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Allgemeiner Anzeiger : 19.12.1903
- Erscheinungsdatum
- 1903-12-19
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- SLUB Dresden
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- Public Domain Mark 1.0
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- urn:nbn:de:bsz:14-db-id181900449X-190312191
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- oai:de:slub-dresden:db:id-181900449X-19031219
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Bestände der Stadtbibliothek Bautzen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Allgemeiner Anzeiger
-
Jahr
1903
-
Monat
1903-12
- Tag 1903-12-19
-
Monat
1903-12
-
Jahr
1903
- Titel
- Allgemeiner Anzeiger : 19.12.1903
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politische AcmÄlckau. Deutschland. * Die Reise des Kaisers nach dem Mittelmeer scheint nun doch endgültig be schlossen zu sein. Zwar werden auch wider sprechende Meldungen laut, indes sprechen die verschiedenen Zurüstungen an den Schiffen und die Kommandierungen von Offizieren dafür, daß eine Reise des Kaisers für demnächst geplant ist, an der auch die „Hohenzollern" teilnimmt. Nur über den Zeitpunkt des Beginns der Fahrt scheint noch nichts festzustehen; jedenfalls findet sie nach Weihnachten und wahrscheinlich erst Anfang Februar statt. * König Christian gedenkt während des Aufenthalts, den er auf der Reise nach Gmunden in Berlin nimmt, dem Kaiser Wilhelm einen Besuch abzustatten. Damit wird die Annäherung zwischen den beiden Höfen besiegelt werden. * In Bundesratskreisen glaubt man, es werde gelingen, die Zustimmung mindestens eines Teils des Zentrums dafür zu gewinnen, daß die „kleine Reichsfinanzresorm" in der laufenden Tagung des Reichstages zur Verabschiedung gelangen könne. Ob es sich bestätigen wird, was verlautet, daß das Zen trum außer den Branntwein- auch die Stempel steuer-Einnahmen zur Überweisung au die Einzelstaaten gebracht sehen möchte, bleibt ab zuwarten. *Am 1. Januar 1904 treten auf sozial politischem Gebiete sowohl die Novelle zum Krankenversicherungsgesetze und das Gesetz über die Kinderbeschäfti gung in gewerblichen Betrieben, wie auch eine Reihe von Bundesratsbe stimmungen, die die Beschäftigung von Arbeitern regeln, in Kraft. Die letzteren beziehen sich auf Ziegeleien, Getreide mühlen usw. *Der,Reichsbote' erzählt, im Zentrum bestände die Absicht, eine Reform des preußischen Landtagswahlrechts zu beantragen, wodurch an Stelle der öffent lichen Stimmabgabe die geheime, wie bei der Reichstagswahl, eingeführt werden soll. * Ihres Amtes enthoben hat der Regierungspräsident von Lüneburg die Ge meindevorsteher von Baven, Bonstorf und Beckedorf, weil sie bei der Landtagswahl ihre Stimme einem Welfen gegeben hatten. Österreich-Ungarn. *Erzherzogin Klothilde Maria, Tochter des Erzherzogs Joseph von Österreich, ist Montag früh in Budapest gestorben. Die Erzherzogin hat ein Alter von 19 Jahren erreicht. In Wien geht das Gerücht, der Tod sei infolge einer Verwundung bei eurem Jagd unfall eingetreten. * Tiszas Stellung befestigt sich immer mehr. Vier Abgeordnete der ehemaligen un garischen Nationalpartei, die mit dem Graten Apponyi ausgetreten sind, haben ihren Wiedereintritt in die Regierungspartei angemeldet. Frankreich. * GegenüberdenVermutungen der nationalisti schen Presse über die Revisionsgründe des Dreyfusprozesses behauptet Jaurss in der ,Petit Republigne', daß das Borde - re au mit der gefälschten Aufschrift des Kaisers Wilhelm durch einen Offizier nach Rennes ge bracht und im dortigen Offizierskasino den Richtern Dreyfus' miigeteilt wurde. Das sei der Hauptgrund für die Revision. *Bei der Beratung des vom Senat ab geänderten Gesetzentwurfs betreffend Her stellung von Schiffahrtswegen und Verbesserung bestehender Wasserstraßen, wurden in der Kammer dre Kosten für diese Arbeiten, die der Senat auf 300 Millionen Frank herab gesetzt hatte, wieder auf 700 Millionen Frank festgesetzt. Italien. *Am Montag wurde das Programm für den Empfang Loubets in Rom am 6. bis 11. April veröffentlicht. Der Hauptteil der Festlichkesten entspricht denen für .Kaiser! Wilhelm. Neu hinzukommen noch Nachtfeste auf dem Monte Pincio und auf der darunter liegenden Piazza del Popolo, ferner Festlich keiten in der Villa Borghese und ein Fackelzug. Balkanstaaten. * In Mazedonien drängt die Pforte auf beschleunigte Ausführung der verein barten Reformen. Die Ursache hierfür scheint die Befürchtung zu sein, das Frühjahr werde sonst einen unfertigen Zustand der Pro vinzen vorfinden und nochmals einen Aufstand Hervorrufen. * König Peter von Serbien hat dem Kaiser Franz Joseph die Bitte vortragen lassen, von der Beurlaubung des österreichisch ungarischen Gesandten in Belgrad Abstand zu Prinz-Regent Luitpold von Bayern beging am 15. d. sein 60jähriges Generalsjubiläum. nehmen. Daß der Kaiser daraus eingeht, ist nicht wahrscheinlich, da er offenbar im Ein verständnis mit den übrigen Mächten handelt, die gleichfalls ihre BelgraderVertreter beurlaubten. *Jn der bulgarischen Volksver tretung kam es am Montag bei der Frage der Nachbewilligung von 25 Millionen, die im Lause des Jahres für eine Verbesserung der Heeresausrüstung verausgabt worden sind, zu lebhaften Erörterungen, die mit Bewilligung der geforderten Summe abschlossen. Amerika. * Die Intrigen der Börsenkreise gegen Roosevelts neue Kandidatur find gescheitert. Das republikanische Nationalkomstee stellte eine Mehrzahl von Staaten und Stimmen fest, die Roosevelts Kandidatur gesichert er scheinen lassen. Roosevelt wird zusammen mit dem Senator Hanna den Mittelpunkt eines großen Gruppenbildes abgeben, das in Massen verbreitet und den leitenden Parteiführern sämt licher Staaten zugestellt werden soll. (Das wird ja erhebend wirken!) * Die Regierung in Washington will Nach richt erhalten haben, wonach Kolumbien an der Mündung des Atrato in den Golf von Darien Truppen gelandet hätte. Ihre Zahl soll 2800 Mann betragen, und ihr Plan wäre, auf Booten die in den San Miguel- Busen an der pazifischen Küste sich ergießenden Flüsse bis zur Mündung zu benutzen und von hier aus durch den Urwald bis nach Panama vorzudringen. * In Panama hat die Junta die Wahlen auf den 28. d. festgesetzt. Afrika. *Dem ,Bureau Dalziel' zufolge erhielt die Johannesburger Mineukammer von der chine sischen Regierung die Zusicherung, daß einer Anwerbung chinesischer Arbeiter für Transvaal keine Hindernisse bereitet werden würden. (Die armen Buren, die gern ar beiten wollen, werden von den Minenbesitzcrn nicht eingestellt!) Kus clem Aeicbstage. EJm Reichstag machte am Montag vor Eintritt in die Tagesordnung Präsident Graf Ballestrem Mitteilung über den Empfang des Präsidiums durch den Kaiser. Letzterer habe sich dreivicrtel Sumdcn lang mit den drei Präsidenten unterhalten, die Stimme des Kaisers sei voll und klar gewesen. Bei der Fortsetzung der ersten Etatsberatung wandte sich Abg. Bebel (soz.) gegen die Ausführungen des Reichskanzlers über den sozialdemokratischen Zu kunftsstaat. Redner habe bei dem Grafen Bülow jedes Verständnis für die sozialistischen Problems, jede Kapazität für diese Dinge vermißt. Bebel hielt alles aufrecht, was er in seiner ersten Etatsrede über Korruption im Ofstzierkorps, über Soldaten mißhandlungen und andere militärische Fragen ge sagt hatte. Reichskanzler Graf Bülow wiederholte nochmals, daß von der Heeresverwaltung alles ge schehen solle, um den Soldatenmißhandlungen vor zubeugen und sie auszmotten. Es sei nichts als blauer Dunst, den Bebel bezüglich des Znkunfts- staates dem Hause vorgemacht habe. Positive Leistungen habe der Reichskanzler bei der Sozial demokratie nicht gesehen, wohl aber eine fortgesetzte wüste Kritik, einen Appell an die niedrigsten Leiden schaften, unedle Instinkte, blinden Fanatismus und starren Dogmatismus. Redner forderte das Bürger tum zu einmütigem, energischen Zuse mmenschlnß gegenüber der sozialistischen Gefahr auf. Nachdem noch Kriegsminister v. Einem und Abg. Stöcker gegen die Sozialdemokratie polemisierte, vertagte sich das Haus. Am 15. d. wird die dritte Lesung des HandelsprovtsoriumsmitEngland be raten. Abg. Liebermann v. Sonnenberg (wirtsch. Vgg.) Verzichtet darauf, die Auszählung zu beantragen, da bas Provisorium bereits zweimal von einem gut besetzten Hause angenommen fei. Er halte sich nicht für verpflichtet, Rücksicht auf das Ausland zu nehmen. Herr v. Kardorff habe nie nach diesem Grundsatz gehandelt. Seine Freunde würden das Provisorium ablehnen. Abg. Graf Kanitz (kons.) lenkt die Aufmerk samkeit auf den Handelsvertrag zwischen England und Persien, worin England nur für diejenigm Kolonien die Meistbegünstigung erhalte, die selbst die Meistbegünstiaung gewährten. Redner bemängelt dann die Form unserer Handelsstatisttk. Hiermit schließt die Erörterung. Der Gesetz entwurf wird in dritter Lesung niit großer Mehrheit angenommen. Darauf wird die erste Beratung des Etats und der Finanzreform fortgesetzt. Abg. Graf Limburg-Stirum (kons.) nimmt das Offizierkorps gegen die Angriffe der Abgg. Richter und Bebel in Schutz. Man müsse auch einen Unterschied machen zwischen kaltblütigen, grausamen Mißhandlungen und solchen, die in der Erregung vorkämen. Beide müßten bestraft werden, aber in verschiedenem Maße. Es sei nicht zu leugnen, daß der sozialdemokratische Geist auch fchon in die Armee eingedrungen sei und vielfach eine passive höhnische Renitenz erzeugt habe. — Es herrsche eine geteilte Ansicht darüber, ob man auf die Binnenschiffahrt auf den Strömen Abgaben legen dürfe. Gute Beziehungen zu Rußland wünsche er natürlich, sie dürften aber nicht auf Kosten der handelspolitischen Beziehungen gepflegt werden. Man könne zu ein^m Staate sehr gute politische Bezie hungen unterhalten, wenn man auch zu ihm in einem schlechten Handelsverhältmsse stehe. Die Zustände in der Landwirtschaft seien sehr gefährlich, sie wären auch der festeste Damm gegen die Sozialdemokratie. Mehrfach von den Sozialdemokraten durch Zwischen rufe unterbrochen, spricht Redner von dem Terroris mus der Sozialdemokratie, er spricht den sächsischen Behörden seine Genugtuung aus für ihre feste Haltung im Krimmitschauer Streik. Die Negierung möge' den Kamps gegen die Umsturzpartei aufnchmen, ehe eS zu spät sei. Abg. v. Tiedemann (freikons.) polemisiert gegen Bebel. Der sozialdemokratische Parteitag in Dresden habe aufs neue gezeigt, daß der Kampf gegen die Sozialdemokratie energisch durchgesuhrt werden muß. Das Sozialistengesetz war eine sehr gute Waffe. Reichskanzler Graf Bülow: Herr Graf Stirum hat gesagt, er zweifle nicht am guten Willen der Regierung, aber er wolle Taten sehen. Er hat da mit wohl ansdrücken wollen, daß er mit repressiven Maßregeln vorgehen würde, wenn er an dieser Stelle stände. Da möchte ich den Grafen Stirum fragen: glaubt er, daß gegenwärtig in diesem hohen Hause eine Mehrheit für solche Pläne zu haben ist? Wenn aber dafür keine absolute Gewißheit gegeben ist, würde ich es für einen großen politischen Fehler halten, ohne Not einen Keil zwischen die bürgerlichen Parteien zu treiben. Mit Recht hat Graf Stirum über den sozialdemokratischen Terrorismus geklagt, aber soweit dabei strafbare Handlungen in Betracht kommen, werden sie nach den Bestimmungen des Strafgesetzbuchs und der Gewerbeordnung bestraft. Es wird dafür gesorgt, daß in allen Fällen Re medur nach Lage der Gesetzgebung eintritt. Graf Stirum hat ferner ein Programm bei den verbündeten Regierungen vermißt. Ich glaube, ich habe mich m meinen beiden Reden mit aller Deutlichkeit über unsere Stellung ausgesprochen. Wir werden alles tun, um gegenüber der Sozial demokratie die Einigkeit des Bürgertums zu erhalten und, soweit sie nicht vorhanden ist, herbeizuiühren. Mit aller Entschiedenheit mutz ich Verwahrung dagegen einlegen, daß es die verbün deten Regierungen an Festigkeit und Entschlossenheit fehlen lassen. Aber ich glaube, daß wir mit Ruhe und Besonnenheit weiter kommen als mit unüber legter Hitze. Die Bereitwilligkeit, die Dinge P bessern, ist nicht nur an dem Eifer zu messen, mit dem man an die Gesetzgebung geht. Ich bin kein Freund nervöser Gesetzmacherei. Die öffentliche Ordnung muß verteidigt werden, und wer sich an ihr vergreift, muß rücksichtslos zu Boden geworfen werden ohne jede Schlappheit. Graf Stirum hat ferner vor der Sorglosigkeit gewarnt, die vor der französischen Revolution geherrscht hat, aber wo ist denn heute der Adel, der das Volk knechtete, wo sind die schwelgenden Höfe. Dank unserm alten Kaiser und dem großen Kanzler haben wir ein soziales Königtum und eine soziale Gesetzgebung. Die verbündeten Regierungen werden in dem Be streben fortfahren, die Entwickelung der inneren Verhältnisse in ruhigen und besonnenen Bahnen zu halten, soweit es der Terrorismus und die Agitation der Sozialdemokraten zulassen. Ich appelliere im Kampfe gegen die Sozialdemokraten nicht nur an das Vertrauen zur Regierung, sondern auch an das Selbstvertrauen des Bürgertums. Abg. Stolle (soz.) kommt auf die Krimmitschauer Streikbewegung zurück. Was haben die dortigen Arbeiter denn verlangt? Den zehnstündigen Arbeits tag. Ist das etwa auch „Dünkel" und „Wermut"? Tie halbstündige Mittagspause, die sie weiter ver langten, ist durchführbar ohne eine Verminderung der Leistungsfähigkeit der Arbeiter. Der Krimmit schauer Fabrikantenverein hat es abgelehnt, auf solche gerechten und humanen Forderungen der Arbeiter einzngehen. Die Arbeiter haben in Krimmitschau den Boden des Gesetzes nicht verlassen, trotzde« werden sie drangsaliert von einer brutalen Polizei« gewalt. Schließlich kommt Redner noch auf Fragen der auswärtigen Politik und auf Steuerfragen zN sprechen. Sachs. Bundesbevollmächtigter Dr. Fischer er widerte dem Vorredner, es habe sich gezeigt, daß eS sich in diesem Falle lediglich um eine Kraftprobe handelt, ob die Arbeiter oder die Arbeitgeber recht haben, und darum würde auch die beste Vermittelung in diesem Kampfe nichts nützen. Das Verhalten der Behörden sei nur hervorgerufen worden durch das Verhalten der Streikenden. Abg. Liebermann v. Sonnenberg be grüßt den neuen Reichsschatzsckretär wie die geplante Reichsfinanzreform. Redner empfielt eine Reichs« einkommensteucr und befürwortet ein Reichsregal für Inserate, keine Jnseratensteuer, von der nur daS inserierende Publikum getroffen werden würde. Bei Besprechung des Militäretats bemängelt er den häufigen Wechsel der Uniformierung. Der Fall Forbach ist tief betrüblich, ein Trost für uns ist, daß nichts vertuscht worden ist. Abg. Blumenthal (südd. Vp., Elsässer) spricht über reichsländische Fragen. Abg. Graf Limburg-Stirum wiederholt seine Vorwürfe gegen die Regierung. Staatssekrekär Graf Posadowski tritt dem Vorredner scharf entgegen und bestreitet, jemals die Sozialdemokratie als besondere Vertreterin von Arbeiter iniercssen anerkannt zu haben. Nachdem noch der prcuß Eisenbanminister Budde gesprochen, ist die Tagesordnung erledigt. Die finanzielle Gesetzvorlage und Teile des Etat- gehen an die Budgetkommission. Nächste Sitzung am 12. Januar. Von Mck fern. Prinz Prosper Arenberg ist aus der Abteilung für Nervenkranke in der Strafanstalt Moabit wieder nach dem Strafgefängnis Tegel zurückgebracht worden, da die von der Miliiär- behörde eingesetzte Medizinalkommission sich dahin ausgesprochen hat, daß der Prinz geistig normal sei. Die größte Ladung Apfelsinen, die bisher nach Bremen gekommen, überbringt der Argo-Dampfer „Bingen". Der von Valenc a und Cartagena kommende Dampfer enthalt 11000 Kisten Früchte; diese werden durch die Fruchlhandelsgesellschast öffentlich in Auktion verkauft. R k)erta falk. 3fj Roman von Theodor Almar. lForNetzuniw Der sonst so starke Mann wäre vielleicht zu sammengebrochen, wie die Eiche im Sturme, die kein Biegen kennt, hätte sich in diesem Augen blicke nicht mit Blitzesschnelle etwas zugetragen, was erschütternd wirkte. Frau Falk war auf- gesprungen, hatte die Reihen der Zuhörer durchbrochen und gewaltsam vordringend, nicht achtend der Unordnung ihrer Kleidung, des fallenden Hutes, der feflellos an ihr herunter hängenden langen, sich auflösenden Flechten, erreichte sie die Anklagebank und rief: „Julius, vertraue deinem Gott und mir; ich werde Licht in diese Nacht bringen, das schwör' ich dir!" Mit diesem, den ganzen Saal durchhallenden Ausruf sank sie ihrem Manne an die Brust; ihre reichen, aufgelösten Haarmassen bedeckten sein Gesicht liebevoll; denn dem Manne rollten unaufhaltsam die Hellen Tränen über die Wangen, als er sie so in seinen Armen hielt und heiß küßte. Mit ihrer.Kraft aber war es zu Ende, und da auch ich mich durch die Massen hindurch ihr nachgedrängt hatte, kam ich gerade zur rechten Zeit, um dem Doktor die Hand zu drücken und die ohnmächtige Frau ihm aus dem Arm zu nehmen. Sie fast aus dem Saale tragend, hob ich sie in einen Wagen und nahm sie mit mir nach Hause. Als sie wieder zu sich kam, verlangte sie nach ihren Kindern, sprach aber sonst keine Silbe, sodaß uns ganz un heimlich ward, und ich brachte sie nach ihrer eigenen Wohnung. Meine Frau besuchte sie dann noch einige Male; aber sie blieb wie nach der Verhandlung und wie es jetzt noch ist, gleich wie in Schmerz erstarrt. Und da der vom Unglück Getroffene nie nötig hat, für Spott zu sorgen, so nennt man sie jetzt vulgärer weise vielfach die verrückte Frau Doktor und das leider nicht ganz ohne Berechtigung. Sie hängt Wahngebilden nach und hat keinen andern Gedanken als den, den ihrem Gatten geleisteten Schwur zu halten und auszuführen. Sie will ohne den geringsten Anhaltspunkt des Gatten Unschuld an den Tag bringen, was meines Erachtens Wahn, wenn nicht schon Wahnsinn ist. Monate sind vergangen, und sie verfolgt noch immer diese Idee, verschmäht nach wie vor allen Umgang und mit ihren Ge danken wer weiß wo, stürmt sie oft vor sich hin, wie du sie vorhin gesehen hast. Müde und erschöpft kehrt sie dann heim und man sieht sie dann tagelang nicht. Neulich aber entschlossen sich meine Frau und meine Schwägerin, doch wieder einmal ihr einen Besuch zu machen. Doktor Falks jüngster Sohn hatte nämlich seinen Geburtstag; sie brachten dem Jungen allerlei Spielzeug und Süßigkeiten und wurden auch von der Frau Doktor empfangen und willkommen geheißen. Allein die Ärmste hat den Eindruck des Tief sinns auf meine Frau gemacht und wenn nicht bald eine Änderung in dem Gemütszustände der Beklagenswerten eintritt, kann es schon kommen, daß die Kinder auch die Mutter ver lieren. Was aber kann sich unter den ob waltenden Verhältnissen zum Guten ändern? — „Aber sieh doch! Ist es Zufall oder Be stimmung, daß du gleich alles wissen sollst, was im Zusammenhangs mit unserer armen Nach barin steht! Siehst du dort vom Tore her den hochgewachseucn Herrn mit schwarzem Vollbart kommen? Das ist Herr von Werden, der Neffe der verstorbenen Baronin von Bardow, ein Deutsch-Amerikaner. Er ist noch nicht lange hier und kam auch nur infolge einer Aufforde rung von feiten des Gerichtes über den Ozean herüber. Ein ganz charmanter, angenehmer Mann, klug, geistvoll und höchst liebenswürdig im Umgänge. Ich kenne ihn bereits persönlich, und da er eben des Weges kommt, will ich dir Gelegenheit geben, gleichfalls seine Be kanntschaft zu machen." Und ohne des Freundes Zustimmung zu dieser Proposttion abzuwarteu, beugte sich Millner über das Geländer der Veranda und rief dem Kommenden entgegen: „Guten Morgen, Herr von Werden! Schon so früh am Tage in der Stadt? — Ja, schaun Sie nur, wir fitzen hier gemütlich hinter Blumen und Blättern. Ich wollte mir nur erlauben, Sie zu begrüßen." „Sehr liebenswürdig, Herr Rat, sehr freund lich von Ihnen. Ich wäre aber auch nicht ohne weiteres an Ihrem Zauberschloß vorüber gegangen, ohne mich nach Ihrem und Ihrer Damen Befinden zu erkundigen. Wie geht es Ihnen?" Mit diesen Worten stand der Angerufene, der schnellen Schrittes über die Straße her übergekommen war, vor der Veranda und streckte Millner die Hand entgegen. Er war ein auffallend schöner Mann, eine wahre Siegfriedsgestalt. Das gebräunte Ge sicht mit den etwas fiesliegenden dunkelblitzenden Augen, mit dem beinahe bis zur Brust wallen den Bart war einnehmend und vornehm. Nur schien es, als ob der Fremde — bildlich ge sprochen — ein Visier trage, so gemessen und erwogen war sein Mienenspiel, trotz der freund lichen Art seines Benehmens. Auch hatte er den Assessor Rosen sofort hinter wilden Wein ranken auf der Veranda entdeckt. Er wechselte aber mit dem Rat Millner erst einige Worte, ehe er langsam den Blick zu dem dritten erhob, worauf der zuvorkommende Baurat die Herren einander vorstellte. Millner aber bemerkte zu seinem Erstaunen, daß sich der Assessor ungewöhnlich steif und schweigsam verhielt. Hätte es der gesellschaftlich gebildete Mann nicht verstanden, die Unter haltung durch seine Beredtiamkeit zu schüren, so würde sie bald ins Stocken geraten sein. „Herr von Werden, wollen Sie uns nicht die Ehre erweisen, ein Weilchen unser lauschiges Plätzchen zu teilen? Es soll gleich wie beim Tischchen—deck—dich Ihr Lieblingswein serviert werden," sagte der Äaurat, indem er schon einen Stuhl für den Gast zurecht rückte. Doch von Werden entgegnete: „Danke, danke, bester Herr Rat, heut habe ich noch zu viel in der Stadt zu tun. JH muß wieder einmal auf das Gericht; der Himmel mag wissen, wann die Herren mich einmal in Ruhe lassen werden. Habe ich doch gar nicht gewußt, daß solche Erbschaftsangelegenheit so viele Schreibereien machen kann. Aber Ihr Achtundsiebziger soll Ihnen darum nicht ge schenkt sein; komme schon einmal zu gelegener
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