Volltext Seite (XML)
auch nicht, leere Drohungen imponierten ihm wenig. Die Glocke draußen klang, unwillkürlich horchte er aus: vielleicht war es der Briefträger, nein, doch nicht, es blieb alles still. Er sah um sich. Da stand der Tisch mit dem unberührten Mahl, die Gedecke seiner Kinder, ihre kleinen Weingläser, die er ihnen einst aus dem Bade mitgebracht, ihre Servietten in den blanken Ringen — er sah plötzlich, was zu ihnen gehört und was er sonst nie beachtet hatte. Würden sie wirklich fortgehen, nicht wieder- kommcn — niemals wiederkommen? Würde es nun immer so still um ihn bleiben, so unheimlich still, daß die Luft auf ihn drückte und ihn der Schlag der Uhr in den Ohren schmerzte? Ach, er fing Grillen: ein Streit bringt keine Trennung auf ewig, ein rasches Wort, eine übereilte Handlung kann gesühnt werden. Und dann würde ja auch bald Else hier sein! Else und Ulrike — er sah sie vor sich, wie sie neben einander mit dem Ranzen aus dem Rücken zur Schule gewandert waren, später im Konfirmationskleid vor dem Altar knieend — und nun sich so kühl gegenüber bei den letzten Begegnungen, wie zwei Feindinnen sich mit den Augen messend, jedes Wort abwägend und Haarschars zurück gebend — nein, Else und Ulrike zusammen, niemals! Entweder seine Tochter oder Und von neuem erwachte in ihm die Leidenschaft nach dem jungen, blühenden Geschöpf, das mit so zärtlicher Hingabe in seinen Armen hing. Sie, die Vielbegehrte, Gefeierte, die er sich errungen hatte vor allen anderen, jüngeren, die bald ganz sein Eigen sein würde, von ihr sollte er sich lösen in letzter Stunde? Nein, er war nicht der Mann, selbstsüchtiger Kinder wegen, die ihn nicht einmal liebten oder Pflegten, auf jedes Glück zu verzichten. Sie hatten Recht: besser sie gingen, als daß sie ihm das Leben zerstörten. Sie konnte er entbehren, aber Else —? Else niemals mehr! Es trieb ihn fort zu der Geliebten. Aber dann besann er sich darauf, welch ein Gerede in der kleinen Stadt entstehen, wie man sein Verfahren aburteilen, ihn ob feiner Härte verdammen würde. Mochten sie doch — hinter seinem Rücken! Er kannte die Menschen: ihm ins Gesicht würden sie nach wie vor schmeicheln, ihn loben, daß er dem Hause eine neue Herrin gäbe und die Wahl, die er ge troffen, für passend und würdig erklären. Aber trotzdem wollte er den Schein soviel wie möglich wahren — man sollte auch wissen, daß ihm an einer Aussöhnung mit den Kindern gelegen habe! Er wartete, bis es draußen dämmerig wurde, die Nachmittage begannen schon kurz zu werden, dann schlich er sich über den Korridor in sein Zimmer. Auch hier überall Totenstille. Die Starrköpfe waren wirklich gegangen, er konstatierte es jetzt schon mit einer gewissen Erleichterung, jeder muß ausessen, was er sich einbrockt. Das Mädchen schien vor seinem Zorn geflüchtet zu sein, wenigstens rührte sie sich nicht in der Küche. Er klingelte und befahl der zaghaft Eintretenden, den Tisch ab- zuräumen und ihm den Kaffee zu bringen. Dann saß er noch eine Weile grübelnd und überlegend da, schließlich quälte ihn doch die Ungewißheit, er griff nach Hut und Stock. Dem Mädchen rief er mahnend zu, bald die Flurlampe an zuzünden. In der Hausthür prallte er niit einem ihm Entgegenkommenden zusammen, ihm versagte fast der Atem, eS war Ernst .Nein, ich bin cs," antwortete eine ruhige Stimme, die er als die des Doktors erkannte. .Laß uns einen Augenblick umkehren — ich habe Dir etwas zu sagen." Dem Bürgermeister war nicht wohl bei dieser Rede, er kehrte wortlos um, entzündete ein Licht aus seinem Schreibtisch und wandte sich dann mit einem unbefangenen „Nun?" dem Gaste zu. Der stand aufrecht am Tisch und sagte langsam: „Deine Kinder sind bei mir, vorläufig bleiben sie unter meinem Dache. Ich wollte Dir das nur sagen, ehe Du es von anderen erfährst." Er schwieg und der Bürgermeister schwieg gleichfalls. Wie sollte er sich hierbei benehmen? Er mußte sich doch den Anstrich geben, als wünsche er ihre Rückkehr — und wenn sie nun wirklich kamen? — Er überlegte hin und her und sagte schließlich mit einem häßlichen Auslachen: „Da giebt Ulrike Dir doch wohl Chancen, wie?" Dem Doktor trat der Ekel aus die Zunge, was hatte die Leiden schaft aus diesem Manne gemacht! „Daun wäre sie Wohl nicht zu mir gekommen," gab er einfach zurück. „Aber daß die Kinder sich in ihrer Herzensnot an mich wandten, das hat mir wohlgethan. Ich behielte sie gern lange bei mir, doch sie haben Deinen Starrsinn geerbt, Du darfst ihnen des wegen keine Vorwürfe machen." „Wohin wollen sie denn?" fragte der Bürgermeister endlich. „Sie werden sich die Hörner wohl noch ablausen." „Das glaube ich auch," erividerte der Doktor traurig. „Und ich bin nur froh, daß ich wenigstens raten darf. Ernst verläßt die Schule —" „Ohne sein Abiturium?" „Er sagt, es könne ihm nichts nützen, er will nicht studieren, er will nach drüben gehen." „Ein schöner Plan!" Der Bürgermeister lachte laut auf. „Gold gräber werden? Nun, meinetwegen! Und das Fräulein? Wird sie am Ende auch überseeisch?" „Du scheinst es fast zu wünschen, aber dazu ist Ulrike zu ver ständig. Sie will dem Bruder nicht hinderlich sein, für sie wird sich auch bei uns in Deutschland ein Platz als Bonne oder Wirtschafterin finden lassen." „Sehr hübsch! Fräulein Ulrike Meyn Kindermädchen! Und was weiter?" „Nichts. Nur bitten die Kinder Dich um die Sparkassenbücher und um etwas Wäsche und einige Kleider. Auf alles andere ver zichten sie, es würde ihnen nur hinderlich fein." „Also auch noch großmütig obenein! Nun, ich werde mich nicht von ihnen beschämen lassen." Er eilte nach der Thür, ries das Mädchen und befahl ihr, für das Fräulein und den jungen Herrn an Wäsche und an Kleidern zusammen zu Packen, was sie nur finden könne. Dann trat er zum Schreibtisch, suchte die Bücher heraus und schrieb noch in jedes eine Summe hinein: „Ich werde das Geld morgen einzahlen, dann können sie es mit dem übrigen erheben." „Und weiter soll ich Ihnen nichts sagen?" „Haben sie mir eine Bestellung ausrichten lassen?" fragte er höhnisch zurück. „Nein, siehst Du! Wir haben uns auch wenig zu sagen, meine Kinder und ich, wir sind fertig mit einander." Er hatte sich hoch aufgerichtet und der Doktor empfand, daß er auch aus seine Worte einen theatralischen Nachdruck legte. Aber starr und unbeugsam war auch er, wie zu Hause die beiden verweinten Kinder, an deren Entschluß sich nicht rütteln ließ trotz aller Bitten und verständigen Vorstellungen. So machte sich der gute Doktor traurig auf den Heimweg, feine Ausgabe war ja erfüllt. Von Ernst waren Zorn und Haß gewichen, er kam sich wie be freit vor, da er die schwüle Lust daheim nicht mehr zu atmen brauchte, nicht mehr den Zwang fühlte, den die väterliche Strenge so peinigend aus ihn ausgeübt hatte. Nun war endlich ausgesprochen, was seit Wochen aus ihm lastete und was ihn oft zu ersticken drohte. Die bange Ungewißheit war abgethan, das furchtbare, ihm Unsaß- liche geschah wirklich: der Platz seiner Mutter wurde neu ausgesüllt, von Else — seiner Else! Nein, nun auch seine Else nicht mehr! Auch mit ihr hatte er abgeschlossen und nicht einmal mehr Bedauern durchzog seine Brust, nur Bitterkeit, daß jemand jo häßlich, jo gefühllos, moralisch fast sündhaft handeln konnte. Er war fertig mit allem, auch mit dem alten Leben, der Herumdrückerei auf der Schulbank, der quälenden Furcht vor den: Examen. „Es wird auch ohne diese Reifestempelei etwas aus mir werden," tröstete er Ulrike. „Ich stehe für mich ein, ich gehe nicht unter. Werde zwar kein nach Anstellung hungernder Referendar, kein ewiger Assessor, um irgendwo als ein Staatskrüppel zu enden — nein, vorwärts, heraus aus diesem ganzen Elend, hinein ins Leben! Mit meinen Fäusten will ich arbeiten, Tag und Nacht — und der Ge danke an Dich wird mich treiben, mich beseelen — und wenn es jo weit ist, kommst Du mir nach." Sie nickte dankbar, lächelnd. Sie war nicht ganz so zukunfts gewiß, aber jein Vertrauen wirkte doch ansteckend, jogar aus den Doktor. In der kleinen Stadt zerbrach man sich den Kopf, was vor« gefallen sei: etwas Großes war unbedingt geschehen, aber über das Maß war man sich doch uneinig. Der Bürgermeister schritt strahlend mit seiner jungen Braut am Arm durch die Gaffen, doch auch Ernst sah man mit Ulrike, plaudernd und lachend, allerlei Einkäufe machend und wie von einer freudigen Unruhe beflügelt. Alle Beteiligten schwiegen diskret über die Vorfälle — und das verzieh man selbst dem jovialen Amtsrichter nicht. Später würde ja doch einmal die Wahrheit an den Tag kommen! Das geschah beinah schon, als Ernst abreiste und Ulrike sich am Bahnhof, der von einer ganzen Menge Neugieriger bevölkert war, standhaft hielt, bis der Zug davonfuhr. Da weinte sie heiße, heiße Thränen und wollte aus kein Trosteswort hören: jo weint man nicht, wenir es sich um eine kurze Trennnng handelt, also war Naum genug gegeben für allerlei Schlüsse. Auch der Bürgermeister erfuhr von Ernsts Abreise, er, nahm die Nachricht kaltblütig auf. Nachdem die Kinder aus boshaftem Eigen sinn die Annahme des von ihm geschenkten Geldes verweigert hatten, war das Tischtuch zwischen ihnen zerschnitten — er brauchte sich keine Vorwürfe mehr zu machen. Nach kurzen Wochen, sobald die Trauerzeit beendet war, heiratete er die blonde Else und hatte in der glücklichen Stimmung keinen Augenblick Muße, um sich der beiden Starrköpfe zu erinnern. Nach Ernsts Fortgang fühlte Ulrike erst, wie die Erregungen der letzten Monate sie körperlich und geistig angegriffen hatten. Sie war matt und müde, wie ein Kind nach weitem Gange, hatte ein großes Schlafbedürfnis und saß während der langen Abende stumm mit ihrer Arbeit neben der Blutter des Doktors. Die alte Frau war liebevoll und gütig gegen sie, gab auch dann und wann Ulrike