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Das AnteryattungSvlatt Lin Zreunü der Mata Hari erMlt ! Als Wachtposten Ende 1018 an der holländischen Grenze. — Kaiser Wilhelm steht ans der Straße. — Erstes Zusammen, treffen mit der Spionin. — Mata Haris Pläne. — Letzte, i Bries ans dem Gesängnis. - Von Kurt Vollert. Wenn heute der wohlbestallte holländische Kapellmeister Hans Kauffmann an jene Zeit zurückdenkt, da er vor zwanzig Jahren als Wachtposten an der belgisch-holländischen Grenze Dienst tat, schüttelt er den Kopf. Eine tolle Zeit damals! Alles ging scheinbar drunter und drüber. Die Meldungen aus Deutschland überstürzten sich. Man sprach vom Waffen stillstand, von der Meuterei deutscher Matrosen, die aus ihren Kriegsschiffen die rote F.ahnc des Aufruhrs hißten. Scheide mann hatte die Abdankung des Kaisers gefordert. In Berlin herrschte der Arbeiter- und Soldateurat. Hu München wurde die Republik ausaerufen. Wilson hatte Foch mit der Durch führung der Wafsenstillstandsbcdlngungcn betraut. Die dcui- tchen Truppen, die jahrelang einer Welt von Feinden getrotzt hatten, fluteten zurück in ihre von Nevolutionswirrcn erschütterte Heimat. Alles war Krampf, Heye, Ruhelosigkeit. Grau und trübe reihte sich ein Tag an den anderen. Müde und freudlos versah der Wachtposten Kauffmann feinen Dienst in einem kleinen holländischen Nest nahe der belgischen Grenze. Er war noch ein junger Dachs, als mau ihn ciuzvg. Mitten aus seinen Musikstudien heraus. Er bekam den Befehl, neben seinem Wachdienst seinen Kameraden das Singen beiznbriugcn. Befehl ist Befehl. Aber die Soldaten waren nicht zum Singen aufgelegt. Das ewige Postenschiebrn an der Grenze hatte sie abgestumpft. Ja, wenn für sie noch Krieg gewesen wäre! Aber so war es langweilig, kaum zum Aushalten. Dann doch lieber Schluß mit diesem Orlvg der anderen und heim zu Muttern ... Dies waren so ungefähr die Gedanken, die den inngen Hans Kauffmann beseelten, als er seine Wache in dem vcr- flixt öden Nest an der brabantischen Grenze schob. Zwei Stun den Wache, zwei Stunden Ruhe und so fort in ewigem Einerlei. Bier Jahre dauerte schon der Weltkrieg, und den Holländern lag das Soldatenlcben nicht. Von einigen der Grenzposten, die bereits lange den gleichen Dienst taten, er zählte man sich, sic hätten von drei Wachjahren mindestens zwei regelrecht verschlafen. Was gab cs denn auch groß zu tun? Man mußte auspasscn, daß keine Flüchtlinge und Deser teure über die Grcnze liefen. Das war alles. Eines Tages vernahm man Kanonendonner von der Front. Antwerpen und Brüssel wurden beschossen. Die hol ländischen Posten gähnten. Na,, wenn schon. Sie berührte das alles nicht mehr. Die Disziplin hatte sich gelockert. Es fehlte an Offizieren, die scharf durchgrisfcn. Junge Bürsch- lcin machten fabelhaft schnell Karriere, ohne überhaupt Pulver gerochen zu haben. Ucber diese Sommersoldatcn schimpften die „Alten", aber das änderte nichts an der Sach lage. Der Orlog ging sowieso für diese Krieger zu Ende, mit oder ohne Schneid. Das Interessanteste waren noch die Latrinenparolen. Da hieß cs zum Beispiel, bei den „Preußen" gingen große Dinge ' vor. Der Kaiser ollte in Spaa abgedankt haben und so. „Ich schlenderte auf Posten hin und her", erzählte kürzlich der .Kapellmeister Kauffmann einigen Freunden bei einem guten Gläschen Wein, „und kam mir höchst überflüssig vor. Ich war müde, mißgestimmt, fertig mit dieser tristen Welt. Gegen Abend stand ich vor dem kleinen Bahnhof, der in einer Art Niemandsland auf der Grenze lag. Da schien was los zu sein. Einige Gendarmen unter Führung eines höheren Polizei offiziers wimmelten da herum. Also herangepirscht und ge fragt, was denn hier vor sich gehe. .Das geht Dich einen Dreck an!' bedeutete mau mir nicht gerade liebenswürdig. So aufgeregt waren die Leute! Also warten. Es dauerte nicht lange, so rollten einige Kraftwagen heran und hielten vor dem Schla^" nu. Heraus stiegen ein Paar feldgraue deutsche Offiziere. Da ging ein Raunen durch die Reihen der wartenden Gendarmen: Der Kaiser ist da! Wir reckten die Hälse, erkannten ihn aber vor erst nicht. Plötzlich stand er auf der Straße. Nervös und abgespannt. Die Pässe wurden geprüft. Mir schien, es dauerte eine Ewigkeit. Endlich fuhr ein Zug vor. Der Kaiser § und seine Begleiter stiegen ein. Ein schriller Pfiff. Die Loko- , motive zog an. Der deutsche Kaiser befand sich ans hollän dischem Boden. Ein Stück Weltgeschichte hatte sich vor meinen' erstaunten Allgen abgespielt." Dann erfuhren die Freunde auch uoch einiges über die seltsame Bekanntschaft des Kapellmeisters Hans Kauffmann > mit der weltberühmten Tänzerin Mata Hari. Wahrend eines kurzen Urlaubs besuchte der juugc VatcrlaudSvertcidigcr seine Eltern, die in Amsterdam damals das Hotel Victoria bewirt schafteten. Dort lernte er eines Morgens eine schöne junge Dame von etwas exotischem Attssehen kennen. Der jung» Musiker hatte sich ans Klavier gesetzt nnd spielte. Als er die Finger von den Tasten hob, trat eine Dame zn ihm nnd meinte beiläufig, er habe einen gnten Anschlag nnd scheine überhaupt sehr musikalisch zu sein. Das ging so einige Mor gende in der gleichen Weise. Kauffmann spielte, während die schone Unbekannte ihm zuhörtc. Dann plauderten beide ein wenig. Gelegentlich gab sic auch ihren richtigen 'Namen Preis, nachdem sic gcstandcn hatte, unter einem Decknamen ins Hotel gekommen zu sein. Es war — Mata Hari. S--- erzählte dem jungen Manu vou ihren Reisen dnrch die ganze Welt, von ihrem Leben auf Java, ihren Erfolgen. Einmat Surfte Kauffmann sic begleiten, als sie mit dem ganzen Liebreiz der begnadeten Tänzerin einen ihrer unvergleichlichen Tänze probte. Immer aber war in ihr eine rätselhafte Unrast, deren Entstehung sich der ahnungslose Kauffmann nicht zu erklären wußte. Eines Tages überraschte Mata Hari ihren jungen Freund mit dem Plan, im Haag ein Haus zu bauen. Sic hattc cS sich bereits in allen Einzelheiten ausgemalt. Ein in ge dämpften Farben gehaltener Salon sollte ihrer Tanzkunst dienen. Dort wollte sie ihre javanischen Tänze bis zur Voll endung gestalten. Nur ein kleiner Kreis geladener Gäste, leise, schwermütige Musik, gediegene Unterhaltung, edle Speisen und Getränke — fv etwa dachte sich Mata Hari ihr weiteres Leben, während sie sich bereits immer tiefer in die über die ganze Welt gespannten Netze des französisch-englischen Spionageabwehrdienstes verstrickte. Ob er bereit sei, sie später im Haag ans dem Flügel zn begleiten, wollte die Tänzerin wissen. Natürlich willigte der junge Kauffmann mit Freuden ein. Zunächst aber hieß es Abschied nehmen. Mata Hari wurde iu Paris erwartet. Der Freund gab ihr bis an die Grenze das Geleit. Er sah sie nie wieder. Das letzte Lebenszeichen von ihr war ein Brief, den sic aus einem Pariser Gefängnis schrieb. Man hatte sie der Spionage überführt und zum Tode verurtcilt. Sic selbst glaubte bis zum letzten Atemzug daran, doch noch begnadigt zu werden. Auch ihr Brief zcngte davon. Sic schrieb ihn in einem seltsamen Gemisch von deutsch, französisch und hollän disch. Und bei aller Hoffnung sprach daraus eine unsinnige Angst vor dem Tode. Er schloß mit den Worten: „Viele beste Gruße, auch au Ihre Eltern. Ihre Mata Hari." Diese Zeilen der größten Spionin des Weltkrieges bewahrt der Kapell meister Hans Kauffmann sorgfältig auf. Sic sind ihm das Ende einer reinen Freundschaft und eines ungewöhnlichen Fraucnlebens, die beide vom gleichen unerbittlichen Schicksal zerschlagen wurden. Lin paar Böcke nickt gesckossen . . . Von W. F. Rudolphi. Um eins möchte ich bitten bei diesen beiden kleinen Ge schichten: Nur nicht gleich die Hände heben und beschwörend „Jägerlatein!" ausrufen! Der mir diese Sachen erzählte, ist ein hraver Forstmann, und ich kann seiner Meinung nur bei- pflichten, wenn er sagt, daß gerade die Wirklichkeit die un wahrscheinlichsten Jagdgeschichten schreibt. Der verschlafene „Sechser". Wenn Ereignisse wie diese Geschichte mit dem Sechser bock sich öfter Anträgen sollten, würde es das Ende jeglichen Jägerlateins bedeuten, denn dann wäre jeder Jäger vollauf damit beschäftigt, die wahre n Erlebnisse von der Jagd zu erzählen. Es begab sich, daß Hühnerjagd war, und die Jäger stiefelten über das Feld. Einer der Jagdteilnehmer bemerkte dabei vier Rehe, die sich auf dem Acker niedergelassen hatten, und die keineswegs daran dachten, beim Nahen der Grün- röckc beschleunigt die Spiegel zu zeigen. Drei von ihnen ent flohen zwar, aber das vierte schlummerte seelenruhig weiter. Die Jäger nahmen die Hunde an die Leine und traten hinzu, um den Fall zu betrachten. Ein kapitaler Sechscrbock war es, der hier so sanft und selig schlummerte und auch die Annäherung von Menschen und Hunden fast unmittelbar vor seiner Lagerstatt anscheinend nicht störend empfand. Vielleicht setzte er cs auch bei Jägern als selbstverständlichen Anstand voraus, daß sie die Heiligkeit des Schlafes respektieren würden. Wie mitunter, so erwies sich auch diese Rechnung aus Anstand als irrig. Die Jäger besprachen mit hörbarer Laut stärke den kuriosen Fall, die Hunde blafften los , kurz: es war auf die Dauer emc »«erquickliche Schlummermusik. Und da mußte auch wohl der Rehbock eiuschcu, daß es jetzt mit dem Schlafen au dieser Stelle doch nichts mehr werden sollte. Er räkelte sich verdrossen, stellte sich gähnend aus seine vier Läuse und maß die verdutzte Jagdgesellschaft mit einem wenig freundlichen Blick. Dann drehte er Hunden und Jägern die Kehrseite zu und trottete in den nahen Wald. Der Oberförster, der dabei war, schwört heute noch Stein lind Bein, daß er nie wieder ein solch gerütteltes Maß von Verächtlichkeit an einer einzigen Stelle erlebt hätte. Das Reh am Gewehr. Es ist eine Binsenwahrheit, daß die richtige Sache in der unrichtigen Hand nichts nützt. Beispielsweise: was soll ein Reh mit einem Schießgewehr anfangcn? Eine Geschichte wie diese kann aber auch nur einem aus gesprochenen Sonntagsjäger passieren. Besagter Jägersmann ging auf die Jagd, ein Reh zu erlegen. Ein Reh schießt man — das hat sich auch in Nicht- lachkreiscu hcrumgcsprvchcn — am besten von einem Versteck oder, um bei dem Fachausdruck zu bleiben, vom Anstand aus. Der Jäger also, der den Bock schießen wollte, suchte sich zu- f nächst einen solchen Anstand aus. Wer sucht, der findet, und unser Jägersmann fand einen seinen Zwecken durchaus geeignet erscheinenden Eichbaum. > Er lehnte seine Flinte vorsichtig an einen Busch und kletterte zunächst einmal zur Probe auf dcu Baum. Wie er gerade oben ! angclangt war, horte er unten im Lanb etwas rascheln. Er ' hielt den Atem an und spähte vorsichtig hinab. Das Bild, das j sich ihm bot, wird cr vermutlich nie in seinem Leben vergessen. Der Jünger Nimrods erblickte nämlich den Busch und ! an diesem genau so, wie er sie hingcstellt hattc, seine gute , Büchse. An der Büchse aber schnupperte neugierig und uube- > fangen das Reh, das er erlegen wollte Möchten Sic, vorausgcsctz«, daß Sie ein Jäger sind, einem j Reh unter diesen Umständen begegnen? So kam es, daß dieses Reh vielleicht heute noch lebt und ! der Jägersmann, wenn sein Appetit auf Nehbraten »nbezähm- bar gewesen sein sollte, sich eine Portion Nchrückeu in einer Wildhaudlung hätte kaufen müssen. Verschiedenes. Hochzeit mit der toten Braut. In Malsuimura, im Nordosten Japans, fand kürzlich ein-e ergreifende Hockfzeitsfeier statt. Die Braut, das nur 21 Jahre alt gewordene Fräulein Abe, lag nämlich, angetan mit dem hochzeitlichen Kimono, auf dem Totenbett. Im April hatte Abe den 31jährigen Medizinstudenten Matsuoto ken- > neu und lieben gelernt. Im August verlobte sich das junge j Paar und beschloß zu heiraten, sobald der Bräutigam sein ! Examen bestanden hätte. Im November war es so weit. Der junge Mediziner hatte sogar schon eine Anstellung gesunden Zwei Wochen vor dem festgesetzten Hochzeitstag erkrankte je doch das junge Mädchen, und einige Tage darauf war sie tot. Als der Bräutigam kam, stand er vor ihrem entseelten Körper. Seinen inständigen Bitten, die Trauung doch noch vornehmen zu lassen, gaben die Schwiegereltern schließlich nach, So w.üM tztzk junge Arzt mit einem Leichnam getraut. * Japanische Vögel in Ungarn. Die abnormen WitterungverhälMisse haben in Ungarn eine Vogelart auftauchen lassen, die bisher dort nicht bekannt § war. In Gyömro wurden dieser Tage Gruppen von Vö geln beobachtet, die etwa die Größe von Sperlingen und einen gelben Rücken, ein« weiße Brust und rote Kralle« haben. Nach dem Urteil von Fachleuten stammen diese selt samen gefiederten Gäste aus dem nördlichen Japan, wo sie in Massen Vorkommen sollen. Sie haben jedoch ihre Heimat bisher niemals verlassen. Daß sie in diesem Jahre einen lo iveiten Wanderflug unternahmen, wird auf die ungewöhn liche Witterung zurückgeführt. * Schlechte Zeiten in Monte Carlo. Auch m Monte Carlo sind schlechte Zeiten. Mehr als tausend Croupiers, die sonst durch die Spielbank Iahres einnahmen von 23 000 bis 30 000 NM haben, sind arbeitslos. Man hat deshalb jetzt eine Arbeitslosenunterstützung für Croupiers geschaffen, die etwa 50 NM in der Woche beträgt. Begegnung auf der Solitude Schiller-Skizze von Kurl M ü n o. Es war ein großer Tag für die Hohe Karlsschule. Das herzogliche Schloß Solitude, in dem sic ihren Sitz halte, stand festlich erleuchtet. Die Schlußprüsungen waren beendet, sie feierliche Preisverteilung, zu der Herzog Karl Eugen jein Er- scheinen zugewgl halte, sollte Anlaß zu Fest und Freude jeiu. In den Sälen des Schloßes drängten sich >unge, lachende Menschen, sie den Zwang eines Jahres schnell vergessen hatten, Hofdame» in glänzenden Toiletten, Militärs iu buu- ten Uniformen. Ein großer, breitschultriger Mensch in der Uniform der Karlsschüler drängte sich durch die plaudernden, bewegte» Gruppen. Sein Auge schweifte juchend durch den Saal, un- schlüssig und zögernd schritt er schließlich durch die halberleuch- leteii Nebcngemächer. „Hallo, Schiller!" rief er plötzlich. „Was sitzt Du hier in der Ecke und sängst Grillen?" Der Angeredete, ein schmächtiger Jüngling in rotblondem Haar und mit einem nervöse» Zucken um Mund und Augen, schrak auf. „Du bist es, Schufterle", sagte er nur und blieb in seiner Ecke sitzen. „Ich suche Dich überall", drängle der Ankommende wieder, „warum versteckst Du Dich hier?" Der andere blickie unruhig zu ihm auf. „Ob er wohl komme» wird?" fragte er, und seine Hände fuhren nervös über seine schmalen Knie. „Jeden Augenblick muß der Herzog da fein. Wir müssen in de» Saal gehen, jonst verpasse» wir noch de» Einzug." „Ich meine nicht den Herzog", sagte Schiller und machte keine Anstalten, sich aus seinem Sessel zu erheben, „ich meine Goethe!" „Ja. cS heißt doch, er wird dabei jein. Komm letzt!" Der schmächtige Jüngling sprang auf und warf sich dem Freund an die Brust: „Schufterle, Goethe wird kommen, Goethe — ich werde ibn sebcn. Ob er mich bemerken wird, ob er ein Wort für mich hat? Hier " er fuhr mit seinen zittern den Händen an die Brust, „hier hab ich das Manuskript." — „Wenn ick den Mut hätte, es ihm zu geben!" setzte er be kümmert hinzu. „Ach Larifari", machte Schufterle, „Deine Räuber sind besser als alles, was dieser Fürstenfreund geschrieben hat." „Sprich nicht so!" fuhr Schiller auf. „Er ist ein großer Mensch, und ich liebe ihn." Schufterle — der Freundeskreis Schillers Halle sich die ihnen aus nächtlichen Vorlesungen ver trauten und teuren Namen zugelegt — zuckte mit den Achseln. Im gleichen Augenblick schmetterte» im Saale Trompete», der Herzog hielt seinen Einzug. Schufterle zog den Freund eilig hinter sich her, und sie hatte» Mühe, sich dem Spalier noch cinzureihen, das die Karlsschüler ihrem Herzog gebildet hatten. Das Fest verschwamm vor Schillers Auge» wie im Traum. An Herzog Karl Eugens Seite schritten seine er- lanchtcn Gäste, erlaucht von Geburt und von Geist: Karl August vou Weimar und sein Freund Goethe. Goethes Mauke Gestalt überragte die seines Freundes nm halbe Haupteslänge, sein Anzug war schlicht, aber vornehm. Die Preisverteilung, die jedes Jahr den Höhepunkt des Karls schulfestes bildete, ging vorüber: viermal ertönte Schillers Nance, nnd der schmächtige Jüngling trat aus dem Kreis feiner Kameraden hervor, nahm mit zitternder Hand seine Preise hin, hörte wie geistesabwesend die lobenden Worte seines ihm wohlgewogcnen Fürsten, durfte viermal dessen Nocksaum küssen. „Unser Musterschüler, eine zukünftige Leuchte der medizinischen Wissenschaft", wandte sich der Herzog lächelnd an seine» berühmte» Gast und wies dabei aus Schiller. Goethes Blick ruhte eine» Augenblick auf der un scheinbaren Gestalt des Schülers vor ihm, dessen Füße einen Augenblick ihren Dienst zu verjagen drohten. Schiller hätte schreien mögen. Auf seiner Brust brannte das Manuskript seiner Räuber, deren drei erste Akte beendet waren. Er haßte seinen Herzog in diesem Augenblick, tveil er ihn als Mediziner vorgestcllt hatte. Warum besaß man nicht den Mut, zu Goethe zu sagen: Ich gehöre zu dir, dein Geist ist mir nabe, hier lies mein Drama, und dann verdamme mich, wenn du kannst! Und wenn er gesprochen hätte — was wäre für ihn schlimmer gewesen als ein verwunderter, vielleicht ungehal tener Blick Goethes, vielleicht gar ei» spöttisches Lächeln! Später am Abend trieb cs Schiller aus dem Gewühl der festliche» Menge auf die stille Terrasse hinaus. Die Sterne standen hoch über dem Württemberger Land. Die dunklen Wellen der Hügel und Wälder zogen sich weit bis an den Horizont. An der Brüstung stand ein schweigender Mann und schaute in die Nacht. Der Karlsschülcr erschrak: Es war Goethe. „Bleiben Sie nur!" sagte der Dichter, als er sah, daß Schiller sich leise zurückziehen wollte. „Sie stören mich nicht. Sind Sie nicht jener junge Mediziner ?" Schiller nickte, cr brachtc keinen Ton ans der Kehle. Goethe sprach weiter, vielleicht mehr zu sich selbst als zu dem unbekannte» Jüngling: „Wie schön nnd friedlich ist es in diesem Land, ganz anders als in der Schweiz, ans der ich gerade komme. Dort läßt die gigantische Natur dem Menschen leine Nnl)e, sie reißt ihn zu sich empor. Hier kann man ausrnhen. Aller dings —", fügte er »ach einer Weile hinzu, „man muß acht haben, daß man nicht cinschläft." Jetzt mußt du mit ihm sprechen, schrie cs in Schiller, cr wird dich verstehen. Seine Hand fuhr tastend über daS Ma nuskript unter seinem Uniformrock. Sein Herz schlug zum Zerspringen. Was wollte er doch gleich sagen! Alle Gedanken schienen ihm entschwunden zu sein. Er quälte sich nach cim-m Satz ab, mit dem er beginnen konnte. Goethe schwieg. Die Sekunden schienen dem Jüngling wie Ewigkeiten. Wie lange sie so schweigend nebeneinander gestanden halten, wnß'c Schiller später nickt mehr. Schließlich trat ein Kammerherr ans die Terrasse: „Der Herzog will aufbrcchen."