Jugend einst so mächtig doch gelehrt haben! Nicht ohne starke Erschütterung zum Beispiel kann man die „Aufzeichnungen des Musikers" lesen. Was darin dargestellt ist: wie jedes Leben, das ärmste und elendeste sogar, des Lebens-