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Allgemeiner Anzeiger : 27.11.1901
- Erscheinungsdatum
- 1901-11-27
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id181900449X-190111273
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id181900449X-19011127
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- oai:de:slub-dresden:db:id-181900449X-19011127
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Bestände der Stadtbibliothek Bautzen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Allgemeiner Anzeiger
-
Jahr
1901
-
Monat
1901-11
- Tag 1901-11-27
-
Monat
1901-11
-
Jahr
1901
- Titel
- Allgemeiner Anzeiger : 27.11.1901
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Uolitilche Unn-scha«. Deutschland. *Der Kaiser empfing am Freitag auf dem Bahnhof in Potsdam den Erzherzog Ferdinand Karl, den jüngsten Bruder des Thronfolgers in Oesterreich-Ungarn, fuhr mit ihm zum Stadtschloß und nahm darauf die Vereidigung der Rekruten der Pots damer Garnison vor. — Am 23. d. wohnten der Kaiser und sein Gast der Vereidigung der Rekruten in Berlin dei. *Dem Vernehmen nach wird der Groß herzog von Oldenburg wegen seines Herzleidens, wegen dessen er am Awang de? Jahres drei Monate zur Kur in Dresden weilte, den Winter im Süden verbringen. *Grw Hatzfeldt, der erst vor wenigen Tagen aus dem Amte geschiedene deutsche Bot schafter in London, hat die ihm gewährte Ruhe nicht lange genossen. Am Freitag ist er in London, wobin er sich zur Verabschiedung be geben hatte, 70 Jahre alt, gestorben. Auch ein zweiter Staatsmann bat am Freitag seine irdische Laufbahn beschlossen: Der ehemalige preußische Gesandte beim Vatikan, Herr Otto v. Bülow, starb in Rom, 74 Jahre alt. *Zu einer Anti-Anarchistenkon ferenz soll seitens Deutschlands und Rußlands in Kürze eine gemeinschaftliche Einladung an die übrigen Mächte ergehen. Die Wahl des Ortes, ob Berlin oder Petersburg, sei den anderen Regierungen überlassen worden. Der Plan zu der Konferenz soll angeblich unter dem Eindruck der Nachricht von dem Attentat aus Mac Kinley bei der Zusammenkunft in Danzig gefaßt worden sein. *Jn der Chamberlain-Affäre nimmt nun auch die ,Nordd. Allg. Ztg/ das Wort, indem sie schreibt: „Dem in Volks versammlungen hie und da ausgestellten Ver langen. im Interesse des deutschen Heeres amt licke Schritte gegen außeramtliche Aeußerungen eines fremden Ministers zu unternehmen, können wir uns nicht anschließen. Das Ansehen, das sich die deutsche Armee sowohl durch Manns zucht und Menschlichkeit wie durch Tapferkeit in der ganzen gesitteten Welt erworben hat, steht viel zu test, als daß es durch falsche und unpassende Vergleiche berührt werden könnte." *ReichseigenePostgebäude sollen im nächsten Jahre hergestellt werden in Bad Nauheim, Barmen (Unterbarmen) Berlin? Biele feld, Chemnitz, Düsseldorf, Elberfeld, Erfurt, Hamburg, Hörde, Kleve, Kötben, Offenbach (Main) und Reichenbach (Vogtl.). * Der Entwurf zur Abänderung des Börsengesetzes ist nach der ,Nat.-Lib. Korr/ bereits fertig gestellt; er geht demnächst zur Begutachtung an die Einzel regierungen. Oesterreich-Ungarn. *Die parlamentarische Lage in Wien hat sich etwas gebessert. Es ver lautet, die Tschechen würden bei der Beratung des Budgets nicht die äußersten Schritte unter nehmen, sondern sich mit der Zusage der deutschen Obmänner, nach der Budgetdebatte mit ihnen in Verhandlungen eintreten zu wollen, vorläufig zufriedengeben. Die Entscheidung dürste in der vom Ministerpräsidenten ein- bermenen allgemeinen Obmännerkonferenz ge troffen werden. England. *Das englische Parlament wird erst am 16. Januar wieder zusammentreten. In zwischen hat der Führer der Liberalen, Campbell Bannerman, am Dienstag in Plymouth abermals eine flammende Rede gegen das Kabinett gehalten, in der er die Entfernung Chamberlains aus dem Kolonialministerium und Milners aus Pretoria verlangte. *Die deutschen Protestkundge bungen gegen Chamberlains elende Verdächtigungen der demschen Kriegsführung von 1870/71 lassen diesen Verleumder, der ein dickes Fell besitzt, nach seiner eigenen Versiche rung vollständig kalt. Auf ein Schreiben, welches ein Herr Marriner aus Tenrith an Chamberlain gerichtet und in dem er ihm nahe gelegt hatte, Schritte zu tbun, um den Unwillen zu beseitigen, den er durch seine jüngst gebaltM Rede in gewissen Kreisen des deutschen Volke? bervorgerusen habe, hat Chamberlain durch seinen Sekretär folgendes antworten lasten: „Herr Chamberlain beauftragt mich, den Em pfang Ihrer Zuschrift vom 16. d. zu bestätigen und Ihnen zu sagen, daß die sogenannte Agitation in Deutschland so offenbar er künstelt ist und so völlig aw einer mißver ständlichen Auffassung seiner Rede beruht, daß er nicht gesonnen ist, von derselben irgend wie Notiz zu nehmen. Immerhin wünscht Herr Chamberlain, ich solle betonen, daß kein vernünftiger Deutscher sich durch die Worte beleidigt fühlen kann, mit denen Herr Chamberlain die Handlungsweise der englischen Behörden in Transvaal durch Bezugnahme auf die übereinstimmende Ver- haltungslinie aller zivilisierten Nationen unter ähnlichen Umständen rechtfertigte." — Also zu der alten Frechheit ein Scheffel neuer! Graf Hatzfeldt ch. Italien. * Angesichts der zunehmenden Verschärfung der Gegensätze zwischen Italienern und Engländern aus der Insel Malta schreibt die ,Tribunast Die Wahrheit sei, daß die Malteser unentwegt gegen die Gewaltthätigkeit ankämpfen, deren Opfer sie sind, und das sicherste Resultat der imperialistischen Politik in England das Entstehen einer Maltafrage sein wird. Belgien. *D!e belgische Kammer hat die allge meine Wehrpflicht verworfen und mit 80 gegen 58 Stimmen den 8 1 des Regierungs- entwurfs angenommen: „Die Rekrutierung des Heeres erfolgt durch die Anwerbung von Frei willigen. Sollten diese nicht ausreichen, dann sollen, wenn erforderlich, Jahrgänge der Reserve herangezogen werden." Holland. * Nachdem sich das Haager Schieds gericht in der Burensache für nicht zuständig erklärt hat, werden die Buren delegierten jetzt der englischen Regie rung direkt den Antrag unterbreiten, den Streit einem Schiedsgericht zu übertragen, um so die rechtliche Grundlage für die Thät'gkeit des ganzen Tribunals zu schaffen. Der Erfolg eines solchen Schrittes würde freilich hauptsäch lich darin bestehen, England endgültig in aller Form ins Unrecht zu setzen. Portugal. * Sechzehn französische Ordens geistliche, welche von dem Postdampfer „Atlantique" inL! ssabon ausgeschifft waren, wurden von der Menge mitSteinwürfen empfangen und mußten sich wieder nach dem Schiff zurückbegeben. Einer der Ange griffenen wurde verletzt. Der Kapitän des Schiffes erhob bei dem französischen Konsul Beschwerde. Balkanstaaten. * Zwischen der Pforte und Frank reich ist schon wieder ein Konflikt ausgebrochen. Die Pforte will nicht gestatten, daß Frankreich wie bisher zwei Kriegsschiffe in Konstantinopel stationiere. * Der amerikanische Konsul D'ckins in Sofia stellte den Räubern der Miß Stone das Ultimatum, wenn ste nicht in kurzer Frist das Lösegeld von 12 000 P^und an- nähmen, würden die Unterhandlungen abge brochen und Miß Stone ihrem Schicksal über lassen werden. * Die Studentenunruhen in Athen nehmen einen recht ernsten Charakter an. Bei einem Versuch der Studenten, gewaltsam in das Univerfitätsgebäude einzudringen, wurden vom Militär zehn Studenten gelötet und zwanzig verwundet. — Bei den Kundgebungen gaben emige Teilnehmer aui den Minister präsidenten TbeotokisSchksse ab, ohne jedoch zu treffen. Amerika. * Obwohl der Nikaragua-Vertrag zwischen England und Amerika unterzeichnet ist, so ist damit nach nicht ansgesvrochen, daß er von dem amerikanischen Kongreß angenommen wird. In dem Kongreß ist eine starke Strö mung für den Panamakanal vorhanden, dessen Ankauf die erste Kanalkomm sfion vor schlug. Das Projekt scheiterte an den zu hohen Forderungen der Panama-Gesellschaft. Afrika. * Daß de Wet lebt, bestätigt nunmehr auch eine Johannesburger Devesche des ,Bureau Reuter' vom Montag, wonach dort Nachrichten eingegangen sind, aus denen bestimmt hervor geht. daß de Wet am Leben und bei guter Ge sundheit, aber von keiner großen Anhängerschaft begleitet ist. — Letzteres soll nur die bittere Pille dem englischen Leser etwas verzuckern. * lieber die Kindersterblichkeit in den Konzentrationslagern werden folgende offizielle Angaben aemacht. Es starben im Juni 576, Jnli 1124, August 1545, Sevtember 1964, also Zusammen in vier Monaten nickt weniger als 5209 Kinder. — Anaestckts dieser furchtbaren Ziffern wagt e? ein Mensch wie Chamberlain noch, von Humanität zu sprechen, d'e dem System der Konzentrationslager zu Grunde liege. Affe«. * Paterno, das Haupt des früheren Filipinokabinetts, ist zum Präsidenten der Friedensvartei erwählt. Er erließ einen Anstuf, das Blutvergießen einzust-llen. Viele Föderalisten verstärken die neue Partei. Krim Abawert i« Jerusalem. Prinz Adalbert von Preußen bat, wie schon berichtet, dem heiligen Lande einen kurzen Be such gbgestattet. Der .Germania' wird darüber au? Jerusalem noch folgendes berichtet: „Der größere Teil der Mannschaft, Osst'iere und Seefesten der „Charlotte" begaben sich mittels Sonder-uges nach der heiligen Stadt. Dort haben sie die heiligen Orte besucht. Sie sind auch nach Bethlehem gefahren. Die Haltung, das Aussehen, da? edle und vornehme Auf treten der Schiffs olsiziere und der Schar der Zungen Kadetten hat überall einen vortrefflichen Eindruck gemacht. Der deuische Name und der Ruf unserer Marine bat dadurch sebr gewonnen. Di? liebenswürdige Erscheinung, das taktvolle Auftreten des Punzen Adalbert, vornehm und anziehend zugleich, hat durchweg sehr ballen. Er machte die Besuche der heiligen Orte im Kreise einiger auserlesener Herren, im Geleite des deutschen Konsuls. Er war inkognito. Doch die Leute merkten bald, w-r der schlanke Herr war. Da ward er überall freundlich gegrüßt, denn er war der Sohn des Kaisers, dessen Be such vor drei Jahren hier noch in guter Er innerung ist. Die Knaben der deutschen Hospiz schule vor dem Damaskusthore, die gerade im Spiele waren, rannten auf die Mauer, als ihnen ein Junge zuschrie, der Prinz käme des Weges. Sie schwenkten ihre Mützen und jubelten aut Deutsch „Guten Tag" und andere freundliche Worte zu. Es that ihnen gut, sagen zu können, daß der Prinz sie freundlich wieder gegrüßt, und daß sie ihr Deutsch da mal an richtiger Stelle angebracht hätten. Die Ställe der Dormition (Maria Heimgang) auf dem Sion besuchte der Prinz unter Führung der Patres vom deutschen Hospiz. Beim Konsul Schmidt wurde am ersten Abend für einen kleinen Kreis von Vertretern des Deutschtums, der sich bei ihm um den Prinzen vereinigte, ein Essen gegeben. Als Vertreter der deutschen Katholiken war Pater Schmidt dabei zugegen. Indessen wollte auch die gesamte deutsche Kolonie es fick nicht nehmen lassen, ihrer Freude über die Anwesenheit all der ausgezeichneten Gäste vom Schulschiff „Charlotte" Ausdruck zu geben. Sie veranstalteten darum einen stoben Abend beim Glase Bier tm großen, Mächtigen Saale des deutscken „Gottlieb" in Jerusalem. Dort hat man fick herzlich des landsmannschaft lichen Zusammenseins gefreut. Offiziere und Kadetten, alles war in heiterster Stimmung, die noch bedeutend erhöht wurde, als auch der Prinz selbst für ein Stündchen die frohe Ver einigung mit seiner Gegenwart erfreute. In fröhlicher Stimmung ließ man die deutsche Flotte leben, als Vermittlerin enger Verbindung zwischen der deutschen Heimat und dem geweihten Boden Palästinas. Man Uah und Fern. Datz ein Offizier nach dem Verlust eines Auges mit der Führung einer Kompanie be'raut ist, steht gewiß einzig da. Der Tavstre, dem diese Auszeichnung zu teil geworden, ist der Oberleutnant zur See v. Krohn, der als Wachoifizier des Kreuzers „Gefion" im Juni 1900 den Zug unter Admiral Seymour von Tientsin nach Peking mitmachte und beim Fort Schiku, wo infolge des Mangels an Munition nur Offiziere und Unteroffiziere auf die Chinesen schießen durften, beim Feuern in knieender Stellung einen Shrapnelschuß ins linke Auge erhielt und dies verlor. In der Genesungs- und Erholungszeit stand v. Krohn zur Ver fügung des Che?s der Ostseestation und wurde dann der Minenversuchskommission zugeteilt. Jetzt hat der Kaiser ihm die Führung der 6. Kom panie der 1. Matrosendiviston übertragen. Für die Retter des verschüttet gewesenen Brunnenbauers Thiele in Grimma find 2765 Mark gesammelt worden und zur Verteilung gelaugt. Grabschändung. Die Braut des im Duell gefallenen Leutnants Blaskowitz batte den Grob Hügel auf dem Friedhof in Gumbinnen durch einen wunderschönen Kranz mit echten Goldquasten geschmückt. Zum Schrecken des Totengräbers war in der daraus folgenden Nackt der Kranz gestohlen. Zur Zeit werden Nackforschungen nach dem Dieb und dem Ver bleib des kostbaren Kranzes gehalten. Einen ungeahnten Tod sand der vor kurzem von Berlin nach Hettstedt verzogene Hüttenmaurer Suckow, der aut der Kupfer- kammerhütte mit Reparaturarbeiten in den Abzugskanälen beschäftigt war, hierbei von den Gasen betäubt und als Leiche an da? Tages licht befördert wurde. Er hinterläßt eine trauernde Witwe und zwei noch nicht schul pflichtige Kinder. Ergriffener Mörder. Der Räuber, der in der Mittwoch-Nacht die Eheleute Beckmann in Bergerhausen überfallen und dabei den Mann erschlagen hat, wurde in der Ve son des Ar beiters Alfred Reschum ermittelt und verhüttet. R. hatte sich schon seit einigen Tagen ohne Arbeit hermngetrieben und befand sich am Abend vor der Mordthat in einer Wirtschaft, in der sich der Berginvalide Beckmann mit dem Wirt darüber unterhielt, daß er ein fettes Schwein gut bezahlt erhalten habe. Diese Unterhaltung wurde von dem Mörder wahrge nommen und hat ihn zur That veranlaßt. Sein Komplice, denn nach Angabe der Pflege tochter des Ermordeten hat ein zweiter während des Ueberfalles auf dem Hofe Wache gestanden, ist noch nicht ermittelt worden. Zur Riesen-Defraudation in Budapest wird von dort noch geschrieben: Viktor Edler von Kecskemeti — dies der volle Name der zur Zeit „berühmtesten" Persönlichkeit Ungarns — der sich vor drei Tagen bekanntlich 588 OM Kronen in bar aus dem hauptstädtischen Säckel Die verlorene HochLer. 22 g Roman von C. Wild. (Fortsetzung.) Es war Marion, die Zofe der Kranken. Als fie van Beerbrouck erblickte, drehte fie fich zur Seile, aber er hatte sie schon erkannt, ob gleich er fich den Anschein gab, als sähe er fie nicht. In Wahrheit war ihm diese Begegnung höchst unangenehm, denn er wußte, oaß Wil helm Rasche vor Jahren von leidenschaftlicher Liebe für die scköne Marion geschwärmt und wiederholt die Absicht ausgesprochen hatte, ste zu heiraten, wenn er erst einmal ein reicher Mann geworden sei. Harry Wilson hatte ihm zwar die Versicherung gegeben, daß Rasche Hamburg verlassen habe, aber dem Engländer war nicht zu trauen, und wenn der andere mit Marion zusammentraf, dann ging er sicherlich nicht so bald von Hamburg fort. Mißmutig verließ van Beerbrouck das Carstensche Haus. Er dachte darüber nach, ob es nicht doch besser wäre, trotz Selmas leiden dem Zustande von Hamburg fortzugehen, viel leicht vorläufig nur nach Berlin; aber gerade jetzt wüHe fie wohl sehr schwer dazu zu be wegen sein. Als er seine Tochter aufsuchte, fand er fie so schwach und leidend, daß er den Gedanken an eine Reise, wohin es auch immer sei, sofort aufgab. Er teilte ihr seine Nachrichten mit, indem er schonend hinzusetzte, daß Nir Frau v. Carstens Leben doch Nicht alle Hoffnung geschwunden sei. Ein mattes Lächeln flog über Selmas bleiches Gesicht. Sie drückte ihrem Vater dankbar die Hand: „Wie gut du bist!" sagte sie leise, und diese wenigen Worte machten ihn überglücklich. Die Sorge wegen Rasche wurde Beerbrouck aber nicht los. Er beschloß zu Wilson zu gehen und ernstlich mit ihm zu sprechen. Die Dämmerung war schon hereingebrochen, als er die Treppe zu Wilsons Wohnung Hinanstieg; als er im ersten Stock stehen blieb, um Atem zu schöpfen, huschte eine Männergestalt eilig an ihm vorbei. Unwillkürlich hatte fich Beerbrouck dicht an die Wand gedrückt, aber sein Blick musterte dabei scharf den Fremden, der den Hut tief in die Stirn gedrückt trug. Trotz dieses Umstandes und des herrschenden Zwielichtes glaubte er den Mann zu erkennen. Wenn er fich nicht täuschte, war es Wilhelm Nasche, der bei Wilson ge wesen sein mußte. Selmas Vater wartete einige Sekunden, daun schlich er vorsichtig die Treppe hinab. Seinen Besuch bei Wilson gab er auf. Ihm schien es wichtiger, fich zu über zeugen, ob er den Mann richtig erkannt hatte. Auf der Straße hotte er ihn ein, doch hielt er sich in einer gewissen Entfernung von ihm. Ohne eine Ahnung, daß er verfolgt werde, schritt Rasche eilig dahin. Endlich bog er in eine schmale Seitengasse ein. Nur wenige Passanten waren in derselben zu sehen. Dem Manne entgegen kam eine dicht verschleierte, dunkel gekleidete Frau — fie schien ihn er wartet zu haben, denn fie schloß sich ihm an, und leise miteinander sprechend, gingen fie weiter. Sie verließen den eleganten Stadtteil und schlugen den Weg nach St. Pauli ein. Vor einer Malrosenkneipe machten fie Halt und nach kurzem Zögern traten fie ein. Van Beerbrouck folgte ihnen. Er hörte noch, wie der Mann ein paar Worte zu seiner Begleiterin sprach; beim Tone dieser Stimme schwand für den Lauscher jeder Zweifel — es war Wilhelm Rasche. Er wartete, bis die beiden die dunkle, un saubere Treppe yinangestiegen waren. Noch war er unentschlossen, was er thun sollte. Daß Harry Wilson ihn hintergangen hatte, war jetzt klar, aber zu welchem Zweck? Es gab eigentlich doch nur den einen, daß er die boshafte Absicht hatte, Rasche eines schönen Tages ihm ins Haus zu schicken — wahrschein lich wollten dann beide von ihm Geld erpressen — am Gelde lag ihm wenig, aber sein Kind sollte von all' diesen schmutz gen Dingen nichts wissen — Selma sollte durch nichts an die schlimme Vergangenheit ihres Vaters gemahnt werden. Jener Nasche durfte nicht die Schwelle des Hauses betreten, das seine Tochter be wohnte — lieber sprach er jetzt g'eich mit ihm und fand ihn mit einer Geldsumme ab. Ein derber Schlag auf die Schulter entriß ihn seinem Nachdenken. Rasche stand vor ihm und grinste ihn an. „Willkommen, alter Junge!" sagte er lachend. „Ein unverhofftes Vergnügen, dich wiederzusehen! Und wie fein du aussiehst — na ja, wenn man Glück hat — nicht jedem wird es so gut!" Ein dunkler Schatten glitt über Beerbroucks Gesicht bei der vertrauten Anrede des Vaga bunden. Doch bezwang er seinen aufsteigenden Zorn und sagte möglichst ruhig: „Wie kommst du denn hierher, Wilhelm? Ist dir der Boden drüben zu heiß geworden?" Der andere machte eine Grimasse. „Die Heimat lockt einen doch immer wieder," murmelte er; „aber ich möchte deine Fragen zmückgeben: Was thust du hier in dieser Kneipe? Das ist doch nichts für einen so feinen Herren wie du immer gewesen bist." „Ich machte einen Spaziergang und Kat ein, um mir ein wenig das Treiben hier an zusehen." „So, so," meinte der andere mißtrauisch, „derlei hast du doch drüben genug kennen ge lernt." „D'rum eben wollt' ich's mir auch hier einmal ansehen. Willst du eine Flasche mit mir trinken, Wilhelm?" Rasche zögerte einen Augenblick. „Na, meintwegen," sagte er dann, „wir wollen eins miisammen trinken, aber nicht da drinnen," er wies nach der Thür der Schankstube, aus der wüster Lärm ertönte, „wir wollen uns ein Extra-Zimmer geben lassen und bei einer Flasche von alten Zeiten plaudern." „Wie du w llft," versetzte Becrbrouck; es wunderte ihn, daß Rasche seine Begleiterin nicht erwähnte. „ Man rief nach dem Wirt und bestellte Ge tränk. Der vornehmen Kundschaft wurde bereit willig eine Hinterstube aufgeschlossen und die ehemaligen Genossen machten es fich bequem. Rasche verschwand für eine Weile und kebrte dann mit verdrießlichem Gesicht, unverständliche
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