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Als er erwachte, griff er sich an den Hopf, als habe ein böser Tranni ihn verwirrt, dann aber erinnerte er sich, was vorgesallen Ivar, und vergrub das Gesicht in die Kissen. Die Rvuleaux vor Olgas Fenstern waren herabgelassen — sie schlief wohl noch. Sein Auge nahm einen angstvollen Aus druck an. Henrik befand sich im Garten, eifrig damit beschäftigt, Kies zu fahren für den Bau einer Eisenbahn, die er über den niedrig gelegenen Nasen am Teich anlegen wollte. Der Vater blieb einen Augenblick stehen, um ihm zuzusehen, wobei der Ausdruck seines Gesichts sich milderte. Dann setzte er seinen Weg fort, aus Furcht, daß der Knabe seiner gewahr werden könne. Sein Gesicht war erdfahl, während dunkle Schatten unter seinen Angen lagerten; er sah so müde und gebrochen ans, daß mehr als einer sich nmwandtc, um ihn anzusehen, und im Sitzungssaal beantwortete er die zahlreichen Fragen nach seinem Befinden dahin, daß er sich unwohl fühle. Als er am Richterlisch Platz nahm, flog ein Zittern durch seine Glieder, und er griff mit der Hand um sich, wie um eine Stütze zu suchen — aber es war nur ein vorübergehendes Schwäche, gefühl. In wenigen Minuten war er wieder der alte, ruhig und klar im Denken und mit dem ihm eigenen Scharfblick und der Menschenkenntnis, die sein Amt erheischt. In einem abgelegenen Restaurant, das nur selten von Leuten aus seinen Kreisen besucht wurde, speiste er zu Mittag. Er'war menschenscheu geworden und fürchtete sich vor bekannten Gesichtern, wollte außerdem die Begegnung mit seiner Gattin so lange hinaus schieben, wie möglich. Wie er ihr oder sonst einem Menschen Hinfort in die Augen würde sehen können, das begriff er nicht. Als er nach Hause ging, machte er einen weiten Umweg — einen Umweg, den er in letzter Zeit ost gemacht, nämlich an der Billa vorbei, die Walborg bewohnt halte. Jetzt stand das Haus verlassen da, sah aber mit seinen weißen Fenstervorhängcn und den Blattpflanzen und Blumen auf dem Fenstersims so freundlich aus, daß der Assessor mehr als einmal versucht hatte, sich ein zubilden, daß die Besitzerin noch dort wohne, oder bald dorthin zurückzukehren gedenke. Das hübsche kleine Gebäude mit seinen Türmchen und Karnaps lag von Klematis und wildem Wein umrankt da. Unter halb der Treppe war ein Springbrunnen, von großen Muscheln und Blattpflanzen umgeben. Die Rasen waren glatt wie Sammet, und in den Beeten blühten Pelargonien, blutrote Fuchsien, späte Rosen und Levkojen, Astern und andere Blumen des Spät sommers. Die Gitlenhür, die von der Landstraße in den Garten führte, war immer nur vermittels eincs Hakens geschlossen, und der Assessor war ost hineiugegangen und hatte Stunde für Stunde lies im Boskett auf einer von Flieder überschatteten Nasenbnnk gesessen. Es war so friedvoll still hier, so kühl und frisch, so harmonisch — ihr selbst so ähnlich — und mehr als einmal halte er seine Ruhe, seinen Seelenfrieden in diesem verborgenen Erben winkel wieder erlangt, wo er sich ihr nahe suhlte. Heute that es ihm mehr, als je. Not, dies Mittel zu probieren. Schon von ferne sah er indessen, daß vor dem offenstehenden Thor ein großer Möbelivagen hielt. Auf den Gartenwegen nnd auf der Landstraße lag Stroh und Spreu herum, aus der Veranda und unterhalb derselben standen große Kisten, die Housthür war offen, und Arbeiter gingen aus und ein. Die weißen Fenster- Vorhänge waren verschwunden, nnd die großen, leeren Fenster glotzten ihn Ivie boshafte Augen an. Wie angewurzelt blieb er stehen. Er hätte sich sagen können, daß die Billa von anderen bewohnt werden würde, und daß Walborgs Sachen weggeschafft werden müßten, aber dies war doch eine feste Bestätigung, daß sie fort war und nicht mehr zurück kehren werde. Er hatte cs ja gewußt, aber es kam ihm doch so überwältigend, so unvorbereitet — angegriffen und zermartet wie er war. An die Arbeiter richtete er einige verworrene Fragen nnd wußte kaum, Ivas sie ihm antworteten; aber später erinnerte er sich, daß sie ihn sonderbar angestarrt hatten, als er ohne weiteres an ihnen vorbei ins Haus gegangen war. Nach und nach wurde es ihm klar, was die Leute gesagt hatten. Konsul B. habe die Wohnung ans mehrere Jahre ge mietet, und die Sachen von Fräulein Lilius sollten teils im Speicher untergebracht, teils ihr nachgeschickt werden — sie sei im Auslande, wo sie hinfort wohnen werde. Bei seinen früheren Besuchen hatte er sich mehrmals an die Fenster geschlichen und versucht, hineinzulngen, um zu sehen, wie sie eingerichtet gewesen war. Wäre er nur einige Stunden srühcr gekommen! Jetzt war nichts mehr da, was an sie erinnerte, und ihr Heim war durch ihn und seinetwegen von hier verlegt. Als er fort ging, lenkte er seine Schritte dem Hafen zu. Er that es, ohne es selbst recht zu wissen; es war, als sei es ein unwiderstehlicher innerer Trieb, dem er folge. Der Tag hatte sich sonnig eingelassen, nach und nach aber der Himmel sich nmwölkt, doch brach die Sonne manchmal durch, und es war drückend heiß. Der Kahn lag am User und die „Arab" draußen aus der Reede. Gerade als er sich anschickte, hinausznrndern, kam Henrik gelaufen, so rasch ihn feine Beine tragen wollten. „Darf ich mit?" keuchte er. Er hatte den Vater von ferne gesehen und war möglichst schnell gelaufen, um nicht zu spät zu kommen. „Nein!" versetzte der Assessor kurz, aber der Knabe ließ sich von dem barschen Ton nicht einschüchtern. „Aber Dich hinausrudern, Papa, darf ich doch wohl?" Das halte der Vater ihm niemals verweigert. Es verdroß ihn, daß der Junge ihm in die Quere gekommen war, aber dennoch antwortete er, wenn auch widerwillig mit „ja". Das Segelboot wurde klar gemacht, und Henrik hals, so gut und so viel er konnte; als ihm aber geheißen wurde, wieder in den Kahn zu steigen und nach Hause zu rudern, stahl sich seine kleine Hand in die große des Vaters, und er sagte: „Ich dürfte ein andermal mitsahren, sagtest Du gestern, Papa — heute ist ein andermal." „Nicht heute abend," antwortete der Assessor unfreundlich, bereute es aber sogleich. Die kleine Hand lag so lebenswarm, so zutraulich und ohne Furcht in der seinigeu, daß er davon gerührt wurde, und so unglücklich und eintönig stthlte er sich, daß er es als eine Linderung empfand, ein menschliches Wesen in seiner Nähe zu haben. „Eine gesährliche Fahrt kann es wohl nicht werden" — leider! Er wußte, daß er es gewünscht hatte. Der Himmel war aller dings umwölkt, es wehte aber nur eine mäßige Brise, und wenn auch Regen kommen sollte, so hatte das nichts auf sich, waren doch Oelröcke an Bord. Uebrigens kümmerte ihn Wind und Wetter wenig. Aufs Meer hinaus — von allem weg — zu kommen, sich selbst zu vergessen und etwas von der Last, die ihn drückte, abzuschütteln, war sein einziger Gedanke. Der Kahn wurde festgemacht, wo das Segelboot gelegen hatte, und Henriks Gesicht strahlte vor Freude, als die „Arab" bei günstigem Winde mit geblähten Segeln zwischen Schären und kleinen Inselchen dnhinstrich, dem Meere zu. Die schreienden Mövcn, die sich von dem dunkeln Gewölk scharf abhoben, und der Gischt, der um den Bug emporspritzte, nahmen die Augen und die Gedanken des Knaben ganz in Anspruch, während er still dasnß, instinktmäßig fühlend, daß der Vater nicht zum Sprechen aufgelegt sei. Der Assessor atmete leichter. Die dunklen, schnumgekrönlen Wellen um ihn her waren alte liebe Freunde, denen er seine Gedanken anvcrtrauen konnte, und die Worte Walborgs, daß das Wasser auch auf sie eine anziehende Kraft ausgeübt habe in gewissen Stunden des Lebens, wo ihr dieses unerträglich er schienen Ivar, kamen ihm wieder in den Sinn. Er stöhnte so tief, daß Henrik zusammenschreckte und um sich blickte, ungewiß, woher der Laut gekommen war. Ja — wenn der Knabe nicht mit gewesen wäre! Der Assessor fragte sich, Ivas dann wohl geschehen wäre, denn das, was am vorhergehenden Abend vorgesallen war, hatte ihn so vollständig gebrochen, daß es ihm unmöglich schien, weiter zn leben. Er hatte den Glauben an sich selber verloren. „Dich friert wohl nicht, Kind?" fragte er nach einer Weile. „Nein, gar nicht." „Hülle Dich aber doch auf alle Fälle in den Rock, der in der Vorder-Pflicht liegt; es ist jetzt kalt." Die Temperatur Ivar in kurzer Zeit wirklich um mehrere Grade gesunken. „Und Du, Papa?" fragte der Knabe, ihm einen Mantel reichend. „Nein," wehrte er ungeduldig ab und versank von neuem in Grübeleien. Aus aller Gewohnheit nnd mit sicherer Hand hantierte er mit den Schoten, dachte aber nicht daran, nach Hause zurück- zukehren und achtete auf nichts um sich her. „Papa!" Der Assessor hörte nicht. „Papa! Papa!" Es klang so ängstlich und bittend zugleich. „Was giebt's?" Er war ärgerlich über die Störung, aber der Junge sah so erschrocken aus. „Sieh doch! Es sieht so garstig aus," rief Henrik, nach hinten zeigend, und die Blicke des Vaters folgten der Richtung der kleinen Hand. Wo hatte er seine Gedanken, seine Augen gehabt? Die Wolken halten sich zn einer riesigen schwarzen Wand zusammen geballt, die mit entsetzlicher Geschwindigkeit hernusstieg, und mit dem Auge des geübten Seemannes sah der Assessor sofort, was kommen würde. Wäre er nur allein im Boot gewesen! Jetzt hatte er, was er im Geheimen gewünscht — Ivas er gewollt hatte. Aber der Knabe! Der Knabe!