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Sächsische Elbzeitung : 27.02.1932
- Erscheinungsdatum
- 1932-02-27
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1787841065-193202279
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1787841065-19320227
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-1787841065-19320227
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Sächsische Elbzeitung
-
Jahr
1932
-
Monat
1932-02
- Tag 1932-02-27
-
Monat
1932-02
-
Jahr
1932
- Titel
- Sächsische Elbzeitung : 27.02.1932
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R ig Beilage zur Sächsischen Elbzeitung n m«>M Ein Blick aus das Ltniversum. T>»c <sicnung iinv Bcvcutnng der heutigen Wissenschaft. Ans einer Unterredung mit Geh. Rat Professor I)r. ,,IiiI. Max Planck. Wir leben in einer seltsamen und unsicheren Welt. Alle Knltnren scheinen durch eine.allgemeine Krisis bedroht zu sein, die dem öffentlichen nnd dem Privatleben das Gepräge des Zweifels nnd des Schwankens verleiht. Manche Leute wolle» dariu die Anzeichen eines riesigen Ansschwnngcs er- dlickcu. Andere sehen darin die Vorboten des nnvcrmeidlichcn Verfalls. Nicht allein in der Religio» und der Knust, sondern auch in der Wissenschaft werden fast alle Gesetze von diesen Zweifeln ersaht, und oftmals triumphiert der Unsinn üocr die Vernunft, jo dah »ran sich veranlaßt sieht, die ewige Frage ß« stelle», ob es etwas wie eine Grundwahrheit gibt, die man »em alles zerstörende» Skcplirismns als Bollwerk entgegen-- stellen kann. Die blohc Logik, oie sich in ihrer reinsten Form «i der Mathematik berauslristallisiert, vermag dieses Problem nicht in befriedigender Weise zu löse«. Denn die Kette der durch Logik miteinander verknüpften Schluhfolgcrnngcn gibt «mr dann einen festen Halt, wenn sie au einem sicheren Aus gangspunkt befestigt ist. Aber wie tollen wir den dauerhaften Untergrund finde», auf de» das System der die Natur nud das Weltall beherrschende» Gesetze anfgebcmt werden kann? Wir möchte» zn der Annahme neigen, das; cs der Physik, als der exakteste» u«ter de» Naturwissenschaften, möglich ist, den Weg zu einer Antwort zn weise». Aber auch sie wird von Zweifel» erschüttert; alle Grundsätze, die bisher als nner- bchütterlichc Wahrheiten galten, das Gesetz von Ursache und Wirkung einbegriffen, werden in vielen Fällen geleugnet. Der Glaube ist ein unentbehrlicher Führer ans dem Wege jur Kenntnis der Fernen nnd der Geheimnisse der Umwelt, mcht der Glaube iu dogmatischem Sinne, sondern die feste Zu versicht, das; die Entschleierung — wenn auch nur teilweise — der Wahrheit im Laufe der Zeit immer mehr gelingen wird. Die Quelle aller Wissenschaft und Erkenntnis ist die persön liche Erfahrung: in der physikalische» Welt gelange» wir dazu durch unsere Sinne. Was wir Horen, sehen, fühlen, ist un mittelbare und sichere Wirklichkeit. Es erhebt sich die Frage: Ist die Aufgabe der Physik erfüllt, wenn wir lediglich die Ergebnisse der persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen zu einem System vereinigen? Der Positivist glaubt, das Wissen ocschränke sich auf das, was wir mit den Sinnen wahrnchmcn können; für metaphysische Spekulation ist hier kein Nanni. In der Physik wie in anderen Wissenschaften herrscht aber nicht der Intellekt allein, sondern anch die Vernunft. Was durch Logik überzeugt, ist nicht mit Notwendigkeit auch ver nunftgemäß. Die Vernunft lehrt, daß unsere Erde mit allen ihren Bewohner» ei» Nichts ist im Vergleich zn dem nn ermeßlichcn Kosmos, dessen Gesetze unabhängig sind von dem, was ein winziges menschliches Hirn erdenkt; sie herrschten lange vor der Geburt der Menschheit, und sic werden noch bestehen, wenn der letzte Gelehrte die Erde verlassen hat. Vom Standpunkte der intnitiven Vernunft gesehen ist die vermehrte Kenntnis des Alls das Ideal nnd das höchste Ziel der physikalischen Wissenschaft. Die Kraft unserer Sinne nnd unserer beobachtenden Jnstrnmcnte reicht jedoch nicht ans, nm die unendlich fernen Welten zn erreichen. Zn diesem Ziel ver mögen wir nur durch mittelbare Methoden zn gelangen, ähnlich denen des Sprachforschers, der das in einer unbe kannten Sprache geschriebene Dokument zu entziffern hat. Die letzte Phase der wissenschaftlichen Entwicklung ist durch daS Streben nach Abstraktion gekennzeichnet. So kann die heutige Optik in der Tat die Sinne ausschaltcn. Der Positivismus besitzt eine gesunde, aber zu schmale Grundlage. Das höchste Ziel der Wissenschaft kann nur er reicht werden, wenn diese Grundlage eine Erweiterung er fährt und über das Zufällige und Persönliche hinaus- gcschobcn wird. Dies jedoch lägt sich niemals durch formale Logik erreichen, sondern nur durch eiucu Sprung in das Gebiet der Metaphysik. Wir müssen von der Annahme ausgehen, daß es noch eine andere wirkliche Welt gibt, die wir durch -nufere Sinne nnd Bcobachtungsinstrumcnte nicht direkt erreichen können. Wir dürfen nun fragen: Jagt die Wissenschaft einem Phantom nach, wenn sie einem Ziel zustrebt, das niemals völlig erreicht werden kann? Nein. Große Ergebnisse lassen sich nur durch Forscher erzielen, die keine Hindernisse scheuen; denn das Suchen nach der Wabrbeit gibt ans die Dauer größere Befriedigung als der Besitz selbst. Eine vollkommene Theorie würde die denkbar innigste Vereinigung der wirklichen fernen Welt und der Beobachtung unserer Sinne Herstellen. Die wichtigste Voraussetzung für solch eine Theorie ist, daß sie keine logischen Widersprüche enthält; im übrigen ist der Schöpfer einer Theorie so frei wie der Vogel in der Lust; er darf nach Gutdünken seinen Eingebungen folgen. Die Spekulation ist schon bei der Zusammenstellung der Ergebnisse der Erfahrung und der Beobachtungen tätig. Jede Entbeckuug setzt persönliche Erfahrung nud gedankliche Einbildungskraft voraus. Physikalische Probleme ändern ihre Gestalt iu Uebcr- einstimmung mit den Fortschritten der Wissenschaft. So hatte das Streben Quecksilber in Gold zn verwandeln, zur Zeit der Alchemie seine wirkliche Bedeutung, verlor sich aber nach dem Aufkommen der Lehre von der Unvcrändcrlichkeit der Atome. Dann entdeckte jedoch Niels Boyr, daß die Atome vou Qucck- jllver und Gold sich nur durch ein einziges Elektron vonein ander miterjcheiden; damit ist diese Frage aufs neue zeitgemäß und ein Ziel der wisseuschaftlichcn Forschung geworden. So führt die planlose Goldmacherei zur modernen Chemie hinüber; die Unmöglichkeit des Perpetuum mobile veranlaßte die Entdeckung des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft: nnd die absolute Bewegung der Erde gab den Ausgangspunkt für Einsteins Relativitätstheorie, die für die physikalische Wissen schaft einen erheblichen Fortschritt bedeutet. Mein Führer ist immcr der Glaube au eine in der Natur ewig herrschende Ordnung gewesen. Alle Gelehrten stützen sich auf irgend eine Grundwahrheit. Abgesehen von der unbe dingten Anwendbarkeit des Gesetzes von Ursache und Wir kung glaube ich, daß die beiden Grundlehren von der Energie und der Wärme richtig sind. Als ich sie auf meine Beobach tungen anwandtc, ergab sich ein Widerspruch mit den über lieferten Lehren der klassischen Physiker. Ich kann dies am besten an einem Wasserstrahl deutlich mache», der aus eiuer Röhre strömt. Wenn wir au dem Hahu drehe», fließt das Wasser immcr dünner nnd fällt schließlich nur noch in ein zelnen Tropfen nieder. Die Größe aller Tropfen ist die gleiche; der Unterschied besteht nur darin, daß sie langsamer oder schneller fallen. Dasselbe trisft ans die Energie der Strahlen einer bestimmten Farbe zu, die ebenfalls sich in Tropfen vou ganz bestimmter Größe auflöst, wenn die Strahlung immer schwächer wird. Zuerst schien es, als feien damit die Gesetze der klassischen Physik allesamt umgestvßcn. Heute wissen wir, das; es leoiglich ein Prozeß der Verallgemeinern»». »iwt aber eine Kerltöruua Schreiben Sie jährlich Ihre SO Briefe? Außerdem warten auf uns uoch 20 Postkarten und fünf Postanweisungen Zeder 36 mat am Fernsprecher Von Herbert L angcuschcid l. Wenn die „Last" des Postvcrkehrs gleichmäßig ans alle Deutschen verteilt würde, dann müßte jeder von nns vom jüngsten Säugling bis zum ältesten Greis im Jahre eine Leistung von 50 Briefen hinter sich bringe». Damit wäre ! aber die Ncichspost durchaus nicht zufrieden. Sie könnte ohne Vermehrung ihrer Beamtenzahl und ohne irgendwelche anderen Beschassniigskosten bedeutend mehr Briefe vou einem der 65 Millionen Deutschen zum anderen befördern. Noch 1028 machte es ihr Vergnügen, von jedem von uns im Durchschnitt 66 Briefe jährlich znr Bestellung anverlraut zu erhalten. Seit dieser Zeit sind wir aber im Briesschrcibcn erheblich gemäßigter geworden. Fünfzig Briefe im Jahr scheint trotz allein unsere Bcdarfsgrcnze »ach nnteu zu sein; dcuu im Verlauf des Jahres 1031 ist der Bricsvcrkchr nicht »lehr wesentlich zurückacaanaen. Zwanzig mal nn Jahre nimmt die Ncichspost auch von jedem Deutschen eine Postkarte znr Beförderung an. Bei ! Wertbriefen nnd Wertsendungen erweist sich der Verkehr nm Postschaltcr aber als bedeutend weniger stürmisch. Von hundert Deutschen machen sich im Jahresdurchschnitt mir sünf ans den Weg, nm eine Wertsendung nnterzubringcn. Bedeutend reger betätigen wir uns an den Schaltern für Postanweisungen und Zählkarten. Fast genau süufmal im Jahre tun wir Geld in unseren Beutel und beauftragen die Ncichspost mit der Auszahlung an den Empfänger. Würden wir den Gesamtbetrag aller Postanweisungen gleichmäßig ! verteilen, dann würden wir bei unseren fünf Gängen jedes mal rund 62 Mark abliefern und insgesamt etwas mehr als 20 Milliarden Mark znsammenlragen. Das gilt für die Zahlen des letzten Jahres; 1030 sind noch 23 Milliarden durch Postanweisungen eingczahlt worden. Der Postauwcisungsvcrkehr wird jedoch noch erheblich übertroffen vom Gcldveclehr über die Postscheckämter. Jeder 65. Dentschc gehört heule schon zu deu Inhabern eines Kundenkontos bei der Post. Ihre Zahl stieg im letzten Jahre sogar noch nm 20 000. Der Geldumsatz siel trotzdem um achtzehn Millionen Mark. Er blieb aber dennoch sehr erheb lich. Der Buchnngsbetrag sämtlicher Gutschriften und Last schriftcn erreichte 1031 den Niescnbetrag von 123 Milliarden Mark. Davon wurde nur ein verhältnismäßig geringer Teil nusbczahlt. Fast 08 Milliarden Mark sind barlos nmgcsctzt worden. Der Postschccküberweisungsverkehr über die Gren zen blieb demgegenüber weit zurück, überstieg jedoch wesentlich den Betrag von einer fünftel Milliarde Mark. Am sichtbarsten spiegelt sich der Rückgang des Post- verkehrs, wenn er auch noch nicht als eiuschueidcnd betrachtet werden kann, im Eiscnbahnpostoienst Wider. Die zehn nm- sangrcichstcn Postbahnhöfe fertigten im Vorjahre noch 1072 Wagen mit Pvstsendnnacn aller Art im täglichen Durchschnitt ab. Im letzten Jahre erreichten sie nur noch einen Tages durchschnitt von 1871. An der Spitze stand mich im letztem Jahre Berlin mit 307 Wagen täglich. Ihm folgen Frankfurt a. Main mit 254, Köln mit 244 und Leipzig mit 217. Hamburg, die zweitgrößte Stadt des Reiches, steht an Verkehrsdichte als Pvstbahuhvf erst an 5. Stelle mit 156 Wagen täglich, vor Stuttgart mit 144, M ü n ch e n mit 137, Dresden mit 135, Breslau mit 130 und an letzter Stelle Königsberg mit 57. Stellt man einen Vergleich mit dem Vorjahre an, dann fällt besonders der starke Verkehrsrückgang Berlins nnd Dresdens auf, das von seinem 6. Platz im Jahre 1030 ans den 8. nn Vorjahre verdrängt wurde. In Berlin fallen im Durch schnitt täglich 20 Wagen ans, in Dresden 12, der anteils mäßig stärkste Rückgang im Reich. Am günstigsten steht bei weitem Stuttgart da, das nur einen Wagen im Tagesdurchschnitt weniger abserligte als I030. Auch München nnd Frankfurt haben sich besonders gilt gehalten; das gilt anch von Königsberg, wobei allerdings zu beachten ist, daß sein Pvstbahnhvf nn nnd für sich anch in früheren Jahren keinen besonders bewegten Verkehr zn be wältigen hatte. Erhebliche Einschränkungen muß die Reichspvst im Fcrnsprech nnd Fcrnschreibwcscn ans sich nehmen. Während 1030 nahezu 30 von hundert Denlscl-cn im Jahre ein Tele gramm anfgaben, sank diese Ziffer im letzten Jahre anf 23-. Zuge»ommen haben aber die Brieftelegramme von 374 000 anf 453 000 nnd die Blitztelegramme. Sie sind allerdings »och verhältnismäßig selten iu Anspruch genommen, obwohl, sich ihre Zahl fast verdreifachte. Was aber sind 1613 Blitz telegramme unter fast 27 Millionen Telegrammen über haupt! Die eifrige Werbearbeit der Reichspost für Schmnck- blattelcgramme hat nicht verhüten können, daß der Dcutsck-c auf diesem Gebiete sich sparsameren Hebungen zugewandt hat. Immerhin wnrden noch 1,3 Millionen Telegramme dieser Luxnsart gegenüber 1,7 Millionen im Vorjahre anf- gegeben, ein weiterer Beweis dafür, daß der Deutsche cm ge fühlvoller Mensch ist, der znm Ehrentage eines Nahestehenden vor einer besonderen Ausgabe nicht zürückscheut, um Freude zu stiften. Sehr erheblich dagegen gestaltete sich der Rück gang des Fernsprechverkehrs. Während 1930 noch eine Zunahme der Anschlüsse nm 60 000 erfolgt war, weist die Ncichspost für 1031 emcn Rückgang von 01000 An schlüssen anf. Die Gesamtzahl aller deutschen Sprechstcllcn ticträgt nun »och 3,1 Millionen, wovon 65 000 öffentlich sind. Sie wickelten rund 2,4 Milliarden Gespräche ab, von denen allein 2,1 Milliarde Ortsgespräche waren. Und doch er- scl-cint cs als nicht übermässig Vftn, wenn sich in« Durchschnitt jeder der 65 Millionen Deutschen im Jähre 36 mal „an dis Quasselstrippe hängt" ist. Aus das Univcrjum angewandt bedeutet das: Jeder Stern erscheint als ein ungeheures chemisches Laboratorium, in dem die Natur unaufhörlich am Werke ist und wo die Hitze nach Gradmillionen zählt. Eins der wichtigsten Probleme kommender Geschlechter wird das vou der Energie sein. Ihre Hauptguellc, die Kohle, ist nach einer beschränkten Anzahl von Jahrhunderten sicher lich erschöpft. Man kann nur schwer Vorhersagen, wie zu künftige Generationen sich hiermit abfinden werden. Es ist reichlich Energie in der Welt vorhanden, aber wir können davon einstweilen keinen Gebrauch machen. So enthält unser TagcSgestirn mehr Energie, als wir jemals zu verwenden vermögen. Man will sie u. a. anch in der Sahara konzentrieren nnd von dort ans über die ganze Welt verteilen. Eine andere Möglichkeit erblickt man iu der Ausnutzung des Wechsels von Ebbe nud Flut. Schließlich könnte die Atomzerlrümmernng eine unerschöpfliche Quelle Physikalischer Energie abgebcn. Eines Tages sind diese zur Zeit uoch unmöglich erscheinenden Pläne vielleicht verwirklicht. Mein lebhafter Wunsch wäre, in vier oder fünf Jahrhunderten einen Blick anf nnscren Pla neten werfen zn können, nm die Wnnderwclt zu erblicken, in der die kommenden Geschlechter leben. Mein Leben in Büchern. Von Kurt Münzer. Der Winter währt bei nns zu lange. Monat anf Monat sind die Wiesen verblichen, ist der Strand vereinsamt nnd der Wald entlaubt. Die ausgedehnten Abende, der warme Ofen nnd frühzeitiger Lampcilschimmer sind vorherrschend. Länger als sonst weilt man im eigenen Heim. Und da oh, ihr geliebten Bücherwände, ein Zimmer von Frennl» schäft, Trost, Weisheit, voll Lächeln nnd Melancholie, ja, das Leben in Höhe und Tiefe, von Himmel bis Hölle, das Lebe» iu allen seinen Möglichkeiten, Träumen nnd Verwirklichungen, die ganze Welt zwischen meinen vier Wänden! Das sind die wunderbaren Stunden: der Tag verklungen, die Arbeit beschlossen, jetzt der Lohn: Nnhe, Muße und die Gegenwart der großen Geister. Ich stehe vor den Regalen, die sich im Lauf der Jahre durch Jahrzehnte und Jahrzehnte getürmt. Langsam sind sie gewachsen, ganz organisch, eine Bücherei, in der sich ein Leben spiegelt, ein Mensch, eine Entwicklung, festgchalteu in den Namen von Dichtern und Denkern, Gelehrten nnd Phantasten, Märchenerzählern nnd großen Reisenden. Anf viele Arten kann man seine Bücher ordnen. Wie wär's, man stellte sie auf, wie man sie erwirbt nnd liest? Eine Ordnung, in der kein Zweiter, Fremder sich zurccht- fände. Aber — wenn alle so chronologisch ihre Bücherei stellten, ob da nicht zutage känie, wie die Menschen in ihrem lkvcrdegaug sich ähneln? Gleiche Jähre — gleiche Lieben. Gleiche Erlebnisse — gleiche Reaktionen. Gleiche Sehnsucht — nnd dieselbe Erfüllungssuche im Buch ... Eine Pvramide das Leben — aber — im Buch gesehen steht sic aus dem Kopf, sie verbreitert sich nach oben. Kommt, laßt mich meine Regale abwandeln, blickt cnch, da nntcn, am Fuß, am Beginn: die Jndianerbücher, immer noch, die un sterbliche Nothaut — uud wen» ein Mann aus Radebeul bei Dresden von ihr erzählte. Die alten, o die lieben alten Jugendbücher! Nieritz, Johanna Spyri, teure Namen, noch heut' lesen sie alle Kinder ans den Bibliotheken der Eltern, die sie pietätvoll aufgehoben. Hcnt'. die Söbne. stellen schon .urlegsoucycr dazu, die Bucher der Scehclden und Flieger, der Himalaja- und Afrikarcisenden. Und dann — die Konfirmation. Da heben die Klassiker an. Lange schwere Reihen, von Walther von der Vogel- Weide an. Die großen deutschen Epen in den berrlicben n-"cn Ausgaben, und wie vielbändig Goethe! Vielleicht mehrfach, sie kleinen Bändchen für die Tasche, für unterwegs, die Bändchen, die einmal in einem Tornister mmvanocricn rm» Feld, Blutfle.l auf einem, nnd ein „Wilhelm Meister" durch löchert, er hat ein Herz vor der Kugel gerettet. Ich blicke höher. Ta stchcu noch die großen Romane, die den Sekundaner begeisterten, die alten deutschen Dichter, die von Aegyptern und Römern nnd Germanen erzählten, die Romane vom deutschen Kaufmann nud Gelehrte», immer noch liest man Ebers, Dahn nud Freytag. Wie sich auch die Welt verwandelt, der einzelne Mensch bleibt den alten Idealen treu. Dann ist die Schule vorbei, nun bestellt eigene Willkür - dic Bücherbretter, persönlicher Geschmack, Bildungsgang be stimmen die Wahl, das Erlebnis der Liebe, der Wissenschaft und Welt sprechen mit. Doch wie verschieden auch die Nei gungen streben, es gibt einen Bestand an Lileralnr, den man in jeder Bibliothek findet: die großen Philosophen, dic alten und die lebenden, von Athen bis Königsberg und Bonn; die großen Dichter der Vergangenheit aller Kulturvölker, Chinesen nnd Inder, Rabelais und Dickens, Manzoni und Gogol. Ein neues Fach: der Sport. Diese Literatur gab es bei Großpapa noch nicht, eine ganz neue praktische Literatur. Und daneben noch eine Erfindung der letzten Jahrzehnte: die Bücher vom Tanz, von der Lcbcnsgestaltuug, die ganz große Geist-Körperliteratur. Und jetzt die Bildbücher, die letzte Errungenschaft, Bücher mir für das Ange, das ganz neu nnd anders sicht als vor einem Menschenalter. Nein, nicht ! unr mein kleines Dasein, der Mensch überhaupt spiegelt sich in solch einer Bücherpyramide. So wandle ich also mein Leben entlang; ich finde die Bücher, die ich ganz für mich allein entdeckte: zwischen Welt geschichte und Kunstgeschichte eingeklemmt ein Gedichtbüchlcin eines nie berühmt Gewordenen; zwischen Sprachwissenschaft und Naturgeschichte ein kleiner Roman, eine Liebesnovelle, die mir eine eigene verklärt erzählte. Zwischen Psycho analyse nnd biographischen Wälzern ein Frauenbuch, Be- kcnntnisbnch einer schönen Seele von heute, von aller Be schränkung frei, so erschreckend wahr wie entzückend mutig. Ja, ich will die Geheimnisse meines Lebens wieder finden, dic Stationen innerlichster Entwicklung, die Geschichte meines Herzens, dann muß ich zwischen den repräsentativen Büchern suchen. Das Persönliche Gesicht gibt einer Biblio thek das verborgene Buch, das einzelne, das unbekannte, das abseitige Bnch. Jeder findet seine Bücher. Ein geheimnis voller Instinkt lenkt uns Auge und Hand nach den Blättern, auf denen von uns selbst prophetisch, tröstend, verstehend berichtet ist. Jeder hat seine Dichter, jedes Herz seine Literatur. Und keine Bibliothek ist vollständig, ist gut, ist schön, in der nicht eine kleine Bücherei nuferes persönlichsten heimlichen Träumens versteckt ist. Venn Liv vnsv^vv Llsril vinvn llivnsl vvwvisen «ollsn, sv «vvrisn Liv IVlit- glieü lies Vvvkvkvsvvvvins
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