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Nr. 60. 29. Juli 1916. Verschiedener Jahresarbeitsverdienst der Facharbeiter und gewöhnlichen Arbeiter. In der landwirtschaftlichen Unfallversicherung wird nach der Reichsversicherungsordnung unterschieden zwischen Fach arbeitern und gewöhnlichen Arbeitern. Diese Unterscheidung macht sich für die Versicherten selbst in der verschiedenen Höhe des der Rentenberechnung zugrunde zu legenden Jahres arbeitsverdienstes geltend. Die Facharbeiter werden nämlich entschädigt nach dem Jahresarbeitsverdienst, den sie tatsächlich in dem Jahre durch ihre Arbeit gehabt haben (sog. Individual lohn). Erreicht dieser Jahresarbeitsverdienst auf den Tag nicht den sogenannten Ortslohn, d. h. den ortsüblichen Tagesentgelt gewöhnlicher Tagarbeiter, der von den Oberversicherungsämtern verschieden festgesetzt wird für Männer und Frauen und für jedes Geschlecht wiederum nach drei Altersklassen, nämlich für Versicherte unter 16 Jahren, von 16—21 und über 21 Jahre, so kommt auf den Arbeitstag dieser Ortslohn zur Anwendung. Wer dagegen in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung nicht als Facharbeiter, also als gewöhnlicher landwirtschaftlicher Arbeiter gilt, dessen Rente wird nicht nach dem von ihm selbst verdienten Jahresarbeitsverdienst bzw. dem Ortslohn berechnet, sondern kurzweg nach einem Durchschnittssatz und zwar nach dem ebenfalls von den Oberversicherungsämtern festgesetzten und ebenfalls für Männer und Frauen in drei Altersklassen eingeteilten durchschnittlichen Jahresarbeitsverdienst gewöhn licher landwirtschaftlicher Arbeiter. Dieser Jahresarbeits verdienst ist bedeutend geringer wie der Ortslohn ge werblicher Arbeiter. Die Frage, ob eine Person also als Facharbeiter oder gewöhnlicher Arbeiter anzusehen ist, ist für die Versicherten selbst von größter Bedeutung, da von der Beurteilung der Frage die Höhe der Rente ab hängt. Nun gilt aber bei dem für die gewöhnlichen landwirt schaftlichen Arbeiter anzusetzenden durchschnittlichen Jahres arbeitsverdienst noch die Bestimmung, daß für Personen, die bereits vor dem Unfall keine volle Erwerbsfähigkeit hatten, sondern nur eine beschränkte, z. B. durch Alter, Krankheit, Invalidität, nicht der volle durchschnittliche Jahresarbeitsver dienst, sondern der Teil des durchschnittlichen Jahresarbeits verdienstes, der dem Maße der vor dem Unfall vorhan denen Erwerbsunfähigkeit des Betreffenden ent spricht. (§ 940 der Reichsversicherungsordnung.) Bei dieser gesetzlichen Bestimmung ist der Gesetzgeber von folgender Er wägung ausgegangen: Der volle durchschnittliche Jahresarbeitsverdienst bezieht sich nur auf ganz gesunde, voll erwerbsfähige, gewöhnliche Arbeiter. Wenn also ein Arbeiter verunglückt, der seine volle Erwerbskraft vor dem Unfall nicht mehr hatte, so kann für ihn auch der volle Jahresarbeitsverdienst nicht als Norm an gesehen werden, sondern dieser volle Jahresarbeitsverdienst muß entsprechend der vorhanden gewesenen Invalidität gekürzt werden. Beträgt also der volle Jahresarbeitsverdienst 800 M. und ist der betreffende verunglückte Arbeiter vor dem Unfall bereits nur zu 50 % erwerbsfähig gewesen, z. B. durch schwere Krankheiten, Lungenerweiterung, Arterienverkalkung, Rheuma tismus usw., so werden als Jahresarbeitsverdienst zur Berech nung der Rente nicht 800 M., sondern nur 50 % von 800 M., das sind 400 M., angesetzt. Diese Berücksichtigung der bereits vor dem Unfall vorhandenen Invalidität findet nur statt bei den gewöhnlichen Arbeitern, nicht bei den Facharbeitern. Dies erscheint auf den ersten Blick als ein Unrecht gegen die ge wöhnlichen Arbeiter. Der Gesetzgeber geht aber davon aus, daß bei denjenigen Facharbeitern, die bereits vor dem Unfall keine volle Erwerbsfähigkeit hatten, sich das auch in ihrem Arbeitslohn ausspricht. Der Gesetzgeber geht davon aus, daß ein Facharbeiter, der nur zu 50 % erwerbsfähig ist, nicht auch den vollen Lohn eines gesunden Arbeiters, z. B. nicht 4 M. pro Tag, sondern 2 M. pro Tag, verdient. Ob diese Annahme berechtigt ist, muß dahingestellt bleiben. Tatsache ist jeden falls, daß sehr viele nicht voll erwerbsfähige Facharbeiter von ihren Arbeitgebern den vollen Lohn erhalten, sei es aus Wohl wollen, oder mit Rücksicht darauf, daß der Betreffende schon lange Jahre in dem Betriebe arbeitet, oder aus anderen humanen Gründen. Wenn ein derartiger Facharbeiter verunglückt, wird seine Rente auch nach seinem vollen Jahresarbeitsverdienst be rechnet, trotzdem er tatsächlich vor dem Unfall nicht voll er werbsfähig gewesen ist. Was also für den nicht voll erwerbs fähigen gewöhnlichen landwirtschaftlichen Arbeiter auf Grund des Gesetzes in jedem Falle ein tritt, nämlich eine Kürzung des durchschnittlichen Jahresarbeitsverdienstes, tritt für den Fach arbeiter nur dann ein, wenn tatsächlich sein Jahresarbeitsver dienst von seinem Arbeitgeber bereits gekürzt war. Daß also nach dem Gesetz eine verschiedene Behandlung der Facharbeiter und gewöhnlichen Arbeiter stattfindet, ist unzweifelhaft. Die Berufsgenossenschaft muß sich natürlich bei der Feststellung der Jahresarbeitsverdienste nach den gesetzlichen Vorschriften richten. Nun sagt das Gesetz im § 940 der Reichsversiche rungsordnung: „trifft der Unfall einen schon dauernd teilweise Erwerbsunfähigen, dessen Rente sich nach dem durchschnitt lichen Jahresarbeitsverdienst richtet, so wird davon nur der jenige Teil zugrunde gelegt, welcher dem Maße der Erwerbs fähigkeit vor dem Unfall entspricht.“ Der betreffende Mann muß vor dem Unfall bereits dauernd in seiner Erwerbs fähigkeit Schaden gelitten haben. Es darf also nach der Recht sprechung des Reichsversicherungsamts die Kürzung des Jahres arbeitsverdienstes nicht vorgenommen werden bei einem Ver sicherten, dessen Erwerbsfähigkeit erst seit kurzem und nur durch ein offenbar vorübergehendes Leiden ge schmälert war und ohne das Dazwischentreten des Unfalles in verhältnismäßig kurzer Zeit wieder voll hergestellt gewesen wäre. Ferner muß bei der Anwendung des § 940 der Reichs versicherungsordnung auch beachtet werden, daß der durch schnittliche Jahresarbeitsverdienst, der unter Umständen ge kürzt werden muß, an sich schon ein durchschnitt licher ist, d. h. ein Jahresarbeitsverdienst, bei dessen Fest setzung seitens der Oberversicherungsämter die Löhne jüngerer und älterer Arbeiter in Betracht gezogen worden sind, also der Umstand bereits berücksichtigt worden ist, daß der eine oder andere Arbeiter aus irgendwelchen Gründen nicht mehr voll erwerbsfähig war. Es ist daher von dieser Kürzungsvorschrift des § 940 der Reichsversicherungsordnung nur ein vorsichtiger und maßvoller Gebrauch zu machen. Der § 940 der Reichsversicherungsordnung hat daher nur diejenigen Versicherten im Auge, welche auf dem für sie in Betracht kommenden Arbeitsmarkt infolge Alters oder körperlich oder geistiger dauernder Gebrechen keine volle Arbeitskraft mehr besitzen. Dagegen darf eine Kürzung nicht vorgenommen wer den bei Personen, deren Erwerbsfähigkeit noch nicht unter