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der erste Prediger Wittenbergs, Bugenhagen, im Hause des Stadtschreibers Reichenbach Luther's Ver mählung mit Katharina von Bora, wobei der Maler LucaS Krauch, vr. Apel und Iustus JonaS Zeugen waren. Am nächsten Tage folgte ei» kleines Mahl, ein größeres erst am 27. Juni. Dazu schickte die Stavt eine Maß Malvasier, eine Maß Rheinwein und sechs Maß Frankenwein. Die Universität schenkte einen vergoldeten silbernen Becher. Die Trauringe hatte kein Geringerer gefertigt als Albrecht Dürer. Die Hauptversammlung des sächsischen Ste nographenbundes findet Sonntag, den 14. Juli c. in Schönheide statt. — Wie es in der Welt steht! Zu der glänzen den Feier der Eröffnung des Nordostseekanals sind die ersten fremden Schiffe bereits im Kieler Hafen eingetroffen und andere werden folgen. Es wird ein schönes ungetrübtes Fest werden, und zu der Friedensstimmung dieser Feierlichkeit passen ganz genau die politischen Friedenskundgebungen, die von allen Seiten kommen. In Rom hat König Humbert in der Parlamentsthronrede den Frieden Europas als ungefährdet bezeichnet, in Wien hat der neue Muttste, des Auswärtigen Graf Goluchowski sich ausführlich über die friedliche Lage ausgesprochen, und in Paris hat Premierminister Ribot den schon lauge darnach lechzenden Deputierten sagen können, Frankreich habe eine Allianz mit Rußland abgeschlossen, die nur dem Frieden diene. Den Franzosen kommt cs natürlich nur auf das Wort „Allianz" an, das bisher von keinem Minister gebraucht wurde. Mag die Sachs nicht übermäßig viel zu bedeuten haben, Deutschland kann nun keineswegs mehr auf besondere Liebesdienste Rußland's rechnen, der junge Czar setzt die franzo- senfreuudliche Politik seines Vaters in noch stram merer Form fort. Vielleicht besucht Nckolsus II auch Paris! Fürst Bismarck hat den Empfang des Vorstandes des Bundes der Landwirte zum Anlaß einer sehr energischen Ansprache gegen die vom Grafen Caprivi begonnene Handels Vertragspolitik des Reiches genommen, auch insofern aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht, als er siinr Antipathie gegen mehrere der einflußreichsten Mitglieder der Reichs- regieruug recht ungeniert durchbliüeu ließ. An den Nordostfeskanalfeierlichkeiten wird der Fürst sich nicht beteiligen, als Ursache feines Fernbleibens giebt er seinen Gesundheitszustand an. Das preußische Ab geordnetenhaus hat nunmehr nach Pfingsten seine Arbeiten wieder ausgenommen und zwar mit der zweiten Lesung der Stempcksteuervoriage in einem beschlußunf ähigen Hause. Die Session wird sich noch ziemlich weit hinausziehen. Auf die Erledigung des StewPelstcuergesetzeS und anderer Vorlagen wird von der preußischen Staatsregierung unbedingt bestanden. Sehr beschäftigt hat die weitesten Kreise der Ausgang des Prozesses Mellage in Aachen, mit seinen Enthül lungen über die Behandlung der Geisteskranken in der Anstalt der Alexianer-Brüder; große Teilnahme erweckte auch das Geschick der Bewohner des würt- tembergischen Bezirks Balingen und anderer süddeut scher Ortschaften, die von einem sehr schweren Wol kenbruch heimgesucht wurden. In der Neichshaupt- stadt wurde ein in der That imposantes Denkmal des Reformators Marti« Luther und seiner geistigen Mitkämpfer enthüllt. Der deutsche Kolonialrat hat mehrere Tage in Berlin unter Teilnahme des Gou verneurs von Wißmann getagt und seine Thätigkeit praktischen Verwaltungsfragen gewidmet. Von Rück trittsgelüsten mehrerer preußischer Minister war, wie jedesmal vor Beginn der Sauren-Gmkenzeit, auch fetzt wieder die Rede. Es ist aber noch nicht soweit. Wie bei den preußischen Truppen wird auch in Baiern das Jubilüumsjahr des großen Krieges durch Bekrän zung der Fahnen uud Geschütze bei feierlichen Ge ¬ legenheiten begangen werden. Im Auslande herrschte überall noch parlamentarische Hochflut; in Wien und in Rom haben die Verhandlungen eben erst begon nen, und in der italienischen Kammer hat die Re gierungsmehrheit sich als größer erwiesen, wie man bisher annahw. Die wegen des Kieler Besuchs immer noch hell aufgeregten Franzosen sind durch die Erklärungen des Minister-Präsidenten Ribot von einer Allianz mit Rußland einigermaßen besänftigt. Nach dem Kieler Feste wird der Spektakel Wohl wieder von Neuem anheben. In England dauern die Bemühungen fort, den Sultan gewaltsam zu Reformen im Interesse der orientalischen Christen zu zwingen. Der Sultan wird auch so das Seimge thun. Die Russen freuen sich ihres Erfolges in der chinesischen Angelegenheit, denn mit vollstem Recht erblickt man in der Garantie der großen chinesischen Kriegsanleihe allein durch Rußland eine Unterwer fung Chinas unter die moskowitische Knute. Das nölige Geld schaffen bekanntlich die Franzosen, und um sie williger zum OFfnen der Börsen zu machen, hat der französische Premierminister Ribot auch von der „russisch französischen Allianz" sprechen können. Griechenland hat ein neues Ministerium, und König Milan von Serbien hat beim großen Pariser Wett rennen 300000 F;cs. gewonnen. Von Beiden wirds wohl heißen: Wie gewonnen, so zerronnen! In Ostasien dauert die Okkupation der Insel Formosa durch die Japaner ohne nennenswerte Störungen fort. — Dresden, 11. Juni, Gletscherschliffe an Granitfeljen erregen auf der Eisenbahnlinie Dreödeu- Göclitz tm Berglande der sächsischen Oberlausitz das Interesse der Bewohner. Hier liegt das deutsch- werdische Dorf Demitz mit einer Glashütte und zahlreichen Granttsteinbrüchen. Die Haltestelle Demitz liegt am Berge des ErbgerichtS, dem sogenannten Richterberge, der aus Granit besteht und meterhoch mit Ackerboden bedeck: ist. Bei der Erweiterung des Ladeplatzes und der Rampe für den Granit, der nach Norodsutfchland in verschiedenen Richtungen verschickt wird, wurde von feiten der Bahnverwaltung am Richterberge ein Streifen Ackerland abgegraben und der darunter liegende Granit gesprengt. Die Ober fläche des Felsens ist durchgängig von den Gletschern geschliffen. Der Gletscherschliff ist unter der Acker erde, wahrscheinlich um die ganze nördliche «Seite des Granitbergeö. Mehr und mehr stellen sich Wiß begierige aus nah und fern ein. Wenn man von Dresden kommend, zwischen der Glashüte und dem Richter berge nach Demitz einfährt oder von Göctttz kommend, abfährt, sieht man vom Eisenbahnwagen aus nach Süden in nächster Nähe die oben abge schliffenen Felsen. B quemer kann es das Publikum nicht haben. Für die nächsten Jahre ist der Anblick des Gletscherschliffs gesichert. — Wolkenstein, 11. Juni. Zu den schön sten Punkten, die unsere Stadt aufwezst, zählt die vom verstorbenen Buchhändler Spamer aus Leipzig erbaute Billa Moxenstein, die auf steilen, wildroman tischen Felsen hoch über dem Bahnhofe thront und ihrer schönen Garteusulagen, vor allem aber ihrer unvergleichlich herrlichen Aussicht wegen alljährlich zur Sommerszeit von vielen Wanderern ausgesucht wird. Allerlei sinnige Sprüche, oft vom Humor ge schaffen, die im Garten verstreut angebracht waren, jetzt aber unter einem Vorbau aufbewahrt sind, geben dem lieblichen Heime besonderen Reiz. Leider steht das schöne Haus jetzt verödet, seitdem der Besitzer verstorben ist, und schon beginnen die Wittsrungs- einflüsse deutlich sichtbar zu werden, die mit rauher Hand eimeißen, was feiner Kunstsinn einst geschaffen. Dazu sind die Gänge des Gartens vergrast und die Beete verwildert. Go droht unserer Stadt einer ihrer mächtigsten Anziehungspunkte verloren zu gehen. Die herrliche Aussicht zwar wird bleiben. Aber sollte sich nicht auch ein Weg finde» lassen, die schöne Kunstanlage noch recht lange zu erhalte»? — Reichenbach, 11. Juni. Biel Aufsehen erregte gestern nachmittag */s1 Uhr auf hiesigem Bahnhof der Transport zweier Lokomotiven, welche bei dem vorige Woche in Württemberg niedergegan genen Unwetter schwere Beschädigungen erlitten hatten und nunmehr zur Wiederinstandsetzung nach der Sächsischen Maschinenbauanstalt und Weikzeugfabrik (vorm. Hartmann) in Chemnitz transportiert wurden. — Lützen, 13. Juni. In dem benachbarten Pissen stürzte während des Läutens die kleine Glocke herab in den Raum, wo die Läuter ihren Stand haben, ohne jedoch glücklicherweise einen derselben zu beschädigen. — Reichenau, 12. Juni. Eine ausregende Szene ereignete sich auf dem hiesigen Bahnhofe. Ein junges Mädchen, das sich etwas verspätet hatte, versuchte auf den bereits im Abfahren begriffenen Personsnzvg zu springen, verfehlte hierbei aber das Trittbret und stürzte zwischen zwei Wagen, so daß der Körber unmittelbar vor die Räder kam. Zum Glück sprangen zwei Bahnbeamie schleunigst herbei und retteten das Mädchen, das bereits einige Schritte weit mit fortgeschleift worden war, aus seiner ge fährlichen Lage. — Zittau, 12. Juni. Ein wegen der be gleitenden Umstände ganz eigenartiger Unglücksfall hat sich in Waltersdorf zugecragen. In dem Haus- Platz des Forstwarts hing ein geladenes Gewehr. Der elfjährige Sohn des Hauses war dort mit dem Stiefelreinigen beschäftigt und stieß bei dieser Ge legenheit an das Gewehr, welches dadurch ins Schwanken geriet und herabfiel. Der Knabe wollte es auffangen. Dabei entlud sich der Schuß und traf die gerade in diesem Moment vorübergehende Auf- wärtsrin deS Forstwarts, Höhn, welche schwer ver letzt wurde. 8 Berlin, 13. Juni. Im benachbarten Char lottenburg machte ein 17jähriges Dienstmädchen, welches der Kriminalpolizei angezeigt worden war, weil es femem Dienstherrn 20 Mark entwendet hatte, einen gräßlichen Selbstmordversuch. Sie ging in den Keller, begoß sich von oben bis unten mit Petroleum und steckte dann die Kleider in Brand. Ein zufällig hinzukoWmender Soldat erstickte mit eigener Lebens gefahr dis Flammen, doch hatte dos Mädchen schon schwere Brandwunden erlitten, an denen es in einem Krankenhaus« hoffnungslos darnieder liegt. 8 Berlin, 13 Juni. Nach Privatmeldungen aus Aachen hat dort die vom Ministerium verfügte Schließung der Anstalt Mariaberg, welche gestern abend bekannt wurde, allseitige Ueberraschung, aber auch große Befriedigung hervorgerusen. Die Ueberrasch- ung war um so größer, als der klerikale Aachener „Volksfreund" noch unmittelbar zuvor versichert hatte, man denke nicht daran, auch nur einen einzigen der Brüder zu versetzen, bis die gegen die Brüder einge leitete Untersuchung und das Prozeßverfahren be endet seien. Z Zu der Verfügung betr. die Schließung der Pnoatheilanstalt in dem Alexianerkloster Maria- berg wirk offiziös bemerkt, daß dadurch der Fort bestand der klösterlichen Niederlassung nicht berührt wird. Hingegen ist dadurch den Alexianern z« Maria berg die Befugnis der Behandlung von Kranken ent zogen worben. Betreffs der Heilanstalt Mariabsrg wird aus Aachen berichtet, sie sei mit Inventar der Provivzialverwaltung der Rheinprovinz zur freien Benutzung gestellt worden. Die Kranken werden vermutlich provisorisch in dem Hause bleiben, eS werden aber andere Aerzte und Wärter eingesetzt werden. Zar Charakteristik des bisherigen Anstalts- Ersehntes Glück. Original-Novelle von Marie Wirth. Nachdruck »erboten. (Fortsetzung.) Während Kamilla dann die Augen schloß, setzte sie noch, jedoch bereits in vollends hereinbrechender Bewußtlosigkeit, hinzu: „Ich — ich — ich glaube — ich müßte — irgend — etwas genießen." „Allmächtiger Gott!" Annette war von dem Sofa in die Höhs gefahren: „Eine Minute und ich bin wieder hier!" rief sie nun. Dann verließ sie auch schon das Zimmer und stieg die Treppe hinunter. Ohne erst zu Gilbert in das Wohnzimmer zu treten, eilte sie jetzt nach der Küche. Glücklicherweise war hier das Feuer in der Kochmaschine noch nicht ver löscht. Mit fliegender Haft bereitete Annette ein Glas belebenden Glühweines. Danach ordnete sie aus dem Präsentierbrett, was sich nur an kalter Küche in der Speisekammer finden ließ. Es war nicht eben viel. Aber Braten und Schinken — dazu Weißbrot und frische Butter vermochte sie doch an zubieten. Mit alledem beladen stieg Annette dann wieder zu dem Giebel hinauf. Dort aber fand sie zu ihrem Erschrecken Kamilla in vollständiger Ohn macht vor. Und so starr, so leichenähnlich erschien ihr die Dame in diesem Augenblick, daß sie sich jäh von dem Gedanken bemächtigt fühlte: Der Tod wäre es gewesen, der die schönen Augen der jungen Frau geschlossen. Aber, dem Himmel sei Dank, sie sollte sich ge irrt haben. Denn kaum hatte Annette mit zitternden Händen das Brett mit de» guten Sachen darauf auf den Tisch gesetzt, als Frau Kamilla auch schon die Wimpern hob und zu ihr aufschaute. „Wie seltsam mir nur wurde", sagte sie jetzt. „Ich meine fast, einem Starrkrampf nahe gewesen zu fein. Doch nun ist mir wieder besser, ich —" Sie konnte nicht weiter. Wieder zuckte es ja, ihre Worts Lügen strafend, wie überwältigende Schwäche über das Gesicht der Frau von Strahlen. Doch Annette hatte bereits das mitgebrachte Glas erhoben. Jetzt hielt sie das aromatisch duf tende Getränk an die Lippen der Unglücklichen. „Bitte, bitte, teure Frau, lassen Sie sich nicht nötigen", sagte sie dabei in fast zärtlichem Ton. Und als Kamilla willenlos ihrem Wunsche folgte, glitt es wie lichter Sonnenschein über die milden Züge des alternden Mädchens. „Und nun gestatten Sie mir auch noch, daß ich Ihnen ein Brötchen zurechtmache", flüsterte sie jetzt. Kamilla senkte den Kopf. Aber sie dachte in diesem Augenblick daran, wie oft sie in besseren Zeiten gesagt hatte, „daß sie an Stelle eines Bedürftigen lieber verhungern würde, als Almosen hinzunehmen". „Lieber verhungern!" Wie leicht der Mensch überhaupt diese beiden Worte gebraucht, die er sich längst zum Gemeinplatz gemacht. Und doch beweisen sich dieselben so lügnerisch, wenn der Hunger und die grause Not wirklich an ihn herantritt. Freilich, das war sicher: Gebeten hätte Kamilla nicht um die Gabe, die ihr jetzt so artig offeriert wurde. Aber nun Annette ihr dieselbe in gastlicher Weise präsentierte, griffen die feinen Hände der Dame fast gierig nach dem bratenbelegten Semmelscheibchen, das das kleine Fräulein mit zitternden Fingern für sie hergsrichtet. Ja, so energisch dominierte die rohe erniedrigende Macht des Hungers über den stolzen Sinn dieses vornehm geborenen Weibes, daß Kamilla erst wieder an das Demütigende ihrer Lage dachte, als sie sich gesättigt fühlte und die Stimme des Magens, welcher so gebieterisch nach Nahrung ver langt hatte, zur Ruhe gebracht worden war. Bis in die Stirn erglühend, ergriff sie nun aber auch die Hände ihrer braven Wirtin. „In wel cher Verfassung müssen Sie mich sehen, liebes Fräu lein!" flüsterte sie. „Doch glauben Sie mir, ich verdiene dieses Elend nicht! Wenn ich es auch herauf beschworen habe, als ich vergaß, daß — daß die Tochter der Mutter Gehorsam schuldet", kam es wie ein Hauch über die blassen Lippen. „Aber fragen Sie mich nicht nach der Vergangenheit", setzte die Unglückliche hinzu. „Ich bitte Sie darum. Sondern raten Sie mir lieber, was ich noch rhun kann, um dieses jämmerliche Leben zu fristen, nun ich wohl den Gedanken anfgeben muß, mir als Lehrerin das tägliche Brot zu erwerben". Annette hatte sich, während Kamilla die letzten Worte gesprochen, wieder auf das Sofa ihrer Mieterin gesetzt. Jetzt legte sie schmeichelnd die Rechte auf die Schulter derselben und tiefbewegt in die todestraurigen Augen der jungen Frau blickend, erwiderte sie: „Das will ich! Aufrichtig gestanden, kann ich Ihnen sogar selbst ein Anerbieten machen. Aber Sie dürfen sich auch nicht durch dasselbe gekränkt fühlen, falls es gegen Ihre Ansprüche verstößt. „Gegen meine Ansprüche!" wiederholte Kamilla und lächelte wehmütig. (Fortsetzung folgt.)