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Sm Saun erstreik. Aus dem Englischen von I. Cassirer. (Nachdruck verboten.) I. Herr Briggs, Senior-Chef der wohlbekannten Firma Briggs L Putney, besaß ein schönes Landgut, das in einiger Entfernung von London gelegen war. Obwohl er sich bereits seit mehreren Jahren vom Geschäft zurückgezogen hatte, konnte er, der sich in den besten Jahren und in sehr guten Verhältnissen befand, ein Leben ganz ohne Tätigkeit doch nicht vertragen, und so fuhr er denn mindestens einmal in der Woche nach der Stadt, um in seinem Geschäft zum Rechtet! zu sehen. Dies war auch eines schönen Tages der Fall. In seinem Abteil erster Klasse hatte er es sich bequem gemacht und die Morgcnzeitung vor sich ausgebreitet. Eine Fahrt von einer und einer halben Stunde lag vor ihm, aber cs war ihm gar nicht hange, daß das Studium der Marktberichte bei ihm Langeweile auf kommen lassen würde. Außer ihm befand sich im Abteil nur noch ein gut gekleideter junger Mann, der dem Aussehen nach vierzehn oder fünfzehn Jahre alt sein mochte und auf derselben Station wie Herr Briggs, nämlich in Swanley, ein- gesticgen war. Von Gestalt war er schlank, er hatte blondes Haar und blaue Augen und schien aus guter Familie zu sein. Nur einen verstohlenen Blick warf er aus seinen Reisegefährten und vertiefte sich dann in die Seiten eines Buches, in dem er bereits auf dem Bahnsteig gelesen hatte. „Reist wohl von der Schule in die Ferien", sagte Herr Briggs zu sich, indem er die Zeitung so faltete, daß. der Bericht über den Stand des Fell- und Rauchwarenmarktes bequem zu lesen war. „Ja, ja, bin auch 'mal jung ge wesen." Sein jugendlicher Reisegefährte schien nicht sehr gesprächig zu sein, und außer einigen allgemeinen Bemerkungen über das Wetter wurde eine ganze Zeit lang zwischen ihnen kein Wort gewechselt. „Die Billets, bitte!" rief der Schaffner, als der Zug die vorletzte Station vor London erreicht hatte. Herr Briggs zeigte sein Billet, sein Gefährte jedoch suchte es vergeblich in seinen sämtlichen Taschen. Es entstand eine lange, peinliche Pause. „Merkwürdig! Ich weiß doch genau, ich hatte es beim Einstcigen." Inden: er dieses sagte, stand der junge Mann auf, schüttelte seinen Nock, sah auf den Sitz, unter die Kissen, auf den Fußboden, in seine Handtasche, ja sogar unter seinen Hut, der oben im Gepäcknetz lag, jedoch alle seine Bemühungen blieben umsonst. Herr Briggs sah ihm aufmerksam zu. „Wohl das Billet verloren?" fragte er. „Es scheint leider so", antwortete der junge Mann ganz bestürzt, „und doch bin ich ganz sicher, daß ich es bei mir hatte, als ich in Swanley einstieg. Zu komisch." Der Schaffner wurde ungeduldig. ! „Ich will erst nach den anderen Billets sehen und dann wiederkommen. Vielleicht finden Sie es inzwischen." Aber es fand sich nicht, obwohl der Eigen tümer ganz verzweiflungsvoll darnach suchte. „Wahrscheinlich haben Sie es auf dem Bahnsteig beim Einsteigen fallen lassen oder vielleicht auch am Billetschalter liegen lassen", meinte Herr Briggs. „Das muß wohl sein, obwohl ich es mir nicht recht denken kann", antwortete der junge Mann mit zitternder Stimme und suchte dabei immer noch ängstlich hin und her. „Sie stiegen in Swanley ein?" fragte sein Reisegefährte. „Wohnen Sie denn dort?" „Ja, wenigstens halte ich mich zeitweilig dort auf, und zwar auf dem Dominium." „Also wohl bei Herrn Fanshicr? Nicht wahr?" „Herr Fanshier ist mein Großonkel. Ich sollte heute für ihn in der Stadt eine Be stellung ausführen und des Nachmittags wieder zurück sein; aber jetzt, — ich weiß wirklich nicht, was ich anfangen soll, ich habe nur ein paar Schilling bei mir und ich werde mir wohl ein neues Billet lösen müssen." „Herr Fanshier ist Ihr Onkel, sagen Sie?" wiederholte Herr Briggs. „Ich kenne Herrn Fanshier recht gut. Sie sind also denn sein Neffe, hm, hm! Na, mein lieber junger Herr, ärgern Sie sich darüber weiter nicht. Ich will Ihr Billet bezahlen. Es war wohl ein Retourbillet? Lassen Sie 'mal sehen, das Beste ist, Sie nehmen hier diesen Sovereign und Sie können ihn mir ja gelegentlich zurück erstatten. Ich heiße Briggs, I. E. Briggs und wohne auf der „Schönen Aussicht" nicht weit von Ihrem Herrn Onkel. Er kennt mich übrigens recht gut." „Ich bin Ihnen für Ihre Liebenswürdigkeit zu großem Dank verpflichtet, Herr Briggs", antwortete der junge Mann. „Es ist in der Tat sehr gütig von Ihnen, und selbstverständlich werde ich Ihnen sofort nach meiner Rückkehr den Sovereign mit bestem Danke übersenden. Ohne Ihre Güte hätte ich mir nicht zu helfen gewußt. Ich wüßte nicht, was aus mir ge worden wäre. Nein, wirklich nicht." „Lasses Sie nur", wehrte Herr Briggs in liebenswürdiger Weise seine Dankesdeteue- rungeu ab. „Sie halten sich also auf dem Dominium auf; ich habe schon gehört, daß dort junge Leute auf Besuch sein sollen. Sie sind wohl auf Ferien dort?" Für den Rest ihrer gemeinschaftlichen Fahrt kamen sie nun in eine recht lebhafte Unter haltung miteinander, und vor dem Aussteigc» bat der junge Mann Herrn Briggs nochmals um seine genaue Adresse. Gewissenhaft, wie er's in allem war, holte Herr Briggs seine Füllfeder hervor und notierte aus eine leere weiße Karie seine Ge- schäftsadrrffe: „I. E. Briggs, 98 Lime Street." Sein jugendlicher Reisegenosse dankte ihm nochmals, und am Bahnhofe verabschiedeten sie sich. „Netter Junge!" sagte Herr Briggs auf dem Wege nach seinem Bureau zu sich. „Er hat solch gute Manieren, ein feiner Kerl!" Und hierin hatte er auch sicherlich Recht. ll. Für den Produkten-Markt war es ein trüber Tag gewesen, und voller Sorge fuhr Herr Briggs nach Hause. Denn Briggs L Putney hatten große Vorräte von Häuten aufgestapelt, und Häute waren zwar vielfach angeboten, aber nirgends gefragt worden, so daß die Preise ganz bedeutend fielen. Es ist daher wohl zu begreifen, daß Herr Briggs nicht die beste Laune mit nach Hause brachte. Kaum hatte er seinen Überrock abgelegt, als ihm seine Frau auch schon aus dem Speise zimmer entgegengerannt kam. „Lieber John, wir haben den Brief nicht finden können." „Welchen Brief?" fragte Herr Briggs ärger lich. Ich weiß nicht, was Du damit meinst." „Nun den Brief, nach dem Du hierher ge schickt hast. Er lag nicht auf Deinem Nacht- tisch." Es gibt nichts Ärgerlicheres, als wenn ein Gegenstand unser Denken voll und ganz in Anspruch nimmt, wir Plötzlich gestört werden und unsere Aufmerksamkeit nach einer ganz anderen Richtung hin gelenkt wird. Das war eben jetzt bei Herrn Briggs der Fall, und wie geistesabwesend sah er auf seine Gemahlin. „Ich weiß wirklich nicht, wovon Du sprichst, Caroline. Ich weiß nur, daß ich in der Stadt heute einen recht bösen Tag hatte. Willst Du mir nicht, bitte, etwas Tee geben: Ge speist habe ich bereits in der Stadt." Als eine kluge Frau, die sie war, drang Frau Briggs jetzt nicht weiter in ihren Herrn und Gebieter, aber im Laufe des Abends, nachdem es sich Herr Briggs in seinem Lehn sessel bequem gemacht hatte, legte sie ihm, ohne ein Wort dabei zu sprechen, eine Karte auf seiue Kniee und erzielte damit, daß Herr Briggs voller Schreck von seinem Stuhle auf sprang. „Was — was ist das?" stammelte er. „Ich habe das nicht geschrieben." „Wer denn sonst?" fragte seine Frau. „Es ist doch ganz deutlich." Das war es freilich. Uud folgendes war der Wortlaut der Karte: „Sieh doch, bitte, nach, ob auf meinem Nachttisch ein Bries von Snooks L Co. liegt. Ich habe ihn heute Früh dort liegen lassen und bitte Dich, ihn mir durch Über bringer zu senden. I. E. Briggs, 98 Lime Street." „Wer hat Dir das gegeben? Das habe ich nicht geschrieben", rief Herr Briggs erregt, „wenigstens de» Text nicht, die Unterschritt freilich kann von mir sein. Und wer sind denn überhaupt diese Snsoks L Co.?" Plötzlich schien ihm ein Licht aufzugehcn. „Sollte etwa dieser Bursche —" „Ja, ein sehr nett aussehender Bursche war er, der das Billet hier abgab", erklärte seine