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— Waldheim, 16. Juni. Züchtling auf dem Transport entsprungen. Am 14. d. M. früh wurde durch den Gerichtsdtener R. II hiesigen Amts- gerichts der Züchtling Sch. aus hiesigem Zuchthause behufs Auslieferung zu einer Gerichts-Verhandlung nach Görlitz transportiert. Kurz vor der Station Görlitz ergriff der Gefangene die Flucht durch einen Sprung aus dem Cvupöfenster und konnte bis jetzt noch nicht wieder eingefangen werden. Von seiner vierjährigen Strafzeit hatte er noch drei Jahre zu verbüßen. — Ein außergewöhnliches Fest verspricht unser diesjähriges Schützenfest zu werden. Ein ganzes Jahr wurde durch Ebnung des Platzes, als Spreng ung der vorstehenden Felsen, Abtragung der Berge, Ausfüllung der Thäler, Bau einer neuen Mauer, eines neuen Schütz mhauses und Anlegen eines neuen Schießstandes mir Kugelfang beansprucht. Das Fest findet in der Zeit vom 30. Juni bis mit 4. Juli statt. Die Stadtgemeiude, sowie fast sämtliche hiesige Vereine haben für das Fest Ehrenpreise zu dem da selbst stattfindenden Pretsschießen gestiftet. 8 Berlin, 17. Juni. Dec Kaiser hat zum Bau einer evangelischen Kirche zu Holtenau ein Gna dengeschenk im Betrage von 48,000 Mark aus seinem Dtspositionsfond bei der Generalstabskaffe bewilligt und genehmigt, daß die gedachte Kirche zur Erinnerung an die Vollendung des Baues des Nordostseekanals Dankesktrche genannt werde. 8 Daß das Geld in Berlin auf der Straße liegt, hat wiederum eine Thatsache bewiesen, die dem glücklichen Finder einen hübschen Verdienst einge bracht hat. Am Sonntag nachmittag suchte ein Klein händler das nach der Parade vereinsamte Tempel hofer Feld ad und sammelte nur die fortgeworfenen leeren Flaschen, die von dem Paradepubltkum zurück gelassen worden waren. Am Abende hatte der Samm ler einen Handwagen mit Flaschen aller Art, von dickbäuchigen Sektflascheu an bis zur einfachen Selter geladen; der fleißige Mann verkaufte seine Beute sofort; er hat einen Verdienst von 40 Mark damit erzielt. Z Aus Kiel wird berichtet: Acht italienische und drei amerikanische Kriegsschiffe ankeru außerhalb der Kieler Föhrde in der Hohwahter Bucht und nörd lich von Buelk. Vvrbeipajsierende deutsche Schiffe begrüßten die ankommenden Gäste. § Unter den in Kiel eintreffsnden 53 auslän dischen Kriegsschiffen befindet sich eines, das am 3, Juni 1887 der Grundsteinlegung des Nordostseekanals bervohnte. Es ist dies das unter dem Kommando des Kapitänleutnants Petterson stehende schwedische Kanonenboot erster Klasse „Edda", das einen Raum gehalt von 640 Tonnen, eine Besatzung von insge samt 75 Mann und eine Fahrgeschwindigkeit von 13 Seemeilen hat. 8 Die Bedeutung des Nord-Ostseekanals für den Verkehr. Die Frage, welchen Nutzen der neue Kanal dem Verkehr bringen wird, kann nur der Ver kehr selbst beantworten. Alle Bemühungen, darüber vom grünen Tische her Sicherheit zu erlangen, sind vergeblich. Die Kanalfahrt kürzt die Seereise ab und verschafft vermehrte Sicherheit für Menschenleben und Güter; auf der anderen Seite werden Kanal-Ge bühren gefordert. Der Verkehr führt Alles auf Mk. und Pfennig zurück. Es fragt sich, wie viel die an der Seefahrt ersparte Zeit in Geld wert ist, und es fragt sich ferner, wie viel er an Versicherungs Prä mie erspart, wenn er das gefahrdrohende Skagerak vermeidet. Es fragt sich endlich, ob die in dieser Zeit erzielten Gewinne die Last der Kanalgebühr aufwiegen. Hier kann die Erfahrung allein Aus kunft geben. Sollten die Erfahrungen von Anfang an günstig sein, um so besser; sollten sie sich zu An fang ungünstiger gestalten, als man hofft, so bleibt Ersehntes Glück. Original-Novelle von Marie Wirth. Nachdruck verboten. (Fortsetzung.) „Erheblich anders würde ich testiert haben, wenn Kamilla Reue gezeigt, und mich um Verzeihung gebeten hätte. Aber seitdem sie ihre unselige Ehe geschlossen, hat sie es auch nicht einmal der Mühe für wert erachtet, an die beleidigte Mutter zu schrei ben oder — " „Auguste, um Gottes Barmherzigkeit willen, sind das wirklich Mamas Worte? — O, denken Sie doch, ich habe von London aus vier Briefe an sie gerichtet. Flehende — zärtliche — wie sie nur von einem liebenden Kinde geschrieben werden können. Aber sie alle blieben unbeantwortet. Und als wir uns dann — ich will aufrichtig gegen Sie sein — in der bittersten Not befanden und ich noch der Stunde entgegensah, in der ich Mutter werden sollte — (es war nur ein kleines totes Mädchen, von dem ich genas) — schrieb ich auch an Eleonore. Ich bat sie, uns aus dem grenzenlosen Elend zu helfen, in daS wir gekommen, da mein Gatte vergebens um Beschäftigung bemüht. Die Stiefschwester sandte mir darauf — o, es wäre zum Lachen — wenn man es nicht so grausam nennen müßte, — fünf Thaler. „Sie hätte nicht mehr in ihrer Schatulle", entschul digte sie sich. Auch bedauerte sie nebenbei, fernerhin auf jeden Verkehr mit mir verzichten zu müssen. Mama hätte ihr verboten, sich in irgend einer Weise um mich zu bekümmern I" „Schändlich!" Auguste Wandsbeck war von ihrem uns wenigstens der Trost, daß Zeit und Sicherheit für Menschenleben Güter sind, die stets im Werte steigen, und wenn das lebende Geschlecht nicht den vollen Lohn seiner Opfer ernten sollte, der Zukunft werden sie um so sicherer zu Gute kommen. Je mächtiger sich der Verkehr sofort auf dem neu eröff neten Kanal entfaltet, desto größer wird die Rück wirkung auf die bisher bestehenden Handelsbeziehungen und die bisher benützten Verkehrswege sein. Darüber darf man sich keiner Täuschung hingeben. Es ist noch niemals eine Eisenbahn gebaut worden, die nicht, indem sie dem Gesamtverkehr einen mächtigen Auf schwung gab, hier und dort ein Sonderinteresse be einträchtigt hätte. EL ist noch niemals ein großer wirtschaftlicher Fortschritt gemacht worden, der nicht einzelnen Personen zum Verderben ausgeschlagen wäre. Jr mehr der direkte Verkehr begünstigt wird, um so mehr leidet der Zwischenhandel. Eines scheint von vornherein in die Augen zu fallen: Je mehr von der Ostsee her der direkte Verkehr zur Elbe und zum Rhein begünstigt wird, destomehr wird die Oder leiden. Derartige Leiden müssen ertragen werden. Der Fortschritt würbe aufhörcn, wenn man jedem Einzelnen ein Recht auf die Beibehaltung der Vor teile gewähren wollte, die er augenblicklich thatsäch- lich bezieht. Es wird sich ein Rückschlag geltend machen. Diejenigen Orte und Landesteile, die unter den neuen Verhältnissen leiden, werden das Ver langen stellen, daß man nun auch ihnen ähnliche Vergünstigungen verschafft, wie die sind, von welchen fitzt Ändere den Vorteil ziehen. Es wird die For derung nach neuen Wasserstraßen laut werden, die Stettin mit Berlin, mit Dresden in nähere Verbin dung setzen. Und auch dieses Verlangen wird, wenn auch erst nach einigem Zögern, bewilligt werden. Unser Zeitalter steht im Zeichen des Verkehrs, und trotz aller berechtigten und unberechtigten Klagen, die über die wirtschaftliche Lage ertönen, werden Ber- kchrSstraßm und Verkehrsmittel stets vermehrt und verbessert. Schneller als das geistige, künstlerische und das politische Leben schreitet das wirtschaftliche Leben einher, es kennt nur die eine Losung: Vor wärts und aufwärts! Die Erfüllung eines Wunsches weckt neue Wünsche, und dem Wunsche folgt Er füllung! 8 Köln a. Rh., 17. Juni. In der Eifel ist in der gestrigen, sowie in der heutigen Nacht auf einzelnen Gemarkungen starker Frost eivgetreten. Namentlich hat der Frost den Saaten, sowie in dem höher gelegenen Rheingebiete an der Mosel den Weinbergen viel Schaden gebracht. — Die „Köln. Volksztg." bestätigt, daß gegen eine Anzahl Asixia- nerbrüder auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Voruntersuchung wegen Mißhandlung eröffnet worden ist; die Meldungen, daß der Regierungspräsident, der erste StaatLanwalt, sowie der Kreisphysikus um Amtsenthebung vorstellig geworden seien, tresten je doch nicht zu. 8 Bei dem letzten Gewitter stand der Lehrer Hentschel inKoPaukebei Grätz mit seiner Schwester am Fenster und schaute dem tobenden Unwetter zu. Die Schwester, die ängstlich war, hatte die linke Hand des Bruders erfaßt und wollte ihn zurückziehen. In diesem Augenblick schlug der Blitz durch das Fenster und traf das Geschwisterpaar. Man fand es auf dem Fußboden des Zimmers besinnungslos dahinge- gestreckt. Die Hände waren nicht auseinander zu bringen. Endlich, nach stundenlangen Bemühungen, gelang es, beide Personen wieder ins Leben zurück zurufen. Merkwürdigerweise, so schreibt die „Magdeb. Ztg.", fanden sich an Beiden nur geringe Spuren des Blitzschlags. Außer einer Lähmung der vom Blitz berührten Gliedmaßen fühlten die Getrof fenen nur Schmerz an den Stellen, an denen der Stuhle in die Höhe gefahren. „Wie recht haben doch die Leute in W—stein", setzte sie dann aufge bracht hinzu, „wenn sie Fräulein Horb „die bucklige Pharisäerin" nennen. Ja, ja, die Fromme spielen — zu jeder Andacht in die Kirche gehen — allen wohlthättgen Vereinen angehören — und die eigene Schwester mit — fünf Thalern abzuspeisen, wenn sie sich in der Not befindet —das ist echt pharisäisch! Aber ich will der Elenden die Maske vom Gesicht reißen. In Gegenwart der Gnädigenwerde ich ihr sagen, wie sie an Ihnen gehandelt hat. Selbst auf die Gefahr, daß ich meine Stellung verliere, werde ich—" „Halten Sie ein!" Kamilla von Strahlen hatte wie beschwörend die Hand erhoben. Aber wie sich jetzt die Blicke der Wirtschafterin verwundert in ihr Gesicht senkten, sagte sie mit leiser halbversagender Stimme: „Ich bitte Sie, nichts derartiges zu unternehmen, Liebe! Meine Mutter darf auf keinen Fall von Ihnen erfahren, daß, und wie Sie den Versuch machen, Ihre Herrin zu bewegen, mich nach W—stein zu rufen. — Ich sagte Ihnen ja schon", fuhr die junge Frau flüsternd fort, „daß ich nicht mehr in den glänzenden Rahmen meines Vaterhauses passe. Nan mögen sie auch noch wissen, daß — ein Fleck auf den Namen gefallen ist, den ich durch meine Heirat erhalten. Und wenn ich mich selbst auch rein fühle, so vermag ich ihn doch nicht zu tilgen. Die Entehrte aber darf nimmer über die Schwelle der Strahlens treten, um Rechte aufzunehmen, derer sie sich in grenzenloser Verblendung entäußerte. Fast entsetzt starrte Auguste zu Kamilla hinüber. Was meinte die Unglückliche nur mit den Worten? Blitz den Körper zuerst berührt hatte. Bei dem Lehrer zeigten sich außerdem eigentümlicherweise noch drei Hauptwunden, und zwar zwei kleine Löcher an der rechten Halsseite und ein drittes Loch am Gelenk der linken Hand, mit der er die Schwester gefaßt hatte. * * Paris, 16. Juni. Die gegen die Teil nahme der französischen Flotte an den Kieler Fest lichkeiten gerichteten Manifestationen auf dem Kon- kordieuplatze sind ohne bemerkenswerten Zwischenfall verlaufen. Bald nach 4 Uhr rückten etwa sechzig Manifestanten vor die Straßburg-Statue und be festigten am Kopfe derselben Tricoloren und einen Kranz. Auf der Terrasse des Tuillenen-Gartens und den Trottoirs des Konkordienplatzes hatten sich etliche Tausend Personen angesawmelt. Jndeß fanden die Ruse der Manifestanten „Es lebe Frankreich!" „Es lebe Elsaß'Lothringen!" nur sehr schwachen Widerhall. * * Paris, 17. Juni. Der sensationslüsterne „Eclair" meldet, in Hamburg beabsichtigten anlMich der bevorstehenden Feste die Anarchisten, die Holzge-- rüsteinsel tu der Milte des Alsterbeckens in dem Augenblick, wo der Kaiser dem Feste beiwohne, in die Luft zu sprengen. Die Polizei habe ernsthafte Vorsichtsmaßregeln getroffen und den Schiffen sei es infolgedessen verboten, sich der Tribüne zu nähern. * * Die Fahrt der drei französischen Schiffe nach Kiel nimmt, so wird aus Parrs berichtet, in der Einbildung der Menge ungeheuerliche Maße an. Sie wird zu emem Ereignis, das beide Welten erschüttert. Sie ist eine Zwangsvorstellung, die nicht aushört, das Publikum zu verfolgen. Forain, der schematiche Zeichner, den zu bewundern eines der ersten Gebote des Dekadententhums ist, zeigt im „Figaro" einen tief betrübten Matrosen, der auf die Frage seines Offiziers, was ihm fehle, die trostlose Antwort giebt: „Zum ersten Male im Leben habe ich mal au ooour", was zugleich Seekrankheit und Herzeleid bedeutet. Die Brester Blätter veröffentlichen Unterredungen mit Matrosen, denen vaterländische Reden in den Mund gelegt werden. Sie schildern beweglich ihren Schmerz bst dem Gedanken, die deutsche Flagge grüßen, auf den deutschen Kaiser die vorschrifts mäßigen Hurrahs ausbringeu zu müssen, und sie enden meist mir schwungvollen Anrufungen der Väter, die 1870 geblutet, der Ahnen, die 1806 gesiegt haben. Die Patriotenliga und die ihr nahestehenden Kreise halten Versammlungen ab, in denen Klagelieder an- gestimmt und Thräneu stromweise vergossen werden. Auch die Boulangisten berufen Zusammenkünfte und geberden sich wie tragische Helven der Bühne: sie raufen die Haare aus, schwören antike Racheeide und rufen den Zorn der Götter aus dis verräterische Re gierung herab. Solcher Ueberschwaug hält natürlich nicht vor. Wie die Erfahrung lehrt, ist die tiefste Bewegung wunderlich rasch vergessen, und es würde genügen, daß irgend ein anderes Ereignis cinträte, damit von Kiel keinen Augenblick mehr die Rede sei. Aber solange diese hysterische Erregung dauert, ist sie recht unerfreulich anzusehev. Das ist die Em pfindung auch der besseren Franzosen, die sich des Mangels an Zurückhaltung und Selbstbeherrschung ihrer allzunervösen Volksgenossen tief schämen. * * Paris, 17. Juni. Der russische Botschafter Baron Mohrenheim begab sich heute nachmittags 2 Uhr mit dem Botschaftspersonal ins Elisee, um dem Präsidenten Faure die Kette des Andreasordens feierlich zu überreichen. Faure war vom Minister präsidenten Rchot, dem Minister des Auswärtigen, Hanotaux, unddemmilitärischenHauseumgeben. Baron Mohrenheim, welcher mit militärischen Ehren empfangen wurde, hielt bei der Ueberreichung der Insignien folgende Ansprache: „Im Namen Sr. Majestät des Kaisers, meines erhabenen Herrn, habe ich die hohe Von welchen Flecken, welcher Entehrung sprach sie? Natürlich hatte der Leutnant, anders bezeichnete auch Auguste den Gemahl Kamillas nicht, dieselbe ver schuldet, ehe er sein Leben beschlossen. Er war ja immer ein leichtfertiger junger Kavalier gewesen, ein Spieler und Verschwender, der es möglich gemacht, in wenigen Jahren das Erbe seiner Väter zu ver- praffen. Schade nur, daß Frau von Strahlen erst hinter die unseligen Eigenschaften, die zerrütteten Vermögensverhältnisie des eleganten Nichtsthuers gekommen, als er bereits die Verlobung mit ihrer schönen Tochter gefeiert hatte und Kamilla so ernst lich verliebt in ihren Bräutigam war^ daß sie lieber mit dem teuren Mann über den Kanal floh, um sich in London mit ihm zu verbinden, als sich von ihm zu trennen. Aber nun, was in aller Welt hatte der Leut nant begangen, daS auch die junge Frau entehrte, entehrte noch nach seinem Tode? Unsinn! Der Tod sühnt jede Schuld. Mit dem Ableben des Leicht sinnigen, das seltsamerweise so früh erfolgt und ohne daß sie in W—stein ein Wort darüber erfahren, mußte auch seine Witwe wieder rein und fleckenlos dastehen. Es sei denn, sie hätte sich ebenfalls ver sündigt, aber daran war ja nicht zu glauben. Erst so weit in ihrem Gedankengange gekommen, versuchte Auguste doch in schlichter Weise, aber mit Beredsamkeit der innigsten Teilnahme, Kamilla zu wiederholen, was sie sich im Geiste soeben wieder zurechtgelegt. Als sie dabet aber auch zum zweiten Mal den Tod des Leutnants erwähnte, zog eine jähe Röte über Kamillas Gesicht.