Volltext Seite (XML)
Beilage zu Nr. 279, — 2S. Jahrgang. - -- Sonntag, den 1» Dezember 1895. Auf den Wogen des Lebens. Roman aus dem Englischen von A, Nicola. (Nachdruck verboten.) (Fortsetzung aus der Zeitigen Beilage.) Die Stimme der Wirtin antwortete: „Vier und die nöligen Wirtschaf,isräums." „Das würde mir gerade passen," nahm die erstere Stimme wieder das Wort; „wollen Sie so gut sein, und mir die Räume zeigen?" „Gern. Bitte, bemühen Sie sich mit hinauf in den ersten Stock." Die beiden gingen die Treppe hinauf, und es währte wohl zwanzig Minuten, bevor die Wirtin mit der Fremden wieder herunter kam. „So halte ich also für heute in acht Tagen alles fertig?" „Ja, ich bitte darum. Mein Name ist Delaware — Mrs. Delaware." „Ich danke Ihnen. Sie sollen alles sauber und ordentlich vorfinden." Laura sah, als die Fremde sich entfernte, daß diese eine vornehme hübsche Frau von vielleicht 40 Jahren war; und sobald sich das Gartenthor hinter ihr geschlossen hatte, kam die kleine rundliche Wirtin glückstrahlend zu Laura in das Zimmer gestürzt und rief: „Ich bitte tausendmal um Verzeihung, Miß Vernon, aber ich bin gar zu vergnügt! Habn Sie denn die Dame gesehen, welche soeben von mir ging?" „Ja," antwortete Laura mit gutmütigem Lächeln. „Bin ich nicht ein echtes Glücks- und Sonntags kind ? Zwei Tage leer und schon wieder vermietet! Und an was für eine reizende feine Dams — nur an sie und einen einzigen Sohn." „Ich glaubte, Sie wollten Kinder nicht i» Ihrem Hause haben?" „Kinder, Miß Vernon? Sie sagt, er seit 35 Jahre alt." „Dann ist er nicht ihr eigener Sohn." „Genau, wie ich auch sagte. Nicht wahr, sie ficht so jung und hübsch aus? Aber sie lachte und entgegnete, er sei doch ihr eigen Kiud — sie sei nicht j ganz so jung wie ich wohl glaubte; ihr blondes i Haar und Heller Teint ließen sie jünger erscheinen." „Sie schien mir sehr hübsch." meinte Laura. „Was ist ihr Sohn? Wer sind die Leute überhaupt?" „Das sagte sie mir nicht, nur meinte fte, ihr Sohn sei vi-l fort, und müsse jederzeit zum Hause hinaus und hereinkommen können und deshalb seinen eigenen Hausschlüssel haben. S-in Geschäft erfordert es so." „Vielleicht ist er Litterat und giebt irgend ein Blatt heraus," mutmaßte Laura. W Als Olive nach Hause kam, teilte ihr die Schweller die interessante Neuigkeit mit. „Die obere Etage ist wieder vermietet?" ent gegnete diese gleichgültig. „Nun. an meine Musik Werden sich die guten Leute gewöhnen müssen." „Natürlich. Der Sohn ist vermutlich Litterat und sehr viel außer dem Hause- Ihr Name ist Delaware." Olive drehte sich wie elektrisiert auf dem Absatz um. „Litterat?" rief sie innerlich im höchsten Grade belustigt. „Und auch Delaware?" „Ist Dir der Name bekannt?" „Ja, Onkel Albert stellte mir neulich Abend einen Mr. Delaware vor, vermutlich ist es derselbe," erwiderte Olive. „Wie sonderbar, daß er nun gerade in unser Haus zieht. Weißt Du denn, ob er wirklich Litterat ist?" „Danach habe ich ihn nicht gefragt." „Wenn er seiner Mutter glicht, muß er ein sehr hübscher Mann sein," fuhr Laura fort. „So ist sie also hübsch?" „Ja, so viel ich von ihr sehen konnte. Sie schien mir eine sehr zarte Blondine —" „Er ist dunkel und unbedingt em schöner Mann, gleichviel ob er ihr ähnlich sieht oder nicht," fiel ihr Olive ins Wort. Laura fragte dann, wie ihr die neue Schülerin gefallen habe. „Sehr gut," lautete die Antwort. „Sie scheint Talent zu haben, fleißig und verständig zu sein und ist nebenbei ein wunderbar schönes Mädchen." „Wie sieht sie aus?" forschte Laura eifrig. „Sie hat ein Paar süßer Rehaugen, volles, kastanienbraunes Haar, herrliche Farben —" „Wie langweilig Du bist! Das ist doch keine Beschreibung." „Sie hat eine breite, geistreiche Stirn," fuhr Olive lachend fort; „aber Du mußt Cathie Hurst selbst sehen, «m zu wissen, was ich unter reizend und herzgewinnend verstehe, denn ihre Schönheit liegt nicht in klassischen Zügen. Warum schaust Du mich so eigentümlich an?" fügte sie plötzlich hinzu und kniete an der Seite ihrer Schwester nieder. Diese schlang die Arme um die schlanke, anmu tige Gestalt und zog den schönen Mädchenkopf mit den dunkeln Augen und fein geschnittenen Zügen fest an ihr Herz. „Ich dachte, mein Liebling, daß nicht Dein kluger Kopf, nicht Deine klassische Schönheit es ist, die Dich mir und Wilford so unaussprechlich teuer machen, sondern die Liebe und der Frieden, den Du um Dich zu verbreiten weißt, das —" „Still, still, das verdiene ich nicht", entgegnete Olioe mit thränenfeuchtem Blick, während sie der Schwester lächelnd mit ihrer kleinen Hand den Mund verschloß. 4. Kapitel. Paris hat sich mit der Zeit so verändert, daß sich wohl nur wenige Leute noch der älteren und ärmeren Stadtteile zu erinnern wissen. Doch in dem ältesten Teil befindet sich die kleine enge Rue Grignau noch genau so wie in den finsteren Tagen der Revolution und es kommt gewiß mancher Anti quitätensammler nach Paris, der dem eleganten Stadtviertel gern den Rücken kehrt, um in der alten engen Gasse vor einem Antiquitätenladen die Schritte aozuhalten, welcher seit einem halben Jahrhundert j die Herzenslust manches Kenners gewesen ist. Viel leicht war die sonderbarste Altertümlichkeit darin der Eigentümer, Meister Pierre Lafitte, selbst ein kleines, verknöchertes Männchen, ein Stückchen leben dig gewordene Weltgeschichte, eine Miniaturausgabe in gelbes Leder gebunden. Er war ein Kind ge wesen, als in Frankreich die Revolution ausbrach, und seine Hände hatten fast Marie Antoinettens Kleid streifen können, als man sie nach dem Schaf- fot führte. Er hatte das Haupt der Du Barry unter dem Messer der Guillotine fallen sehen und mit Schauer dem stolzen Tod der Prinzessin von Lamballe und Madame Elisabeth beigewohnt. Später hielt er seine Raritäten im Keller ver borgen, und er selbst entging der Guillotine nur durch ein Wunder, denn er war durch und durch Royalist. „Ich hielt meinen Mund", erklärte er, „weil ich zu unbedeutend war, etwas Vernünftiges leisten zu können". „Nun war er ein alter Mann, verwittert und vertrocknet, nur noch Haut und Knochen; so gelb wie Pergament und so abnorm häßlich wie ein Affe, dazu kleidete er sich noch gänzlich nach der Mode Ludwig XVI., wahrscheinlich um im Einklang mit seinen Waren zu bleiben. Zu diesem Ueberbleibsel der französischen Schreckenszeit trat eines Morgens die schöne Gestalt Aubrey Delawares. „Guten Tag, Meister Pierre", redete er mit seiner wohlklingenden Stimme den wunderlichen Alten an, der neugierig zu dem jungen Manne aaf- schaute. „Zu dienen mein Herr", gab er zurück. „Was wünschen Sie?" „Ich will Ihnen Gelegenheit geben, Ihr gutes Gedächtnis zu prüfen mein Freund", antwortete Delaware. „Sie erinnern sich doch meiner?" „Der kleine Mann kam hinter dem Ladentisch vor und duckt- forschend zu des Fremden schönen Zügen hinauf. „Natürlich", rief er dann hastig, „natürlich kenne ich Sie! Mich sollte mein Gedächtnis verlassen! Nein, niemals — und vor allem einem so hübschen, strammen Menschen wie Sie — denn sieht man nicht alle Tage. Sie waren vor einer Reihe von Jahren hier — vor sechs Jahren". „Stimmt genau. Ihr Gedächtnis, Meister Pierre, ist wahrhaftig bewunderungswürdig. Erinnern Sie sich auch »och, weshalb ich zu Ihnen kam?" „Weshalb? Nun, meiner Treu," rief der Kleine erregt, „Sie sind Polizeiagent!" „Nem," entgegnete Delaware lachend, „das war ich damals, doch jetzt schon lange nicht mehr. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich durchaus nichts Arges gegen Sie im Schilde führe." „Gut — tch will Ihnen glauben. Sie kamen — warte» Sie, Sie kamen wegen eines Rmges. Ja, ich weiß es jetzt genau. Es war der einzige Borgia ring; der Preis war Ihnen damals zu hoch und Nun ist der Ring leider verkauft. Ich habe weder vor noch nachher eine solche Rarität besessen. Es ging ein Stück von meinem Herzen mit fort, als ich ihn verkaufte, das kann ich Ihnen versichern. Aber was blieb mir anders übrig? Der Engländer bot mir einen enormen Preis dafür." „Natürlich die Engländer" — dabei klang eine leise Ironie aus Delawares Ton heraus — „find alle reiche Leute, und London ist mit Gold gepflastert. So war jener reiche Mann also ein Engländer? Sie können sich seiner aber gewiß nicht mehr deut lich erinnern, so gut ihr Gedächtnis sonst auch ist," bemerkte der Geheimpolizist mit einem so herausfor dernden Lachen, daß der kleine Franzose — wie De laware sehr richtig gerechnet hatte, — in beleidig tem Eifer rief: „Nicht mehr deutlich erinnern? Und das sagen Sie mir? Heilige Jungfrau, wie wenig kennm Sie mich! Ich, der ich die edle, hochherzige Marie An toinette noch leibhaftig vor mir stehen sehe, ich sollte vergessen haben, wie der Mann aussah, der meinen Borgtaring kaufte? Nein, nein und tausendmal nein!" „Nun, wie sah er aus, blond, brünett, alt, häßlich?" „Er war ein Mann von vielleicht vierzig Jah ren, nicht so groß wie Sie, aber kräftig und breit schultrig, ein ganz hübscher Mann mit blonden Haaren, einer großen Nase, hellgrauen Augen — gerade so wie die Schlangen sie haben — und einem großen schwarzen Mal unter dem linken Ohr. Ich sah es, als er das Haar einmal zurückstrich." „Vielleicht war er ein Konkurrent von Ihnen," mutmaßte Delaware. „Nein, er war ein feiner Herr und reich dazu, sonst hätte er den Ring nicht kaufen können." „Mag sein," warf Delaware leicht hin und fuhr in ruhigem Unterhaltungstone fort: „Nicht wahr, der Ring enthielt noch etwas von dem Löllichen, geheimnisvollen Gift, welches die Borgias mehrfach sollen angewendet haben?" „Das will ich meinen," entgegnete der Alte be leidigt, daß die Macht der Zerstörung bei seinem Ringe angezweifelt wurde. „Der Herr prüfte es, und ich erinnere mich genau noch, wie er sagte, das Gist mußte viel wirksamer sein, als die St. Niko- lausthränen, deren sich La Jofana und La Spara bedient haben." „Wirklich," meinte der Geheimpolizist mit eigen tümlichem Lächeln. „Es war gewiß ein Chemiker. Manchs Herrn sind es nur aus Liebhaberei." „Das ist sehr leicht möglich; er erklärte mir jedenfalls, daß er sich unter keiner Bedingung jemals von dem Rmge trennen würde." „Das kann ich ihm nicht verdenken, und wenn ich das Vergnügen Habs mit Ihrem Freunde ein mal zusammenzutrcffen, so werde ich ihn bitten, mir den Ring zu zeigen. Ich habe mich gefreut, Sie wohl aufzufinden, Meister Pierre — adieu." Damit verabschiedete sich Aubrey Delaware von dem kleinen Alten und verließ den Laden. Er hatte gesunden, was er suchte! Ein breitschulteriger Eng länder mit Schlangenaugen und einem schwarzen Mal war der Mann, nach welchem er zu suchen hatte. Wie indessen die Sache anzugreifen war, davon hatte er noch nicht die leiseste Ahnung, als er sich in den Waggon setzte, um die Rückreise anzutreten; und als er an seinem Ziele angelangte, war er der Lösung dieser Frage nicht um Haaresbreite näher gerückt. Der Mann, in dessen Besitz sich der Ring befand, kounie tot oder bei den Antipoden sein — uni der scharfsichtige Geheimpolizist fühlte sich ein mal recht machtlos und unbedeutend. Er beschloß nach Haus zu gehen, um Körper und Geist wenigstens für diese Nacht ruhen zu lassen; zuvor aber trat er in das Bahahofsrestaurant, um zu Abend zu essen, denn es war spät und seine Mutter von seiner An kunft nicht unterrichtet. Sie war während ihres Sohnes Abwesenheit in d e neue Wohnung übergesiedelt, welche ihm ganz besonders paßte, da er mir seiner neuen Agentin nun ein Haus teilte. Bis zu einem gewissen Grabe war Mrs. Dela ware an ihres Sohnes unberechenbares Kommen und Gehen gewähnt, und daher jederzeit bereit, ihn zu empfangen. Auch jetzt saß sie vor dem Kamin feuer und lauschte gespannt nach dem so wohl be kannten Tritt. Als sie ihn endlich vernahm, erhob sie sich hastig une das freundliche milde Gesicht der dreiundfünfzigjährigen Frau, die noch so frisch und jung aussah wie eine vierzigjährige, überflog ein sceudiges Rot. (Fortsetzung folgt.)