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Politische Rundschau. Deutschland. *DieKönigin-WitweMargherita vonItalien ist zum Besuche des ihr ver wandten sächsischen Hofes in Dresden ein- gelroffen. * Am 1. Oktober tritt bekanntlich das Gesetz betreffend den Verkehr mitWein, wein haltigen und weinähnlichen Ge tränken in Krait. Das bisherige Weingesetz tritt dann außer Geltung. Unter anderen wird min auch Schaumwein, der gewerbsmäßig verkauft oder seilgebalten wird, eine Bezeichnung tragen müssen, welche das Land und eriorder» lichentalls den Ort erkennbar macht, in welchem er auf Flaschen gelullt worden ist. Jeder In haber von Kellergär- und Kelterräumen oder sonstigen Räumen, in denen Wein oder Schaum wein gewerbsmäßig hergestellt oder bebandelt wird, hat vom 1. Oktober an dafür zu sorgen, daß m diesen Räumen an einer in die Augen lallenden Stelle ein deutlicher Abdruck der haupt- sächlichsten Bestimmungen des neuen Weingesetzes autgehängt ist. * Der Reichstag hatte im Februar 1901 eine Resolution angenommen dahingehend, den Reichskanzler zu ersuchen, bei der nächsten AushebungderRekruten eine statistische Erhebung machen zu lassen, um die Ein- wirkungder Herkunft undBeschäfti- gnng der Gestellungsverpflichteten in bezug auf die M i lit ärb r au ch b ar k ei t feststellen zu können. Es wurde damals regierungsseitig aui die großen Schwierigkeiten solcher Statistik hingewieien. Die Heeresverwaltung wird nun im nächsten Arbeitsabschnitt des Reichstags ge fragt werden, ob und wie weit sie es habe er möglichen können, aus die im Reichstage ein stimmig zum Ausdruck gelangten Wünsche ein zugehen. * Das Reichs-Versicherungsamt hat eine die Jahre 1891 bis 1899 umsassende Statistik veröffentlicht. Die Organisation der Versicherungsan st alten hatte sich danach im allgemeinen wenig geändert, nur das Anwachsen der Büreau-, Kassen- und Kanzleibeamten von 578 im Jahre 1891 auf 1443 im Jahre 1898 gibt einen Begriff davon, in welchem Maße sich die Geschäfte der Ver sicherungsanstalten vermehrt haben. Die Hahl der Schiedsgerichte und der Beisitzer an ihnen enuhr eine Abnahme hauptsächlich durch die Zusammenlegung von Gerichten im Jahre 1895. Die Einnahmen aus Beiträgen zeigen eine stetige Zunahme von 94 Mill. Mk. in 1891 auf .127 Mill. Mk. in 1899. Insgesamt wurden von den sämtlichen Trägern der Versicherung 956 Mill. Mk. aus Beiträgen vereinnahmt. Eine wesentlich höhere Zunahme haben die Ausgaben erfahren, die von 15 Mill. Mk. im Jahre 1891 auf 79 Mill. Mk. im Jahre 1899 gestiegen find. *Die Ulmer Handelskammer beschäftigte sich in ihrer letzten Sitzung u. a. mit der Frage einer preußisch-württembergischen Eis enb ah ng emei ns ch aft. Sie hat sich gegen sehr wenige Stimmen für di^Herbei- tührung eines Anschlusses an Preußen ausge sprochen, und ihr Präsident wird im Aufirag der Kammer diesen Standpunkt auf dem am nächsten Donnerstag in Stuttgart stattfindenden würltembergischen Handelskammer-Tage ver treten. *Bei der Wahl der Wahlmänner der dritten Abteilung zum sächsischen Land- 1 a g erhielten im zweiten Wahlkreise (Leipzig) die Ordnungsparteiler 8, die Sozialdemokraten 35 Stimmen; im vierten Wahlkreise wurden 66 Sozialdemokraten und überhaupt keine Ordnungsparteiler gewählt. *Zur Erschließung Kameruns soll dort in allernächster Zeit mit den Vorarbeiten zum Bau einer Eisenbahn vorgegangen werden. Wie die .Kolonialztg.' meldet, hat sich ein Kon sortium für den Bau der Bahn Viktoria— Mundame gebildet. Oesterreich-Ungarn. * Die Offiziere des deutschen China- batatllons in Triest sind am Mittwoch in der Offiziersmesse des 97. österreichischen Regi ments bewirtet worden. In Wien soll auf Anordnung des Kaisers Franz Joseph die Fahne des deutschen Chincibataillons während dessen Wiener Aufenthalts in der Hofburg auf bewahrt werden. Frankreich. * Ein Gegenbesuch Loubets beim Zaren ist schon wiederholt angekündigt wor den. Neuerdings will die Zeitung ,Echo de Paris' wissen, daß Präsident Loubet die Einladung des Kaisers von Rußland angenommen habe und im April nächsten Jahres mit dem Minister präsidenten Waldeck-Rousseau, dem Minister des Auswärtigen Delcassö und dem Generalissimus Brugäre nach Petersburg reisen werde. Der Dschaggahäaptlias Hchangali, welcher infolge der unter den Negerstämmen im Kilimandscharo-Gebiet (Deutsch-Ostafrika) neuerdings sich wieder bemerkbar machenden aufständischen Be wegung „amismüde" geworden ist und die deutsche Regierung gebeien hat, ihn von seiner Häuptlings- Würde zu befreien. England. * Die Ausgaben für den Trans vaalkrieg überschritten das KriegSbudget bereits um 375 Millionen. Wegen dieser Budget überschreitung wird das Parlament wahrschein lich bis Ende Januar vertagt werden. Italien. *Der Papst fühlt sich seit einigen Tagen etwas unwohl, doch soll keine ernst liche Erkrankung vorliegen. * Fürsten, so sollte man meinen, sind die allerletzten, in denen man Anhänger der „Pro paganda der That" zu vermuten hat. Unsere moderne Zeit jedoch hat auch das zuwege ge bracht. Theoretischen Anarchismus predigt ja schon seit Jahren ein Fürst von unanfechtbarem Stammbaum; der in London lebende Fürst Krapotkin. Nun ist der russische Adel einen Schritt weiter gegangen und hat auch zum „praktischen" Anarchismus Mitglieder seiner Kaste beigestellt. In Rom wurden Fürst und Fürstin Nakach idze, die als gefährliche Anarchisten durch Dekrete ausgewiesen waren, verhaftet. Nakachidze war im Jahre 1887 in Rußland wegen eines Anschlages gegen das Leben des Kaisers von Rußland zum Tode verurteilt worden, nachdem er im Jahre 1886 weaen Fabrikation von Bomben aus Frankreich ausgewiesen worden war. Die Verhafteten werden an die Schweizer Grenze gebracht werden. Der Fürst ist im höchsten Grade schwindsüchtig. * Die Pest in Neap el bringt Deutsch land zunächst nicht in Gefahr; die Seuche könnte zu uns nur durch die Häfen ge langen, und zu deren Schutz genügen die Aus- lühnmgsbestimmungen des Gesetzes zur Be kämpfung gemeingefährlicher Krankheiten vom 30. Juni 1900. An der Hand dieses Gesetzes ist es bisher möglich gewesen, bei eingeschleppten PestMen die Ansteckungsgefahr rechtzeitig und wirksam zu unterdrücken. Ueberdies ist man den Hauptoerbreitern der Pest, den Ratten, gerade in den Hafenstädten seit Jahr und Tag vernichtend entgegengetreten. Balkanstaaten. * Königin Draga ist von der Ernennung ihres Bruders Nikodemus Lunjevitza zum serbischen Thronfolger vorläufig ab- gekommen, weil sie Kenntnis von der Belgrader Garnison erhalten bat, welche dieser Er nennung offenen Widerstand entgegen setzen würde. Amerika. * Krügers Hoffnungen aui eine Inter vention Roosevelts scheinen illusorisch zu sein. Der Washingtoner Berichterstatter des ,Daily Chronicle' will wissen, daß, wenn Krüger eine Sondergesandtschaft an Roosevelt schicken sollte, diese durchaus keine Wirkung haben würde; Roosevelt sei entschlossen, die Haltung strenger Neutralität keineswegs auszugeben; Krüger könne keine Unter stützung seitens der Ver. Staaten erwarten. *Die Hinrichtung des Präsidenten mörders mittels Elektrizität soll Ende Oktober oder Anfangs November stattfinden. Afrika. * Der Aufstand derKapholländer greift immer weiter um sich. Einer Brüsseler Devesche der ,Daily Mail' zufolge empfing Präsident Krüger Berichte, daß bereits 15 000 „Rebellen" in Waffen stehen. Ueber den Anarchismus in den Ver. Staaten wird aus New Jork ge schrieben: In keinem zivilisierten Lande der Welt dürfte es wohl schwerer sein, wirksame Maßregeln gegen die Anarchisten zu finden, als in den Ver. Staaten. Der Sondergesetzgebung steht zunächst entgegen, daß die Strafjustiz Sache der in dieser Hinsicht völlig souveränen Einzelstaaten ist. Um den Kongreß zum Erlaß allgemeiner, für alle Einzelstaaten gleichmäßig geltender polizeilicher und strafrechtlicher Gesetze gegen den Anarchismus zu ermächtigen, be dürfte es also erst einer Aenderung der Ver fassung der Ver. Staaten. An ein solch tief einschneidendes Vorgehen ist nicht zu denken. Man bliebe demgemäß auf die Gesetzgebung der verschiedenen Einzelstaaten angewiesen. In Chicago, Staat Illinois, hatte der Richter, der 1868 in dem Prozeß gegen die der Teil nahme an dem Dynamitbombenwurf auf dem Haymarket angeklagten Anarchisten oder Sozia listen den Vorsitz führte, angesichts des Um standes, daß der Bombenwer er selbst niemals entdeckt wurde, ein unmittelbarer Zusammen hang der Angeklagten mit demselben also un möglich nachweisbar war, den Mut, aus dem alten englischen Oommon lov, welches in Illinois und einigen anderen Staaten für die Rechtsprechung immer noch gültig ist, den Grundsatz von der intellektuellen Urheberschaft in Anwendung zu bringen. Seine Rechts belehrung für die Geschworenen ging dahin: Wenn Leute durch Wort oder Schrift systema tisch und andauernd zur Begehung eines Ver brechens gewisser Art aufforderten und es wird dann von irgend jemand dieses Verbrechen in der so empfohlenen Weise begangen, so find diejenigen, welche in der besagten Weise auf forderten, in demselben Grade schuldig, wie der unmittelbare Verüber des Verbrechens, gleich gültig, ob letzterer bekannt ist oder nicht. Die Geschworenen handelten demgemäß. Das Urteil und damit auch das Zurecbtbefteben der intellektuellen Urheberschaft in Illinois wurde vom Staats-Obergerichi bestätigt. Das Ober- Bundesgericht, an welches appelliert wurde, lehnte es ab, sich mit dem Urteil zu belassen, da in dem Prozeß keine die Verfassung der Ver. Staaten betreffende Frage berührt worden sei. Im Staate Illinois sand man also im alten englischen Recht ein Mittel, welches, wenn es in allen anderen Staaten der Union zur Anwendung gebracht werden könnte, obne Zweifel zur schleunigen Ausrottung des An archismus in Amerika ausreichend sein würde. Most, der als Urheber der Chicagoer Bomben verschwörung galt, befand sich in New Jork in vollster Sicherheit. Der Chicagoer Staatsanwalt machte angesichts des Umstandes, daß in New Dork die intellektuelle Urheberschaff in der Straf justiz nicht gilt, gar nicht den Versuch, Most nach Illinois ausgeliefert zu erhalten. Es ist aber völlig ausgeschlossen, daß alle Staaten, oder auch nur einige von ihnen, fick jemals dazu ver stehen würden, diejenigen Strasrechtsgrundsätze ausznnehmen, durch die allein es möglich war, die Chicagoer Anarchisten zum Tode zu ner- urteilen. Die intellektuelle Urheberschaft gehört einer längst vergangenen Zeit an. Daß nicht schon längst ein anarchistisches Attentat aui den Präsidenten der Ver. Staaten verübt wurde, ist Wunders genug. In der Fabrikstadt Patterson er klärt der Polizeichef ausdrücklich, daß die dortigen italienischen Anarchisten Fürstenmorde predigen und planen könnten, soviel sie Lust hätten, und daß es Amerika nichts anginge, wenn sie die Begehung anarchistischer Verbrechen im Aus land vorbereiteten. Ja, dieser amerikanische Ge setzeswächter meint sogar, es gäbe in Patterson überhaupt keine Anarchisten, sondern nur närrische Maulhelden. Und daS trotz der That- fache, daß der Mörder des Königs Humbert aus Patterson entsandt wurde. Nun die Ameri kaner durch das Attentat auf Präsident Mac Kinley am eigenen Leibe erfahren haben, wozu die im Namen der Preß-, Rede- und Ver- schwörungssreiheit geübte Duldsamkeit gegen das Verbreiten anarchistischer Lehren führt, dürsten sie doch wohl die Thorheit ihres Grund satzes begreifen lernen, daß das bloße Aufreizeu zum Verbrechen nicht strafbar sei. Es wird nicht angehen, sich über die Schmach des i« eigenen Lande großgezogenen Anarchismus da mit hinwegzusetzen, daß man, wie es üblich ist, die Anarchisten als importierte Ausländer brand markt. Man hat es in Wahrheit schon längst mit echt einheimischem Gewächs zu thun, wie denn auch Czolgosz ein geborener Amerikaner ist. Freilich haben die Amerikaner ein gutes Recht darauf, sich ausländische Anarchisten nach Kräften vom Leibe zu halten. Bisher aber haben sie ihnen ein Asyl geboten. Jetzt ist daS Verlangen, Anarchisten von der Einwanderung auszuschließen, ein allgemeines geworden. Uebel das Wie gibt man sich indessen ebensowenig Rechenschaft wie über die von allen Seiten stürmisch erhobene Forderung, den Anarchismus im eigenen Lande gesetzlich zu bekämpfen. So lange es die Amerikaner unter ihrer Würde halten, sich internationalen Maßregeln anzu- schließen, so lange werden sie auch nicht die geringste Aussicht haben, sich von dem Krebs geschwür des Anarchismus zu befreien. Uon Uah und Fern. Jagdglück des Kaisers. Der Kaiser er legte am Donnerstag in Rominten auf der Frühpirsch im Revier Goldap einen kapitalen Zwanzigender. Die Typhusseuche in Gelseukirche« und Umgegend ist noch immer im Wachsen be griffen. In langer Sitzung hat die Gesundheits behörde in Gelsenkirchen ihre Maßnahmen ge troffen. In Schalke, Wattenscheid, Ueckendorf, Bismarck und Erle find neue Fälle schwerer Form vorgekommen. In den Krankenhäusern Gelsenkirchens find 338 Kranke untergebracht, von denen die meisten hoffnungslos danieder liegen. Hunderte befinden sich in der Um gebung in Privatpflege. Da auch durch die Straßenbahnen der Krankheit eine Ver« schleppungsgeiahr droht, so werden diese Wage« täglich desinfiziert. Das alte Gelsenkirchener Rathaus soll als Krankenhaus eingerichtet werden- schönen Sommertag waren sie fast ununter brochen beisammen gewesen. Sie hatten ein ander gleich damals so gut verstanden, daß sie mit Bedauern schieden. Selma hatte noch oft an ihn gedacht, und wenn auch sein Bild allmählich in ihrer Seele verblaßte, vergessen hatte sie ihn nie. Den folgenden Sommer traf fie Baron von Bohlen in Ostende. Es war natürlich, daß die flüchtige Reisebekanntschaft erneuert wurde. Bald war der Baron Selmas unzertrennlicher Begleiter; fie glaubte nicht mehr leben zu können ohne ihn, fie liebte ihn und fie wußte sich von ihm wieder geliebt. Und doch sprach Baron von Bohlen nie davon, daß er fie liebe und zu seiner Frau machen wolle, obschon ihm der Weg zu einer Verbindung mit ihr offen stand. Van Beer brouck liebte seine Tochter viel zu sehr, um ihr irgend einen Wunsch zu verweigern, auch war er dem Baron wohl gewogen, weshalb zögerte also dieser? Daran dachte Selma damals freilich nicht. Sie fühlte sich glücklich, so wunschlos, daß fie keine Veränderung ersehnte. Selbst dann nicht, als ihr Bohlen einmal in leidenschaftlicher, überstürzter Weise seine Liebe gestand. Diese Heimlichkeit war so süß, so beglückend, daß fie meinte, hätten andere um ihr Glück ge wußt, es wäre minder schön gewesen! Einige Male war fie mit ihm allein auf dem Strande zusammen gekommen. Ach, fie erinnerte sich so gut des letzten Abends, von dem fie allerdings nicht wußte, daß es in jeder Beziehung der letzte sein sollte. einer hochmütigen Bewegung wandte sich Selma ab; was auch in ihrem Herzen vorging, er sollte es nicht erraten. 3. Frieda befand sich schon seit Tagen in leb hafter Erregung; Walter hatte geschrieben, er werde demnächst kommen und in Berlin ein Konzert geben. Da er ja doch ein Verwandter von ihr war, so konnte schließlich Herr van Beeröronck keine Einwendung erheben, wenn er fie besuchte- Frieda erzählte Selma von Waller und die junge Dame zeigte viel Teilnahme für den Künstler. „Ihr Vetter muß auch bei uns spielen," sagte fie zu Frieda; „wir wollen einen Ge- , sellschailsabend veranstalten und ihn einladen. Da Sie mit ihm au'gcwacbsen find, wie Sie sagen, so müssen Sie sich doch freu ui, um wiederzusehen. Es ist recht eigcnwmüch, daß wir selbst so gar keine Verwandle Naben I Ich habe Papa schon öfter darum gefragt, aber er sagte mir immer, die BeerbrvuckS seien im Aussterben begriffen. Er spricht nicht gern- davon und ich vermute daher, daß er m t seinen Verwandten sehr unliebsame Erfahrungen gemaSt haben mag." Eines Tages bei Tische erwähnte Selma ihrem Vater gegenüber den bevorstehenden Besuch des jungen Künstlers. Als fie Walters Namen nannte, fuhr Beerbrouck saft heftig auf. . . .. . ... Wie... wie heißt der zunge Mann ? fragte er hastig So selig, so beglückend hatte fie dagesessen, ihren Kopf an seine Schulter geschmiegt — und dann am nächsten Tage der Schmerz, die Enttäuschung! Lange Zeit danach noch hatte fie auf eine Botschaft, ein aufklärendes Wort gehofft; ver gebens — er hatte fie treulos verlassen, ver gessen ! Selmas Gesundheft war nie eine sehr teste gewesen. Schon als Kind hatte fie an Nerven- krämpsen gelitten, die von Zeit zu Zeit bald stärker, bald schwächer auftraten. Nun packte das alte Uebel sie mit erneuter Gewalt. Sie litt unbeschreiblich, geistig und körperlich, es war eine entsetzliche Zeil für fie. Nach so vielen Kämpfen und Leiden kam schließlich die Resignation, sie hatte sich be- schieden und nun erschien Harry Wilson und riß mit roher Hand die Wunde wieder auf. Selma fühlte es, sie liebte den treulosen Mann noch immer, sein Anblick machte ihr Herz erbeben, all' das entschwundene Glück stieg wieder vor ihr auf und wehmütig fragte fie fich, ob er fie denn wirklich schon ganz vergessen habe. Die Vorstellung war zu Ende. Noch einen letzten Blick warf Selma in die Loge hinüber. Sie sah, wie Bohlen den Mantel um die Schultern seiner Frau legte. Er that es mit ruhiger Gelassenheit, da plötzlich zuckte er zu sammen und wurde bleich. Er hatte Selma erblickt, die ausgestanden war und dicht an der Brüstung der Loge stand. Er neigte tief sein Haupt; war es ein Gruß, ein Zeichen des Wiedererkennens? Mit Die verlorene Tochter. Roman von C. Wild. (Fortsetzung.) Um die Wahrheft zu sagen, Selma hatte gar nicht gehört, was der Graf sprach. Sie dachte an Bohlen und ob er wohl mit jener kalten, hoch mütig blickenden Frau glücklich sein konnte. Sie war jung, aber reizlos und ohne Anmut. Nein, es war nicht möglich, daß ein Mann wie Bohlen diese Frau liebte! Die ersten Töne des Vorspieles erklangen. Der Graf verabschiedete fich, auch die Wilsons gingen. Tiefatmend lehnie fich Selma zurück, mit dem Fächer ihr Gesicht verdeckend. Sie hatte fich tapfer gehalten und war stolz darauf. Sie hatte es fich ja fest vorgenommen, ihr schwaches, thörichtes Herz sollte ihr keine Streiche mehr spielen. Mutig wollte fie das Unabänderliche tragen, schon ihrem Vater zu liebe. Seinetwegen wollte fie leben, denn fie wußte, fie war das Teuerste, was er auf Erden besaß. Durch den verdunkelten Saal spähte fie nach Bohlens Loge hinüber. Wie fahl und blaß in dem Halbdunkel das Gesicht der Baronin her vorsah — steif und unbeweglich saß die junge Frau da, fie schien den Vorgängen auf der Bühne nicht viel Interesse abzugewinnen. Auch Selma achtete dessen nicht, was da unten vorging. Ihre Gedanken schweiften zurück zu jener Zeit, da fie glücklich war oder es zu sein vermeinte. Vor ungefähr zwei Jahren hatte fie den Baron auf einer Rhein fahrt kennen gelernt. Einen ganzen, langen,