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Gedanken trafen diesmal ganz genau mit denen Frau Ursulas zusammen. Leise seufzend gehorchte sie ihm. Und ihre Augen ruhte» teilnehmend auf dem guten, alten Ge sicht des Gelehrten, als seine nervös zuckenden Hände nun das Schreiben öffneten. Nur eine Minute genügte, um die wenigen Zeilen, die es enthielt, zu überfliegen, dann aber zuckte ein Ausdruck von Zorn und Bitterkeit über die verwitterten Züge. „Nun?" fragte Frau Ursula leise, schüchtern. Er stampfte zornig den Boden und warf den Brief mit einer leidenschaftlichen Gebärde auf den Küchentisch. „Noch einmal — und tausendmal, Sie haben recht, man muß seine Nase nie in Heiratsgeschichten stecken," sagte er mit bebender Stimme. „Nun hab ich es! Ach, mein armes, armes Grethchen, wie wirst Du es nur aufnehmen!" Er fuhr sich mit beiden Händen an den alten, ehrwürdigen Kopf. „Und denken zu müssen," setzte er dann hinzu, „daß ich, ich allein an dieser unerhörten Demütigung die Schuld trage. Ich, der ich doch dem herzigen, kleinen Mäd chen jeden Stein aus dem Weg räumen möchte! Sagen Sie selbst, ist das nicht zum Verrücktwerden?" „Aber liebster, bester Palzow, ich weiß noch gar nicht, was in dem Brief da steht — wenn ich auch ahne, Doktor Herder —" Er lachte zornig auf — „benachrichtigt mich kurz und bündig", beendete er dann den von der alten Dame begonnenen Satz, „daß er jetzt auf die Hand des Fräulein Stenson verzichte." „Und nun antworten Sie mir, Ursula, ist Ihnen je im Leben auch nur Aehnliches vorgekommen? Giebt es für ein feinfühlendes Mädchen von so viel Geistes- und Herzensbildung etwas Fürchterlicheres, als — zurückgewiesen — so zurückgewiesen zu werden?" Der alte Herr war derart aufgeregt, derart im Zorn, baß Frau Ursula wirklich um ihn bangte. — Bei seiner schwächlichen Körperkonstitution sollte er sich nach der Mahnung seines Hausarztes vor jeder außergewöhnlichen Erregung in Acht nehmen. „Aber Vetter, lieber guter Vetter", bar sie des halb und die Augen wurden ihr naß vor Herzens angst. „Denken Sie doch an die Worte des Herrn Sanitätsrates!" Und als er ihr nur mit einer zor nigen Handbewegung antwortete, setzte sie noch hin zu: „Und dann, es bleibt ja immer auch zu berück sichtigen, Grethe wies ihn doch zuerst ab und —" „Aber, was reden Sie denn nur für alberne Dinge in den Tag hinein, Ursula", unterbrach der alte Herr sie da — zum erstenmal, seit sie ihn kannte, in einem Ton, der die alte Dame kränkte und be leidigte und sie daran erinnerte, daß auch sie nur ein Mietling in diesem Hause war. Ihr Erschncken, das wehe, schmerzliche Zucken um ihr Mundwinkel sagte ihm denn auch, welch ein Gefühl er in dieser treuen Seele wachgerufen und da Palzow nie im Stande gewesen, einem Tiere Schmerzen zu bereiten, geschweige denn jemals daran gedacht hatte, seiner braven Haushälterin wehe zu thun, so empfand er sofort lebhafte Reue: „Zürnen Sie doch dem alten Poltron nicht, Liebe", sagte er in bittendem Ton, „berücksichtigen Sie doch —" er unterbrach sie wie der — seine Äugen sahen starr nach der Thür — die beiden hier hatten in ihrem Eifer gar nicht be merkt, daß sie sich von neuem geöffnet, schon vor Sekunden — und nun stand da, totenbleich, mit starren, thräuenlosen Augen — Margarethe. „Mein Kind — mein Liebling —!" Mit einem Satz war der Direktor an ihrer Seite und faßte die Hände des jungen Mädchens. Sie ließ es sich ge fallen, aber erwiderte den warmen Druck nicht. Es war etwas über Margarethe gekommen was dem alten Herrn mit iötlicher Angst erfüllte — sollte sie plötzlich den Verstand verloren haben — — ? Die Hellen Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn. „Kind, Kind, so sprich doch nur! sage ein ein ziges Wort — dieser stumme Schmerz — die stumme Qual tätet mich!" Da hob ein tiefer Atemzug ihre Brust und nun ihre Arme um seinen Hals schlingend, flüsterte sie: „Diese Schmach, Oakel, diese Schmach —!" „Ja, dieie Schmach — diese Schmach! Er hätte mit ihr jammern mögen! Er fühlte, was sie fühlte, dennoch aber sagte er sich, daß solches Thun ge wiß nicht am Platz, und so nahm er alle seine Kraft zusammen und auch all die treue, väterliche Liebe, die er für das junge Wesen fühlte, das tn seinem Arm einst die heilige Taufe erhalten, und sagte: „Grethchen, damit ist es nicht so schlimm! Das Dazwischeakommen eines Freundes, der mich dann auch daran verhinderte, Deine Eltern zu besuchen, ließ mich gestern dem Doktor nicht den hundertsten Teil von dem mitteilen, was ich ihm eigentlich Mit teilen wollte. Und so kann ich denn Alles ganz gut auf meine Kappe nehmen, ihm sagen, daß ich diesen Versöhnungsvsrsuch ohne Dein Wissen geplant und dabei nur meinen eigenen Wünschen gefolgt sei, Du also ahnungslos heute hier erschienen wärest, un wissend darüber, wen Du bei mir treffen solltest. O, und ich werde schon dafür sorgen, daß er sich bald der Uebsrzeugung hingiebt, alles, was ich sage, be ruhe auf lauterer Wahrheit. Ich habe Herder bis her freilich auch sehr lieb gehabt", fuhr er dann kort, „mit dem Schreiben da aber Hot er meine Zu- "qung verscherzt. Gewiß, jeder ehrenhafte Mann ^L.stolz sein — dieser Stolz geht mir aber denn doch zu weit! Und nun weine nicht, Grethchen, wenn ich auch etwas Schönes angerichtet habe, mit mei nem Wunsch, auch einmal Schicksal zu spielen, so wiist Du mir doch anderseits wieder so viel Klug heit zutrauen, daß ich nun auch im Stande sein werde, den begangenen Fehler zu korrigieren — laß mich nur machen: Das Köpfchen kannst Du getrost ebenso hoch tragen wie sonst. — Du hast Doktor Herder einen angebrachten Korb gegeben, weiter nichts, das übrige überlasse mir. Und nun komm ins Wohn zimmer, Kind. Sie aber, meine liebe Ursula, schicken wohl zum Konditor, ja, aber das Mädchen ist im Augenblick nicht da, nun, so gehen Sie wohl selbst die paar Schritte und holen mir von Grethchens Lieblingskuchen, so viel Sie auftreiben können. Sie wissen doch, Vase, Windbeutel, Spritzkuchen und wie all das süße Zeug sonst noch heißt." „Aber Onkel, ich danke — bemühen Sie sich nicht, liebe Frau Ursula, ich habe durchaus keinen Appetit." „Ach was, der findet sich schon", sagte der alte Herr. Und nun legte er die Hand seines Lieb lings auf seinen Arm und führte sie in das Wohnzimmer, nach dem weichen bequemen Kanapee, auf bissen Polster er sie mit sanfter Gewalt nieder- drückte, er setzte sich neben sie und ihre Hände fas send, zog er ihr nun selbst die hellgrauen Handschuhe aus und nahm dann so behutsam als möglich den zierlichen Hui von ihrem Haar. — „So Kind, siehst Du, auch so ein alter Bücherwurm kann einmal Zofendienste leisten. Zum Dank dafür mache nun auch wieder ein freundliches Gesicht .... Meine gute selige Mutter Pflegte bei allem Ungemach — und es traf sie nicht weniges - stets zu sagen: „Wer weiß, zu was es gut ist," und sie fand einen solchen Dost in diesen Worten, daß auch ich es ihr nachthue, in diesem Fall aber ganz besonders, wer weiß, mein Liebling!, ob Du jetzt mit Herber glück lich geworden wärst!" „Onkel", sagte sie da und die weiche Stimme bebte, „ich denke jetzt nicht mehr an das Glück oder Unglück, was mich an seiner Seite hätte betreffen können — mein ganzes Sinnen und Fühlen wird jetzt nur von dem Einen ersüllt: „Ich habe mich einem Manne angetragen und er hat mich verschmäht!" „Aber um Gotteswillen, Kind, so darfst Du die dumme Geschichte doch nicht nehmen — Du hast Dich ihm angetragen? Pfui, wie das klingt! Nein, nein, mein Herzblatt, so hat auch er es nicht ausge nommen, Du hast ihn beleidigt aus Uebereilung und wolltest die Uebereilung gut machen — er aber ist ein unvernünftig stolzer Mensch und' zwischen seinen lakonischen Zeilen stehen für mich in großen Lettern die Worte: Joh annes Herder läßt nicht mit sich spielen!" Für eine Minute schien sie diese Auff ffsung auch zu beruhigen, dann aber brach sie in leidenschaftliches Schluchzen aus und von neuem tönte cs von ihren Lippen: „Ich habe mich ihm angctragen und er wies mich zurück." Der alte Herr war in purer Verzweiflung, jetzt wußte er wirklich nicht mehr, was er sagen sollte. „Herr Gott, wie recht hat doch meine Alte," dachte er immer wieder, „um wie vieles wohler wäre mir, wenn ich mich um diese Geschichte gar nicht gekümmert." Da verstummte das Schluchzen neben ihm plötzlich, zwei nasse Augen hoben sich zu seinem Gesicht und eine leise Stimme fragte: „Aber, Onkel, nicht wahr, Du hältst Wort, Du wirst ihm die Uebcrzeugung beibringen, daß Du ohne mein Zuchun eine Ver söhnung h.rbciführen wolltest". „Gewiß, Kind, verlaß Dich darauf — so und da kommt unsere liebe Frau Ursula mit dem Kuchen". „Aber, Onkel, wie kann ich denn heute an solche Leckereien denken?" „Das überlasse ich Deinem Ermessen, Kleine! Ich verlange ja auch nicht, daß das Dargebotene Deine „Gedanken" beschäftigt, es soll Dich nur kör perlich ei» wenig restauriere». So, liebste Ursula, setze» Sie sich zu uns und helfen Sie mir die Kleine in eine andere Stimmung bringen. Sie haben ja Zeit, den» mit dem Abendessen dürfen Sie sich keine außergewöhnliche Mühe geben. Sie wissen ja, unserer Grethe ist es am liebsten, wcnn Sie es so frugal als möglich einrichten". Frau Ursula war eine sehr gescheite, erfahrene Person und verstand es, den jungen Gast ihres Herrn, wenn auch nur allmählich, seinen trüben Ge danken zu entziehen. O, und sie wußte auch zu trösten, ohne daß es den Anschein hatte, als beab sichtige sie etwas derartiges. Es war ja immer ihre Art, das liebe Kind mit Geschichten aus ihrem reichen Eciimerungsschatze zu regalieren, da fiel es denn auch gar nicht auf, wenn sie auch heute wieder manches Histörchen zum besten gab, dessen Hauptmomente freilich recht merkwürdig mit Grethes Kummer zu- sammeupaßten, ihr aber auch den Beweis lieferten, wie das, was ihr widerfahren, im Grunde genommen gar nicht so fürchterlich sei. Kurz und gut, als das junge Mädchen wenige Stunden später Abschied von de» beiden lieben Menschen nahm, da befand sie sich wieder beinahe in ganz normaler Stimmung — ja, j sie lächelte sogar, wenn dieses Lächeln auch noch nicht so vollkommen, so sonnig erschien, wie es wohl das liebe Gesichtchen erhellte, ehe ein Johannes Herder noch nicht auf ihren Lebensweg getreten. Wie sehr unterscheidet sich doch die Liebe eines reinen jungen Frauenherzens von der des Mannes! Sehr mit Unrecht wirft man dem Weibe Gefühls veränderlichkeit vor — sagt man Ihm nach, eS wech sele mit seinen Neigungen ungefähr, wie cs seinen Putz wechsele. Das Weib ist «m Gegenteil viel treuer, als der Mann — das Weib'^ kann bis in sein höchstes Alter einer verlorenen Jugendliebe nach trauern, was der Mann gar nicht ihm stände ist. Die Erklärung hierfür ist eine einfache und unser Dichter Friedrich von Schiller giebt sie uns in den wenigen Worten: „Der Mann muß hinaus in das feindliche Leben, Muß wirken und streben." Und zum größten Teil ist dieses Wirken und Streben von einer Art, daß es von den Empfindungen seines Herzens vollständig abzieht. Nur in den Feierstunden denkt er seiner Liebe, aber auch in diese Feierstunden drängen sich noch die Anforderungen seines Berufs und des öffentlichen Lebens. So ist für den Mann die Liebe mit der Schmuck seines Da seins, während das Weib nur in der Liebe lebt und die Liebe das A und das Z ihres Lebens ist. Was Wunder also, daß auch Johannes Herder leinen Weg ging. Ruhig, ernst und kühl war seine Art vorher und ruhig, ernst und kühl kam er auch jetzt all seinen Verpflichtungen nach, erschien er im Verkehr mit Kollegen und Schülern. Nur einmal war etwas wre leidenschaftliche Er- regung über ihn gekommen, und das war, als der Direktor ihm sagte — Margarethe hatte ahnungs los, was er geplant, an jenem Abend seine Schwelle überschritten —: Margarethe habe nicht das Ge ringste davon gewußt, daß er, ihr alter braver Freund, auch nur daran dachte, sie dem Doktor wieder nahe zu bringen. Da hatte eS verächtlich gezuckt um die Lippen des ernsten Mennes. „Ich dachte es mir wohl, wie wird ein Weib Reue darüber fühlen, daß es mit den Empfindungen eines Mannes Fangball gespielt — mit eigener Hand die Berechtigung zerstören, sich mit einem gegebenen Korbe zu rühmen. O, Herr Direktor, sie haben alle kein Herz, und das ganze Geschlecht kennzeichnet sich nur durch Falschheit, Tücke und syrenevhafte Heuchelei." Der Direktor preßte die Lippen fest aufeinander, um nur kein Wort der Empörung über ein Urteil verlautbaren zu lassen, welches ihn anderseits doch wieder erfreute: Mochte Herder doch das liebe Pat chen für falsch und herzlos halten, eS war, als wenn er sich mit dem übermütigen Gedanken trug, erhöbe die hingebende Liebe dwsts unschuldigen, braven Kindes von sich gewiesen, aus eitlem, nichtigem Stolz. Und Margarethe?! — Sie hatte den festen Willen, den Man», der sie so grenzenslos beleidigt hatte, so tief, wie nur ein Mädchenherz beleidigt werden kann — zu vergessen. Sie redete sich auch ein, ihm wirklich zu zürnen, weil sie wünschte, ihm zürnen zu können. Ja, sie wollte ihn hassen, und glaubte auch, dieses häßliche Gefühl zur Genüge zu kultivieren. Dabei beschäftigten ihre Gedanke» sich unausgesetzt mit: Wenn ihr Kopf sich nachts ruhe los auf dem weichen Pfühl umherwarf, stand die hohe, stolze Gestalt Johannes' vor ihrem geistige» Auge — sie sah das vornehme edle Gesicht mit den tiefen dunklen Bugen, die so traurig blickten, um gleich darauf doch w'eder aufzuleuchten in glühender Begeisterung für alles Edle und Große, und leiden schaftlich schluchzend fühlte sie immer wieder den ganzen wilden Schmerz des Entsagenmüssens; und doch stammelten ihre Lippen auch jetzt noch: „Diese Schmach, diese Schmach!" Wenn sie dann endlich einschlief, so verfolgte sie auch noch im Traum sein Bild. Und erwachte sie am Morgen, dann dachte sie wieder zuerst seiner — kurz und gut, noch nie war ein Mädchenherz seinen Erfindungen treuer geblieben, wie das ihre, trotzdem das Bewußtsein, von dem Gestellten in un erhörter Weise grdemütigt worden zu sein, riesen groß in ihrer Seele stand. Dis Eltern sahen wohl, wie ihr Liebling litt und mst sich rang — auch den Geschwistern blieb es kein Geheimnis — aber es war ausgemachte Sache, daß niemand des Doktors Namen vor dem armen Kmde nennen sollte, dessen Kummer man doch noch nicht zur Hälfte kannte: Grethe hatte ja daheim nichts von dem Gespräch der beiden fremden Herren, das sie zufällig gehört, erzählt — und sie hatte auch selbst der Mutter nicht verraten, wie der Pate die Absicht gehabt, sie wieder mit dem Doktor zu ver söhnen und welches Resultat sein Einschreiten erzielt, und so dachten sie alle: Grethe bereue nur den ge- thanen Schritt, mit welchem sie den Eltern so viel Sorge von der Seele genommen — und der im Grunde genommen, doch übereilt gewesen. Darüber verging die Z it — immer bleicher wurden dcs Mädchens Wangen, immer matterblick ten die Augen. Die Rätin begann schon mit Angst daran zu denken, daß sich aus dem seelischen Leid auch ein körperliches entwickeln könnte — dazu schüttelte der alte Hausarzt aber ernsthaft den Kopf: „Nein, nein — nur Zerstreung braucht die Kleine — nur Zer streuung — Fräulein Margarethe hat sich irgend einen aufregenden Gedanken, ich weiß ja nicht, welchen, in den Kopf gefitzt — durch neue Eindrücke muß man nun versuchen, sich diesem einen Gedanken zu entziehen, sonst —" der alte Herr zuckte traurig die Achseln, „ich füchte kein körperliches Leiden für Ihr Töchterchen, aber es giebt auch noch etwas Schreck licheres—^(Fortsetzung folgt.) Redaktion, Druck und Verlag von Carl Matthes in Lichtenstein (Markt 17S),