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MW!M Es handelt sich hier nicht nni Zwerge, sondern um Hüh ner. Ich habe meine guten Gründe, über Hühner zu schreiben . . . „Otto", sagte die Frau von Herrn Gottfried Käsebier, welcher mein Chef ist (Feinkost nur von Käsebier!) eines Tages, „Otto", sagte sie zu mir, „draußen bei euch gibt's »och diese riesengroßen Hühner mit weißen Kragen, Rumä- »ier, glaube ich, sind's, bis zu 240 Eier pro Jahr! Können Sic uns da nicht mal ein paar Bruteier besorgen?" „Frau Käsebier", sagte ich, „Sie meinen Schwäne! Und es sind keine Numänier, sondern Kriechen, griechische Edelschwäne!" „Es sind Hühner, sage ich!" schrie Frau Käsebier, „ru mänische Riesen, tausendmal mehr wert als Italiener! Ueberhaupt, wer hat heute noch italienische Leghorn? Gott- „du wirst nächsten chen Riesen holen. Achte aber auf die weißen Kragen. Du kannst bis zu zwei Mark gehen pro Ei." Am Sonntag fuhr ich mit Herrn Käsebier im Auto in unser Dors, um Eier von rumä nischen Riesen zu kaufen. Als wir angekommen wa ren, beschlossen wir, im „Schwar zen Pudel", wel cher meinem On kel gehört, einen zu nehmen. Es war die richtige Adresse. Mein Onkel kannte sich in Hühnern aus. Er werde die Sache in die Hand nehmen, sagte er und empfahl uns inzwischen seine Hausmarke „Feu erlilie". Wir nahmen drei Flaschen von Onkel Karls „Feuerlilie" und hatten später das Vergnügen, einen Herrn Jeremias Orgel bei uns zu sehen. Onkel Karl empfahl ihn uns als ersten Sachverständigen für rumänische Riesen. Herr Orgel, ein Mann gesetzten Alters, seines Zeichens Friseur, entpuppte sich dann tatsächlich nicht nur als balkan-. sondern auch als wirklich hühnerkundig. So konnte er uns die Ursachen der Kapitulation von Sewastopol aus dem Hüh nermangel in dieser belagerten Festung erklären, weiter pries er aus Gründen, die näher darzulegen er nicht für fried! rief sie Herrn Käsebier herbei, Sonntag mit Otto 15 Eier van rumäi „Bei dieser Rasse ", flüsterte er und zahlte siebenunddreißigsünfzlg in Silber. notwendig zu erachten schien, Katharina von Rußland als die größte und edelste Förderin der Hühnerzucht vor der Geschichte und kam schließlich auch auf unsere eigene Ange legenheit zu sprechen, die er eine blutige Laicnaktion nannte, weil es rumänische Niesen mit weißen Kragen gar nicht gäbe. Was wir meinten, seien mexikanische Zwerge, sagte Herr Orgel, eine Sorte, die er im Tausend züchte. Wir beschlossen, uns Herrn Oracls mexikanische Zwerge anzusehcn und erwarteten nach seiner Schilderung eine Hühnerfarm mit doppelautamatischem Eicrtransport und elektrischen Brutösen. Lassen Sic mich schweigen: Herr Orgel züchtete nicht im Tausend — er experimentierte am Stück, wenn man höflich sein will. Aber siel)« da. was sich in diesem mittelgroßen Schwcinekoben Herumtrieb an Hüh- ncrvieh, das waren Hühner mit richtigen hohen, weißen Kragen, wie sie Frau Käsebier gesehen und zu. besitzen ge wünscht hatte Nun suchten wir aber nicht Hühner, sondern Eier von solchen. Herr Orgel hatte diese Eier, auch fünfzehn, wenn's sein müsse. Er gäbe sie zwar ungern hin — Herr Orgel sprach wirklich von „hingeben" — im Interesse der Zucht aber — — „Zwei Mark!" schrie Herr Käsebier. „Nicht für die Schale!" entrüstete sich Herr Orgel. „Be denken Sie doch — echte mexikanische Goldzwerge!" Sie einigten sich auf zweifünfzig, wobei ich später den Verdacht nicht loswurde, daß hier ein Mißverständnis vor lag insofern, als .Herr Orgel den Dutzendpreis gemeint hatte, während mein Brotherr Käsebier immer nur auf seinem Limit pro Stück herumritt. „Bei dieser Nasse!" flüsterte er und zählte dem aus allen Flöten zitternden Herrn Jere mias Orgel siebenunddreißigfünfzig in Silber aus die Hand. Von diesem Augenblick an waren wir Herrn Orgels Freunde. Was sage ich — Freunde? Brüder waren wir von ihm, leibhaftige, geliebte Brüder! Zu Onkel Karl in den „Schwarzen Pudel" zurückgekehrt, warf er sofort eine Girlande von neun Bier, drei Flaschen Feuerlilie und sechs Krog von Arrak. Während Herr Käsebier und der Besitzer der mexikanischen Zwerge sich bedrohlich in den Armen lagen, ließ ich das Körbchen mit den fünfzehn kostbaren Eierchen keine Sekunde aus den Augen. „Gottfried!" schluchzte indessen Herr Orgel. „Kommen sie in gute Hände? Ich frage dich auf deine Ehre: Kann man üc dir anvcrtrauen?" „Ich werde sie pflegen, gut. o, so gut. Freund Orgel," weinte Herr Käsebier und trank seinen Grog ex. „Ich habe es gewußt." atmete die Orgel tief auf. „du bist eine edle Seele!" Zur Heimfahrt benötigte ich wegen des Körbchens die Begleitung des Wirtes vom „Schwarzen Pudel". Man kann schließlich nicht zwei girlandenbckränzte Hühnerzüchter, fünf zehn mexikanische Zwergeier und ein altes Steuerrad gleich zeitig hüten, denn daß wir Herrn Orgel gestatten mußten sich dieser nächtlichen Heimfahrt anzuschließen, war nach allem Vorausgegangenen nur ein Akt der Pietät. „Soll ich nicht einen Blick tun dürfen auf die Stätte, da sie leben werden?" halte er geschluchzt, und es war ihm erlaubt mor den. dielen Blick zu tun Bei Käsebiers lag altes in tiefstem Schlummer. Wir stellten unser altes Auto gegen eine Gaslaterne, wo es am nächsten Morgen noch stand, und schlicken uns in Gottfrieds Laden.' Das Körbchen versteckte ich hinter einer stattlichen Reihe von Braunschweiger Salami, während Käsebier. Arm in Arm mit seinem Freund Orgel aus einer alten Sardinen kiste sitzend, eine neue Girlande zusammenstellte. Onkel Karls fachmännische Meinung gab schließlich den Ausschlag: Man werde eine „Dreistern-Krone" erstehen, völlig ausreichend für drei Mann und den Kleinen Während sic ihre „Drci- stern-Krone" tranken und dann noch eine zweite, tat ich ein kleines Nickerchen, und — was soll ich Ihnen sagen — als ich wieder ausmachte, mar das Entsetzliche geschehen: Sie hatten sich über die Salami heraemacht und dahinter die Eier entdecktl Es war ein Anblick, um zur Salzsäule zu erstarren: Da saßen sie cngumschlnngen, die Beine auf die Ladcntheke gelegt, und tranken die mexikanischen Zwerge aus. „Gebacken sollst du sie erst versuchen. Freund!" lallte Orgel, und Onkel Karl, der den Löwenanteil an „Drcistern- Kröne-Kognak" intus hatte, ries immer wieder: „Wo kann man hier Eier backen^" Da saßen sie, eng umschlungen, die Beine aus dem Ladentisch und tränken die mexikanischen Zwerge aus. Zeichnungen <2): Grunwald. Lassen wir den grauen Mantel des Schweigens vor dem düsteren Ende dieser Eier-Exkursion niedergehen. Ich habe eine Lebensstellung bei Käsebiers, die ich wegen mexi kanischer Zwrghllhner nicht aufs Spiel setzen konnte. Wenn erwachsene Männer kindisch geworden sind, so müssen Kin der zu Männern werden, und wenn sie mir die mexikani schen Zwerge, für die ich vor Frau Käsebier geradezustehen hatte, austranken, dann mußte ich für andere Eier sorgen, und Eier haben wir bei Käsebiers genug, ganze Kisten schö ner, runder Eier, gestempelte und ungestempelte. Ich nahm ungestempelte, fünfzehn ungestempelte, die den Mexikanern des Herrn Orgel glichen wie — na. wie eben ein Ei dem anderen Und was ist nun erstaunlicher? Daß Herr Käsebier alles vergessen hatte und am nächsten Tag die Mexikaner vor Frau Käsebier über den grünen Klee herausstrich, oder daß die Hühnlein nach 21 Tagen fröhlich auskrochen und tatsächlich da und dort weiße Hälse hatten? Das heißt, weiße Hälse hatten sie eigentlich nicht, aber Punkte. Punkte bestimmt' Skizze von Stephan Georgi. Ein kurz gellendes Stimmchen. ein klatschendes Auf schlagen, ein zusammenklingender jäher Schrei der Passan ten, die sich hastig zum Geländer drängten. Aber Doktor Jahn war schon dabei, hatte Hut und Jackett seinem be stürzten Freunde vor die Füße geworfen: „Heb' auf!" Und nun hob sich aus dem dunkel-trägen, tintigen Was ser des Kanals bereits wieder sein schmales Gesicht mit dem grauen Haar an den Schläfen. Daneben tauchte der zuvor wohl lockige, nun aber trist gesträhnte Blondkopf des klei nen Mädchens aus. Ein paar kräftige Schwimmstöße mit der freien rechten Hand noch, die Treppe war erreicht, und das Kind wurde an Land gebracht. Nur die weiß gekleidete Puppe nicht, die durch ihr mutwilliges Insmasserhinab- gleiten das Unglück verursacht hatte; die schwamm, einen Zelluloidarm hilfeheischend emporgestreckt, schon weitab an der Brücke Doktor Jahn saß im dicken wollenen HausmaMel sei nem Freunde Ludwig Winzer gegenüber und griff noch ein mal zur Kognakflasche. „Prost!" hob Winzer das Glas hoch. „Auf die neue Auszeichnung, die dir jetzt wieder bevorsteht. Menschcns- kind. sage mal. willst du dich denn mit deiner Manie, zu retten und zu Helsen, restlos ruinieren? Ich meine, daß dort am Kanal Jüngere und Gesündere zur Stelle waren. Ich sah. wie einige andere ebenfalls im Begriff standen. . " „Ich freue mich, daß ich es tun konnte." fiel Jahn ein. „Freudig zugegeben," fuhr er fort, „ich konnte viel helfen, viel retten in den letzten Jahren; aber es ist unsinnig zu glauben, daß ich es tat. um ehrgeizig Auszeichnungen zu sammeln. Nein, es geschah aus innerer Notwendigkeit, es gesck-ah — geschah unter dem quälenden Druck einer Schuld, die ich tilgen muß." Jahn schwieg gedankenabwesend. Nach einer Weile fuhr er fort: „Damals war ich nahe daran, mich in blinder Torheit mit Vera Goldner zu verloben. Das ist längst ver gessen. Aber das andere nicht: die Augen, der Blick . . Es war an jenem Abend, an dem ich endlich aus dem kläglicl)en Dämmerzustand erwachte, der mich um diese Zeit neblig umfing. Man hatte mich ja schon früher vor Vera Goldner gewarnt; aber konnte ich verblendeter Narr, der ich damals amr, diesen Warnungen Bedeutung beimessen, etwas anderes als versteckte Mißgunst Abgewiesener her aushören? An jenem Abend — ich war zu Hause geblieben, hatte nichts Sonderliches vor, und Vera hatte mir am Tage zuvor miigeteilt, daß sie verreise — an jenen: Abend also brachte mir ein Bote einen Brief von irgend'einer Freundes hand. Einen Dries, in dem ich dringend aufgefordert wurde, >"i-b unverzüglich und unverhofft zu der angeblich verreisten Vera Goldner zu begeben. Was hals meine anfängliche ab weisende Empörung über diese schmutzige Verdächtigung? Ich konnte nicht anders, mußte mich selbst beruhigen mußte Gewißheit haben. Ich ging Gerade im Begriff, das Haus zu verlassen hörte ich die Glocke Eine Frau kam zu mir. ohne Hut. ein wollenes Tuch um die schmalen Schultern geschlungen, in den Augen ein aus ratloser Not heraus geborenes Hilfcslehen „Mein Kind, Herr Doktor, mein Junge — gestern, als -sie da waren, glaubte ich, es würde besser werden — aber jetzt - bitte, kommen Sic — er stirbt mir!" Ja, so mar cs: Dieser ge rade so sehr un gelegen kom menden Auf forderung setzte ich den beschwich tigenden Gedan ken an die altc Erfahrung ge genüber. daß Mütter in sol chen Fällen im mer etwas schwärzer sehen als cs in Wirk lichkeit ist, und sagte der Frau ich hätte nur noch einen kur zen. dringenden Gang vor. an schließend käme i sofort ibr. Ich fuhr zu Vera Goldner Aerger über die Denunziation, über meine eigene Unruhe und auch etwas Furcht vor — ja, so weit war ich bereits — vor einer even tuellen Wahrheit quälten mich und trieben zur Hast an. — Und der anonyme Brief hatte recht Ich weiß heute nicht mehr, wie ich damals den ganzen mir plötzlich aufgebürde ten Ballast von Ekel, Abscheu, Schnm die Treppen hinunter trug, ich wußte in diesem Zustand überhaupt nichts mehr, auch nicht, wo ich in jener Nacht noch gewesen bin, weiß nur noch, daß bereits der Morgen graute, als ich, zum eige Zeichnung: Grunwald Unbeweglich kniete die Mutter am Belt und sah mit starren Augen aus mich. l neu Verdruß noch immer nicht betrunken, das letzte Lokal I verließ Ich sah in das mähliche Erwachen des Tageslebens wie einer, der selbst von einer langen, tiefen Betäubung erwacht, der sich wundert daß er aus einmal wieder klar sehen, denken leben kann. Und plötzlich, iah aus dem unterdrückten, verdrängten Bewußtsein heroorspringend stand mir das Bild der ärm lichen, hilfeflehenden Frau vor Augen, das Bild eines klei nen. fiebernd im Bett liegenden Knaben Ein eisiger Schreck durchfuhr mich In Sekundenschnelle war mein Kopf klar. Ich lief durch die Straßen ich iah mich nicht um, als mir der Hut vom Kopfe flog als ich glaubte icmand lei hinter mir dem flüchtigen Dieb her Nur rennen, retten wieder- qutmachcn, ichric es ahnungsbang und anklagcnd in mir. Ätemlos kam ich vor dem Hause an Die Tür war noch ver schlossen aber unten im Restaurant räumte ein Hausburscl-e Tische und Stühle aus Er ließ mich hindurch. Ich stürmte die Treppe hinauf, noch eine und noch eine, trat, ohne zu klopfen, ein. riß die nächste Tür auf " Doktor Jahn lenkte den Kops „Und das, das war es, was ich nie mehr vergessen kann Ich stand im Türrahmen des einfachen Schlafzimmers Eine flackernde Petroleum lampe stand auf dem Tisch und kämpfte mit dem fahlen Grau des Morgens. Das Kind lag im Bett, reglos, die Hände gefaltet Unbeweglich beide Arme um den kleinen im Kissen ruhenden Kopf gelegt, kniete die Mutter am Bett und sah mit großen, starren Äugen auf mich, den mit wir rem Haar und übernächtigtem Gesicht Eintretenden, der ihr am Äbend versprochen hatte in einer Stunde bei ihrem Kinde zu sein, zu lindern, zu helfen, zu rette». Ich ver mochte mich nicht zu rühren unter diesem entsetzlich starren Blick einer furchtbaren Anklage, der sich wie eine kalte Kral lenhand um meinen Hals legte Worte, die ich spreck>en wollte, nahmen keinen Lant, keinen Klang an. Kein Ton im Zimmer nichts als der unbewegliche Blick dieser Augen, dieser Augen, die am Abend noch tränengcfüllt waren, die wohl inzwischen hundertmal in quälender Sorge, in angst voller Hoffnung zur Tür geblickt haben, noch immer auf Hilfe wartend, in denen dann von Minute zu Minute mehr und mehr die letzte schwache Hoffnung erlosch, dis hilflos das Kind mit dem Tode ringen, den Mund zum letzten Male sich öffnen sahen. Diese Augen, in denen das erstarrte Entsetzen einer unendlich langen Nacht lag. in der eine Welt, eine einzige große Welt zugrunde ging, die jetzt nicht einmal mehr eine Träne der Verzweiflung hatten, die mir mit der gräßlichen Gewalt ihrer Stummheit den ganzen namenlosen Jammer entgcgenschrien — —" Jahn zog den Mantel zusammen, als friere er. Eine ganze Weile schwieg er, dann sagte er mit trockener, hohler Stimme: „Ich sehe, fühle diesen Blick auch heute, nach Jah ren noch. Ich habe Angst vor ihm, und — und nun ver stehst du wohl, warum ich zu helfen und zu retten versuche, sobald und sooft es mir möglich ist."