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s ' ' 7— —- — — kv/k - E5// Sk«, -NF/E ^,««E 1. Eduard Shuffling tappte durch den langen Korridor des Polizeigefängnisses in Reading. Gr hatte seine Strafe abgebtttzt, die Entlassung stand bevor. AIS er sich in der graugetünchten Eingangshalle sah, erwachte sein verfallenes und ausdrucksloses Gesicht -um Leben. Durch diese hohe, düstere Lür hatte man ihn damals herekngeführt vor vor — ach, weiß -er Himmel, wie weit.daS schon zurücklag! Eduard Shuff ling konnte sich nur noch an das eine erinnern, daß er sich vorher mit besonderer Sorgfalt rastert hatte. Welch ein Unsinn, sich zu rasteren, bevor man nach Reading geht!- Er wandte sich jetzt dem Tor zu, doch der Wachtmeister, der hinter ihm herschlenderte, hielt ihn mit einer sanf- ten und bittenden Bewegung zurück. „Sie müssen noch Ihren Entlassungsschein holen!" mahnte er. Im Meldezimmer saß ein grauhaariger, vergrämt attssehender Beamter an einem langen Tisch und schob bei ShuffltngS Eintritt ein dickes Buch zu sich heran. „Wann haben Sie Ihre Strafe angetreten?" Da der Sträfling zu verwirrt war, um sich besinnen zu können, antwortete statt seiner der sanfte Wacht meister. „Am 16. Januar 1928!" Der Beamte blätterte in dem dicken Buch. Dann nahm er aus einer Schublade einen Zettel, füllte ihn aus und drückte einen Stempel auf die untere Ecke. „Wir hoffen, daß Sie als ein anderer Mensch, mit guten Vorsätzen, in das Leben zurückkehren!" sagte er würdevoll, während er eine Anzahl Geldstücke auf den Tisch zählte. „Ihre Barschaft betrug zwölf Schilling und vier Pennys!" brummte er. „Hier, quittieren Sie!" Shuffling ließ das Geld in die Rocktasche gleiten und bedankte sich unbeholfen, als habe er ein Geschenk er halten. Wenig später öffnete der Wachtmeister das Tor und schob den Sträfling ins Freie. Mit einem harten, dröhnenden Knall fiel das Tor hinter Eduard Shuffling ins Schloß. Er blickte mit einem Ausdruck der Hilf losigkeit um sich, in einem Gefühl, als sei er verstoßen, auf herzlose Weise von der Behütung dieses HauseS ausgeschlossen worden. Erst allmählich fiel ihm ein, -aß er nun wieder ein freier Mann war. Richtig, nun konnte man fortgehen, wohin man wollte. Man konnte ein Auto nehmen, konnte auf den nächstbesten Omnibus springen — und kein Polizist hinderte einen. Sonderbare Sache! überlegte Shuffling und setzte sich langsam, mit müde herabhängenden Armen in Be wegung, ohne das große schwarze Auto zu beachten, das auf der anderen Seite der Straße stand. Er war kaum einige Schritte gegangen, als auch der Wagen anfuhr und dem Spaziergänger gemächlich folgte. So oft Shuffling den Schritt verhielt, blieb auch das Auto stehen, schlim er ein rascheres Tempo an, dann tat der geheimnisvolle Führer Les Wagens das näm liche. Shuffling erreichte nach einer knappen halben Stunde die Innenstadt.- Während des ganzen Weges hatte er sich das Wiedersehen mit Kata und den Kindern aus- gemalt. Wie mochte es zu Hause sein? Ob man ihn erwartete? Doch als er sich in der Nähe seiner Wohnung befand, zögerte er. Er brachte es nicht fertig, nach Hause zu gehen, die zwei Treppen hinaufzusteigen und an der Lür seiner Wohnung zu läuten. Was hatte er denn noch dort zu suchen? Was hatte einer, der geradewegs von Reading kam, bei Frau und Kindern zu suchen? Er war ja nicht mehr Ler Kauf mann Eduard Shuffling. Irgendeiner unbekannten Macht hatte es beliebt, die Welt ohne ihn weiterlaufen zu lassen. Inzwischen war es Abend geworden. Die Londoner City tauchte sich in ein Meer von Licht, behängte die Fassaden mit den silberglühenden Mänteln der Lam pen, pries ihre tausend lockenden Wunder in leuchten- den Riesenbuchstaben den Menschen an, die sich in der Tiefe der Straßen müde bewegten. Eduard Shuffling ging an der hellerleuchteten Fassade von Watlon Brothers vorüber. Da kam ihm ein Ge danke, der ihn veranlaßte, stehenzubleiben. Er erinnerte sich, daß er früher in Augenblicken besonderer Hoffart davon geträumt hatte, Kunde bei Watlon Brothers zu werden, wo sich die Mitglieder des Parlaments und die Beamten des Königlichen Hofes die Haare schneiden und den Bart rasieren ließen. Er wußte vom Hören sagen, daß man dort in herrlichen Klubsesseln Platz nehme, und daß der Seifenschaum in silbernen Schalen ungerührt würde. In einem plötzlichen Entschluß trat Shuffling durch Lie Glastür. Jawohl, warum sollte er sich diesen lang ersehnten Spaß heute nicht gönnen? Der Maßstab bür gerlichen Lebenswandels bestand nicht mehr. Shuffling ließ sich Haare und Bart schneiden und sein Aeußeres sorgfältig in Ordnung bringen. Das schwarze Auto, das ihm bis hierher unablässig gefolgt war, mutzte eine geraume Zeit vor der Labentür warten. Als Shuffling sein Kinn von der Dampfkompresse befreit sah, blickte er zufrieden in Len Wandspiegel. Feiner Mann das, wie? Soll von Reading kommen? Lächerlicher Gedanke! Der Boy, -er ihm beim Verlassen de- Salons die Tür öffnete, knickte bis zum Boden, nachdem er sich Lurch einen versteckten Blick auf den Inhalt sejner ge höhlten Handfläche von Ler Ueppigkeit des empfangenen Trinkgeldes überzeugt hatte. — Eine Weile noch ging Shuffling durch die belebte»» Straßen und freute sich der vorteilhaften Veränderung seines Aussehens. Dann suchte er eine Speisewirtschaft auf, um de»» Rest des TageS auf angenehme und kurz weilige Art totzuschlagen. Bald nach ihm trat ein Mann in grauem Chauffeur anzug durch die Drehtür, schlenderte gleichgültig zwi schen den Tischreihen hindurch und ließ sich schließlich in einer Ecke nieder. Er bestellte einen Whisky mit Soda und vertiefte sich in die Zeitung. Ab und zu streifte er Shuffling mit einem gleichgültigen Blick, der still da- saß und sich Mut antrank. ES ging schon auf Mitternacht, als Eduard Shuffling durch die spärlich beleuchtete Lane Street der Themse zubummelte. Zuweilen blieb er stehen, strich sich mit der Hand über das glattrasierte Kinn und murmelte halb laute Worte. „Ein feiner Abschluß war das, Eddy!" sagte er ein umS andere Mal zu sich selbst. „Ein schöner und ge diegener Abschluß!" Dann ging er wieder weiter. Mitten auf der St. Paulsbrücke blieb er stehen und schaute eine Zeitlang in den stockfinsteren Himmel. Plötzlich stellte er den Fuß auf das Geländer. AIS er sich eben abschnellen wollte, fühlte er sich am Arm gepackt. Sein geheimnisvoller Verfolger war h Shuffling drehte verblüfft den Kopf nach ihm um. „Das ist nicht unbedingt nötig!" sagte der Chauffeur. Kommen Sie lieber mit mir! Jemand wünscht Sie zu sprechen." Shuffling grinste albern, ließ sich aber willig fort- ziehen.- „Es war ein würdiger Abschluß, Sir!" „Sie haben zuviel getrunken, Shuffling!" entgegnete der Chauffeur. Sie standen vor dem Auto. Shuffling Mite sich am Kragen gepackt und ins Innere des Wagens gezerrt. Der Chauffeur hatte vorn auf dem Führersitz Platz genommen und war durch eine Glaswand von ihm ge trennt. In rascher Fahrt jagte der Wagen durch die nächtlichen Straßen. „Auch gut!" brummte Shuffling. „Fahren wir ein bißchen spazieren!" Er lehnte sich gähnend in die Ecke und streckte die Beine von sich. Kurze Zeit später war er eingeschlafen. — Er erwachte von dem Schein einer Taschenlampe, deren greller Lichtkegel sein Gesicht abtastete. Mit einem Ruck fuhr er empor und rieb sich verwirrt die Auger». Der kurze Schlaf hatte ihn einigermaßen nüchtern gemacht. „Damned!" fluchte er. „Was soll das heißen?" „Wir sind am Ziel, Mister Shuffling! -Wollen Sie bitte aussteigen." Shuffling konnte den Sprechenden nicht sehen, Lie Taschenlampe war verlöscht. Er tastete sich mißtrauisch und im Gefühl einer ungewissen Angst aus dem Wagen. Im trüben Schein einer flackernden Gaslaterne sah er die Umrisse eines jungen Mannes, der sich flüstern- mit dem Chauffeur unterhielt. Jetzt trat er zu ihm und faßte ihn am Arm. Auch -er Chauffeur war auSgestiegen und hergekommen. Shuffling, nun völlig ernüchtert, versuchte Wider- stanü zu leisten. Was wollte man von ihm? War er Verbrechern in die Hände gefallen? Er blickte verstört um sich. Die Gegend, in die man ihn entführt hatte, war ihm vollkommen fremd, obgleich er bisher geglaubt hatte, jeden Winkel von London zu kennen. Soweit er sich bei dem schwachen Licht der wenigen Straßen laternen orientieren konnte, befand er sich in einem noch nicht fertiggestellten Neubauviertel am Rande Ler Stadt. Dort drüben standen einige Häuser im Roh bau, die Fensterlöcher gähnten schwarz. Rechts vor sich glaubte er Las Gerippe eines Baugerüstes zu erkennen. Er machte eine heftige Bewegung, um seinen Arm vom Zugriff Les Unbekannten freizubekommen, Loch es gelang ihm nicht. „Keine Angst, Mister Shuffling, Sie stnS unter Freunden!" „Sonderbare Freunde," knirschte Shuffling, „die einen bei Nacht und Nebel in Liese gottverlassene Gegend verschleppen!" Der junge Mann hatte ihn unterdessen mit sich fort gezogen. Shuffling folgte. Er sah ein, daß jeder Wider stand vergeblich war. Der Weg führte querfeldein über eine zertretene Wiese, an einem hohen Stapel aufgeschichteter Ziegel steine vorbei. Nach wenigen Minuten schon tauchten aus der Finsternis die Umrisse eines barackenähnlichen Gebäudes auf. Gleich danach standen Lie drei Wanderer vor einer aus rohen Brettern gefügten Tür, die mit einem Hängeschloß abgesperrt war. Der Chauffeur trat vor, zog einen kleinen Schlüffe! aus der Tasche und öffnete. Man gelangte in einen stockdunklen Borraum. Shuffling stolperte über ein Bündel Stricke, doch er unterdrückte den Wutausbruch, -er ihm auf -er Zunge lag. Noch einmal ging eS durch eine Tür, dann flammte ein Streichholz auk eine Petroleumlampe wurde an- gezündet. Ihr Schein erhellte einen mäßig großen Raum, darin sich außer einem Tisch und einigen primt- tiven Stühlen keinerlei Einrichtung-gegenstände vor fanden. „Nehmen Sie Platz, Mister Shuffling!" forderte der junge Mann auf, der ihn vorhin am Arm gepackt hatte. „Sie werden müde sein. UkbrigenS — Mein Nams jst Hartfield." Er und der Chauffeur nahmen am Tisch Platz. Shuffling folgte zögernd ihrem Beispiel. Dann preßte er i», einer entschlossenen Willen-- anspannung die Hände an die Tischkante. „Was in aller Welt wollen Sie von mir? Woher kennen Sie mich eigentlich?" ' Hartfield lächelte, ohne eine Antwort zu geben. Er wie- mit einer schwachen Kopfbewegung in die dunkle Ecke, wo Shuffling erst jetzt in halber Höhe der Wand einen primitiven Lautsprecher entdeckte. Verständnis- los blickte er nach dem Apparat. „Ich kenne Sie sehr aut, Mister Shuffling! Eie waren Teilhaber der Foolop Corporation und habe»» vor dreieinhalb Jahre»» Ihre Strafe angetreten — wegen Wechselfälschung, wenn ich nicht irre." Einen Augenblick schien e-, al- wolle Shuffling vom Stuhl aufspringen. Mit schreckgeweiteten Äugen starrte er auf den Lautsprecher, au- -essen Trichter die Worte ertönt waren. Doch dann begannen seine Hände zu zittern, er sank in sich zusammen. „Man kann es nicht wegbringen!" murmelte er, wäh- rend er Hartfield anblickte. „Hätten Eie mich doch in Ruhe gelassen! Jetzt wäre alle- vorbei. Was soll ich anfangen? Man kann sich nicht mehr -urechtfinden, wenn man einmal -a draußen war." Hartfield legte beide Hände auf den Tisch und spielte mit einer Streichholzschachtel. Um Lie MunLwinkel huschte ei»» spöttisches Lächeln. Wieder erklang die geheimnisvolle Stimme au- Lem Trichter. „Sie werden einiges Interesse an der Person eines gewissen Mister Manhattle haben!" Shufflinasuhr herum. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. „Es wäre mir ein Vergnügen, meine Finger um Manhattles Kehle zu pressen!" Der Unsichtbare antwortete sofort: „Sie sehen, ich bin aut unterrichtet. Ich weiß sehr wohl, -aß Lie Unter- schrift auf jenem Wechsel so echt war, wie nur die ehr- liche Unterschrift eines ehrlichen Mannes echt sein kann. Aber Mister Manhattle ist ein mächtiger und «influtz- reicher Mann, sollten Sie wissen. Ein Mann von Ehre! Allerdings — er wollte Sie auS der Firma haben. Sie standen seinen Plänen im Weg und La stellte er Ihnen eine kleine Falle, in Lie Sie mit rührender Einfalt hin- eintappten. Das war alles. — Wie konnten Sie nur Lie kindliche Meinung hegen, daß Lie Gerichte Ihnen helfen würden? — Mister Manhattle ist, wie gesagt, ein ehren- werter Mann, ein sehr angesehener Mann. Die Ge schworenen wagten nicht, ihn zu kompromittieren. Man hattle ist eingetragenes Mitglied des exklusiven Kening- ton-Klnbs. Durfte man den Kenington-Klu- kompro mittieren? Manhattle ist ein vertrauter Freund des Polizeipräsidenten Macferald. Durfte Ler ehrenwerte Mister Macferald kompromittiert werden? — Was sind Sie dagegen? — Lächerlich, es zu sagen! Ein gewisser Mister Shuffling!" Die Stimme des Unsichtbaren war wie von Stahl, hart, bezwingend, keine Widerrede duldend. Shuffling stöhnte. Er hatte das Gefühl, von Len Pranke»» eines Raubtieres niedergeschlagen, zermalmt zu werden. „Warum sagen Sie mir LaS?" röchelte er. „Warum erinnern Sie mich daran?" „Weil ich Ihnen helfen will!" lautete die Entgegnung. Hartfield hatte unterdessen eine Zigarette aus dem Etui genommen. Der Chauffeur gab ihm Feuer. Dann tauschten sie mit flüsternder Stimme einige Worte. „Sie — mir helfen?" Shuffling lachte verzweifelt auf. Seine Augen hingen wie gebannt an dem Laut- sprecher. . Einige Sekunden verstrichen, bis die Stimme LeS Un- sichtbaren wieder vernehmbar wurde. Sie schien noch um einen Grad metallischer zu klingen. „Wenn irgend iemand auf der Welt Ihre Sache in Ordnung bringen kann, -ann bin ich es." Shuffling war im Begriff, ein ungläubig spöttisches Gesicht zu machen, -a fielen ihm die seltsamen Dinge ein, von denen er draußen in Reading immer und immer wieder hatte erzählen Hörer». „Da müßten Sie — sind Sie etwa — Ler Mann im Havelock?" flüsterte er und seine Stimme zitterte. Im gleichen Augenblick drehten die beiden Männer die Köpfe nach ihm. Die durchbohrenden und eindring lichen Blicke, mit denen sie Shuffling fixierten, bewiesen ihm, -aß seine Vermutung richtig war. Shuffling verwandelte'sich. Die Verzweiflung fiel von ihm ao. Wenn Ler „Mann im Havelock" seine An- gelegenheit in die Hand genommen hatte, bann war alles in Ordnung. * * * Shufflings Zuversicht war begreiflich. Denn nicht nur unter den Insassen von Reading war -er Name -es „Mannes im Havelock" bekannt, sondern Lieser ge- heimnisvolle Mann hielt seit vierzehn Monaten ganz London in Spannung, ohne -aß es den Bemühungen von Scotland UarL gelungen wäre, seiner habhaft zu werden. Das dunkle Dasein -e- Mannes im Havelock begann auf eine recht ungewöhnliche Art, und dadurch wurde sein Name so rasch populär, daß -er lausigste Gassen junge von Withechapel die Ohren spitzte, wenn er ihn zu hören bekam. Zunächst -achte man, eS sei nichts weiter al- eine ge schickte Geschäftsreklame, al- an einem sonnigen Nach mittag Les Jahres 1V80 ein Flugzeug über London City erschien, LaS durch seine waghalsigen Loopings alsbald die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Als -er Flieger dann eine Unmenge kleiner Karten abwarf, welche Lie Aufschrift „Der Mann im Havelock" trugen, war alles davon überzeugt, -atz eS sich dabei um einen neuen Film oder die Fabrikmarke einer neuen Tuch fabrik handelte. Statt besten aber brachten am nächsten Morgen die Zeitungen den ausführlichen Bericht eine- unheim lichen Verbrechen-, da- in der Nacht geschehen war. (Fortsetzung folgt.)