Suche löschen...
Allgemeiner Anzeiger : 20.03.1901
- Erscheinungsdatum
- 1901-03-20
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id181900449X-190103208
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id181900449X-19010320
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-181900449X-19010320
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Bestände der Stadtbibliothek Bautzen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Allgemeiner Anzeiger
-
Jahr
1901
-
Monat
1901-03
- Tag 1901-03-20
-
Monat
1901-03
-
Jahr
1901
- Titel
- Allgemeiner Anzeiger : 20.03.1901
- Autor
- Links
- Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
WMNche Rundschau. Die chinesischen Wirren. * Ein geheimes kaiserliches Dekret soll den Vizekönigen Liukunyi und Tschang- tschitung besohlen baben, die Unterhand lungen wegen des Mandschurei-Ab kommens an Stelle des erkrankten Li- Hung-Tschcmg weiter zu Wren. Anderseits wird berichtet, eine Versammlung hochgestellter Chinesen hätte ein Memorandum an den Hof gerichtet, in dem die Ansicht zum Ausdruck ge bracht wird, daß, wenn das Abkommen mit Rußland nicht abgewiesen werden würde, die Austeilung Chinas unvermeidlich sei. *Eine Meldung des ,Sun' ans Peking be richtet, Rußland sei augenscheinlich bestrebt, das Konzert der Mächte zu sprengen, indem es Cbina beistebe, terner, daß Rußland eiligst Streitkräite heranziehe, um eine Demon stration im Golf von Tschili zu machen, um insbesondere Japan zu warnen. *Die Verluste den deutschen Flotte einschließlich der Scebataillone in Cbina betragen nach amtlichen Angaben bisher 14? Tote oder Verunglücke, 132 Schwer- und Leichtverwundete. Deutsckiland. * Zum Bremer Vorfall verzeichnet die .Weserztg.' eine Mitteilung, nach welcher ein Schloss-rgeselle am Mittwoch vor dem Unter suchungsrichter ausgesagt haben soll, daß er die von Welland bei dem Murs' nach dem Kaiser benutzte Lasche am Abend des Kaiser besuchs auf dem Domhof- verloren habe. Damit bestätige sich, sügt das Blatt hinzu, Weilands Behauptung, das; er die Lasche aus dem Domboi gestinden habe, wo auch eine Zeugin sic vorher Hai liegen sehen. * Der Z o l lt ar i s en t w ur f unterliegtnach der ,Dtsch. Tagesttg.' gegenwärtig kommissarischen Beratungen zwischen den einzelnen Reichsämtern und einwlnen Stellen der Preuß. Regierung. Diese Beratungen werden vermutlich noch zwei Wochen in Anspruch nehmen, dann werde der Entwurf wieder den verbündeten Regierungen zugesandt werden. *Jn den Reichslanden wird gegen wärtig für eine Vertretung der Reichslande im Bundesrat vetitioniert. Dazu schreibt die ,Köln. Ztg/: „Eine derartige Berechtigung für die Reichslande würde in letzter Linie nichts weiter sein als eine Vermehrung der vreußischen Stimmen, denn der Kaiser kann unmöglich die bundesrätliche Vertretung für die Reichslande anders konstruieren wollen als für das Königreich Preußen, und für beide beruht die Bestimmung schließlich aus der per sönlichen Entscheidung des Monarchen. Die Vreußischen und reichsländischen Vertreter im Bundesrat würden nicht gegeneinander stimmen können " * Die Nachricht, das Generalkommando habe den katholischenMilitärgeistlichen verboten, polnische Predigten für die Soldaten polnischer Zunge abzuhalten, ist nach der ,Schics. Ztg/ in dieser Form falsch. Den katholischen Militärgefftlichen steht es nach wie vor frei, den polnisch sprechenden Soldaten die Predigten in ihre Muttersprache zu über setzen. so lange diese Soldaten dec deutschen Sprache nicht vollständig mächtig sind. Sobald aber sestgestellt ist, daß die Soldaten polnischer Sprache das Deutsche vollständig verstehen, sollen die Predigten und Gebete nur noch in deutscher Sprache stattfinden. * Aus Deutsch-Südwestafrika wird von einem erneuten Ausbruch der Rinder pest gemeldet, deren Auftreten im vorliegenden Falle um so bedenklicher ist, als es sich dabei um geimpfte Tiere handelt. Der neue Herd der Seuche ist die Farm „Hoffnung" der Siedlungsgesellschait für Deutsch-Südwestairika. Der Umstand, daß die von der Pest ergriffene Herde geimpft war, wird zu erneuter Nach- vrüfung der Zuverlässigkeit und des Wertes der Impfungen Anlaß geben. Frankreich. * Die große französische Kanal- Vorlage, die der Deputiertenkammer zuge gangen ist, fordert zur Verbesserung von fünf Schiffahrtsstraßen 32,8 Mill., zum Neubau von 10 Kanälen 365,3 Mill, und zur'Ver- besscrung von 10 Seebären 90,5 Mill., im ganzen also 488,6 Mill. Mk. Zur Erläuterung hebt die .Nordd. Allg. Z/ hervor, daß die Zeit, in der die Bauten zur AusWrung kommen sollen, auf 16 Jahre festgesetzt ist. Zum Ver gleich sei daran erinnert, daß die dem Preuß. Abgeordnetenhaus vorliegende neue Kanalvorlage einen Gesamtaufwand von 389 Mill. Mk. er fordert und in 15 Jahren zur Ausführung kommen soll. England. *Die Zivilliste König Eduards ist nm etwa 100 000 P»und auf 470 000 Pfund (9 400000 Mk.) erhöht werden soll. Auch der erhöhte Betrag ist un Vergleich zn der Zivilliste der Souveräne anderer Groß staaten noch gering. Kaiser W lhelm bezieht seit einigen Jahren in seiner Eigenschaft als König von Preußen 15 Mill. Mk. Selbst verständlich sind die sonstigen Einküns.e des Königs von England aus Kronguiquellen sehr bedeutend. Kettjamin Harrison, der frühere Präsident der Ver. Staaten, ch. Spanien. *Die Au s st a n d s b e w e g u n g in der Provinz Katalonien nimmt einen bedenk lichen Charakter an. Die Zahl der Streikenden im Ter Hal, das eine Anzahl Fabrik orte umfaßt, beträgt 15 000. Der Streik be gann in Manllen, nachdem einige Arbeiter aus Spinnereien, die infolge des Verlustes der Kolonien ihre Produkuon vermindert hatten, entlassen worden waren. Er dehnte sich sodann auf die anderen Ortschaften aus. Der Fabrik herrenverband beschloß, vorläufig alle Spinne reien und Webereien zu schließen. Rußland. * Der russische Unterrichts-Minister Bogo lepow ist am Freitag an den Folgen der Verwundung gestorben, die ihm am 27. Februar der frühere Student Karpowitsch durch einen Revolverschuß beibrachte. Die Kugel ist, wie seiner Zeit gemeldet, in den Hals gedrungen; eine neue Operation war noch ge plant, es war aber zu spät. *Zu den russischen Studenten unruhen wird aus Petersburg gemeldet: Mehr als 70 Professoren der Universität Moskau wandten sich in einer Proklama tion an die dortigen Studenten, in welcher sie diese auffordern, sich von Leuten, die in keiner Verbindung mit der Universität stehen, nicht verleiten zu lassen, und sie als Freunde und Kollegen bitten, ihre Studien wieder auf zunehmen. Amerika. * Der frühere Präsident der Ver. Staaten, Harrison, ist in Indianapolis gestorben. Harrison wurde 1888 als repu blikanischer Kandidat zum Präsidenten gewählt. Bei der Neuwahl 1892 unterlag er seinem demokratischen Gegner Cleveland. Harrison war ein entschiedener Vertreter der Monroe-Doktrin. Unler seiner Präsidentschaft trat auch die Mc. Kinley-Bill in Kraft, dir besonders dazu diente, die amerikanische Industrie auf allen Gebieten selbständig zu machen. Afrika. * Ueber den Stand der Friedens unterhandlungen im Boerenlande ist immer noch nichts Bestimmtes zu melden. Eng land soll nach dem letzten Ministerrat zu weitgehenden Zugeständnissen an die Boeren bereit sein, unter der Bedingung, daß ein sofortiger Fri ed ens schluß herbeiaeführt werde. Die Ursache davon ist eine plötzlich drohende Wendung in Ostasien und die scharfe Spannung der russisch-japani schen Beziehungen. Asien. * Da ein befriedigender Kompromiß zwischen dem Oberhanse von Japan und dem Ministerium (in Sachen der javanischen „Chinavor- lage") nicht möglich gemacht werden konnte, griff der Kaiser ein, ließ den Präsidenten des Oberhauses zu sich kommen und eröffnete ibm, es sei sein kaiserlicher Wunsch, daß die Stenergesetze angenommen würden. Die Mitglieder des Oberhauses gaben daraufhin die Absicht kund, die Steuergesetze zn erledigen. Ans dem Reichstage. Der Reichstag beschäftigte sich am Donnerstag lediglich mit dem Kavitel „Reichsversicherungsamt" vom Etat des Neichsamts des Innern. Das Kapitel wurde schließlich gemäß den Kommissionsbeschlüssen erledigt unter Annahme der Reiolunon. die für die Senalspräsi'enten des Reichsversicherungsam s den Rang der Räte dritter Klasse fordert. Abgelehnt wurde eine von den Sozialdemokraten beantragte Resolution, wonach zu ständigen Mitgliedern des Reichsversicherungsamtes Techniker und National- ötonomen berufen werden sollen. Am 15. d. steht auf der Tagesordnung der Nachtrags-Etat für die China-Ex peditionen, der 123 Millionen Mk. fordert. Reichskanzler Graf v. Bülow: Die Verhand lungen in China sind langsam, aber stetig seit meiner letzten Rede fortgeschritten. Viele Köpfe unter einen Hut zu bringen, ist immer schwierig, auch unter Diplomaten. Es ist trotz der Verschiedenartigkeit der Interessen gelungen, ein bestimmtes Friedens- Programm aufzustellen. Naturgemäß haben sich aller lei Divergenzen ergeben, die hoffentlich leicht beseitigt werden können. Es gelang auch, eine definitive ge meinsame Note an die chinesische Regierung abzu- fessen, die in zwölf Paragraphen zerfällt. Wir sind jetzt in Verhandlungen mit China eingctreten, teils mrt dem Zweck, die Wiederkehr solcher Exzeße zu verhindern, te.ls um die Bezahlung der Schulden durch China festzustellen. Es war notwendig, die schuldigen Mandarinen streng zu bestrafen und den Mord unseres Gesandten zu sühnen. Ein Denkmal für unseren ermordeten Botschafter Freiherrn v. Ketwler zu erbauen und eine Mission nach Berlin zu senden, bat sich die chinesische Regierung ver pflichtet. Wir werden aber die Mission unter dem Prinzen Tschung hier erst nach Abschluß der Ver handlungen empfangen, wie ich soeben auch nach Peking in einer telegraphischen Note milgeteilt habe. Sehr schwierig ist die Entichädigungsfrage. China hat seine Pflicht zur Entschädigung anerkannt. Ueber die Höhe ist noch nichts festzustellen. Die finanzielle Fortexistenz Chinas soll nicht unmöglich gemacht werden. Wir haben die besten Gutachten von Chinakennern eingeholt, die sich dahin äußern, daß eine Kontrolle des chinesischen Finanzwesens unthunlich und nur die Uebernahme der Seezölle möglich ist. Jetzt sind diese sehr niedrig, zwei bis drei Prozent des W-rtes. Auch ein Salzzoll käme in Frage. Die Verquickung der Sache mit den Binnenzöllen ist bedenklich. Die Besitzer chinesischer Anleihen sollen nicht geschädigt werden. Die Gc- sandtenkonferenz am 16. Februar hat sich mit allen diesen Fragen beschäftigt. Unsere Ansicht haben wir in einem Exvosö an den deutschen Botschafter in London niedergelegt. (Der Reichskanzler verliest dieses.) Danach soll zunächst jeder Staat genau die Löhe seiner Kosten angeben, dann werden die Mächte China ihren Finanzplan zu oktroyieren Haden. Wie lange unsere Truppen in China bleiben werden, hängt von der Entwickelung der Dinge ab und von der Loyalität der Chinesen. Mit der bloßen Annahme der Friedensbedingungen ist nichts geihan trotz der schönsten Noten Li-Hung-Tschangs. Erst wenn wir Bürgschaften für die Zahlung der Entschädigung haben, werden wir uns aus Petschili zuruckziehen. Ebenso steht es mit dem Ober kommando. Bis die Verhältnisse sich ändern, wird Graf Waldersee sein Amt behalten, das er' so er folgreich verwaltet hat. Was die zwischen den Mächten in China bestehenden Differenzen betrifft, so verfolgen einige wirtschaftliche, andere poli tische Ziele. Wir gehören zn den ersteren. Das deutsS-engliiche Abkommen bezieht sich nicht auf die Mandschurei. Hier bestehen gar keine deut schen Interessen. Was aus der Mandschurei wird, ist uns gleichgültig, aber wir haben ein Inter esse daran, daß die wirtschaftliche Kraft Chinas nicht vermindert wird. China darf jetzt nichts weggeben aä krauäsm eroäitorum. Wir haben China dar über nicht im Unklaren gelassen: alle Mächte haben die Erklärung abgegeben, daß sie mit unserer An sicht einverstanden waren. China darf sich nichts abzwacken lassen, auch nicht von Nrivat-Gesellschaften, sonst wird es eine ausgepreßte Zitrone. Der chinesische Gesandte in Bertin beschwerte sich gestern bei uns, daß seine Regierung von Rußland auf Ratifikation des Mandschurei-Abkommens aedränqt werde. Das widerspricht allen anderen Melsungen. Wir haben den Gesandten an die Komeren; der Mächte in Peking verwiesen. Unsere Beziehungen mit Rußland find bisher in keiner Weise alieriert, von einem schärieren Gegeniap zwischen uns und Rußland in China ist keine Rede, da unsere Inter essen nicht kollidieren. Daaegen konnten wir mit England ruhig das Janatse-Abkommen treffen, das Rußland aber keinen Grund zu Mißtrauen geben kann. Zwischen uns und Frankreich oibt es in China keinen Gegensatz, die Großmachlstellung Japans erkennen wir gern an. Unsere Verbündeten Oesterreich und Italien gingen in China mit uns koniorm vor, der Dreibund ist völlig unerichs'tert. Wir hoffen, durch ein gemeinsames Vorgehen unsere friedlichen Ziele zu erreichen und alle Meinungs verschiedenheiten zu besiegen. Aba. Richter (srs. Vp.) entnimmt aus den Ausführungen des Kanzlers, daß das Ende der Erpedition noch in weiter Ferne ist, während die baldige Rückkehr der Truppen allseitig gewünscht wird, namentlich angesichts der schleckten Gesund heitsverhältnisse der D uppen. Der Oberbefehl hat Deutschland, wie zweifellos feststeht, gar keine Vor teile gebrockt. Wir haben nur gesehen, daß Ruß land und Amerika sich zurückgezogen. Redner be spricht dann das russisch-chinesische Abkommen über die Mandschurei und wünscht genaue Auskunft über dessen Einzelbeiten und Bedeutung. Jedenfalls ist jetzt schon das Signal zur Aufteilung Chinas ge geben. Abg. Graf Stolberg (kons.) begrüßt die Er klärung des Reichskanzlers und ist namentlich jetzt über das deutsch-englische Abkommen beruhigt. Abg. Bebel (soz.): Wir bewegten uns in Cbina von Anfang an in Widersprüchen. Wenn wirklich Friedensverhandlungen eingeleitet sind, dann müßten doch sofort die Feindseligkeiten daselbst ein gestellt werden. Die Zahl unserer Trupven dort steht in starkem Widerspruch zu unseren Interessen in China; wir dienen dort viel zu sehr englischen Interessen. Avg. Bachem (ZenE.) meint, die Expedition sei notwendig gewesen infolge des Gesandtenmordes. Redner beantragt sodann Verweisung an die Budget kommission. Abg. Bassermann (nat.-lib.): Die Aus führungen deS Reichskanzlers sind von einem gewisse« Optimismus erfüllt. Wie lange die Trupven in China verbleiben, das müsse der Heeresverwaltung zu entscheiden überlassen werden. Redner empfiehlt, die Vorlage nicht erst an die Kommission zu ver weisen — schon um des Eindrucks auf das Aus land willen. Reickskanzler Graf Bülow: Herr Bebel hat die Expeditionen in Petschili getadelt. Aber diese sind nötig, um dort Ruhe und Ordnung wiedcrher- zustellen. Und je eher das geschieht, desto eher können wir wieder zum Frieden kommen. Die chinesische Regierung war unfähig, das Boxer-Gefindel in Petschili zur Ruhe zu bringen. Unsere Expeditionen haben auch das Loshrecken von Ausständen in China verhindert. — Herr Richter hat nach Inhalt deS Mandschurei-Abkommens gefragt. Ja, wenn ich das wüßte I Wenn ich etwas erfahren sollte, obne Pression aus Rußland, so werde ich es Herrn Richter mit teilen. Herr Richter hat von dem Platz an der Sonne geringsckätzig gesprochen. Nun, daß wir große übeneeuche Interessen in Ostasien erlangt haben, daS ist eine Lebensfrage für uns und eine historische Thatsache, von der wir nicht abstrahieren können. Wir werden uns nicht in den Schatten drängen lassen. Damit schließt die Debatte. Der Antrag Bachem auf kommissarische Beratung wird abgelehnt, die zweite Lesung erfolgt also im Plenum. Auf der Tagesordnung stehen sodann die ein maligen Ausgaben vom Etat des ReichsamtS des Innern. Eine von der Kommission gestrichene Forderung für 'Neubau des Dienstgebäudes für das Patentamt wird nach kurzer Debatte einstimmig bewilligt. Die HnLlarvL. v) Kriminalroman von Karl v. Leistner. (Fortsetzung.) DerKutscher mußte aber, wie es Liddy däuchte, mit dem Aufladen des freilich etwas gewichtigen Kollos, das sie in der Residenzstadt statt des kleinen von Olsdorf mftgenommenen Hand- koffcrchens zu ihrer Ausstaffierung sich hatte anschaffen müssen, wohl schwer allein zustande- kommen, weil es gar so lauge dauerte, bis das Fuhrwerk zur Ab'ahrt bereit war. Nun stieg er endlich auf den Bock und knallte mit der Peitsche: Da stieß das Mädchen mit einem Male einen schwachen Schrei aus, denn als die Pferde schon im Gange waren, wurde plötzlich der Wagenschlag hastig au'gerissen, und im nächsten Moment saß dicht neben ihr eine männliche Person im Wagen, die Thüre ebenso schnell, als sie geöffnet worden war, wieder ver schließend. Wenn sie in diesem Augenblick nicht eine krankhafte Vision tä sichte, so war es der Vermummle aus dem Eisenbahnkoupee, den sie beim Aufblitzen einer Straßenlaterne zu erkennen glaubte. Sie wollte entsetzt ausspringen und nach dem Griffe des Wagenschlages die Hand ausstrecken, als sie eine Berührung am Arme fühlte, und ohnedies vom Schreck schon fast gelähmt, wider- standsun'ähig in die Ecke zurücksank. Minutenlang war sie außer stände, ein Wort hei vor ubringen oder sich auch nur zu regen. Als sie allmählich die Sprache und Bewegungsfähigkeit wieder erlangte, empfand sie, daß der Wagen nicht mehr aus gepflastertem Boden rollte. Er mußte sich also außerhalb der Stadlihore befinden, und es war ihr, als ob sie Alleebäume wie gespenstisch vorüberhnschen sehe. Dabei ging es weiter, gerade wie wenn sie noch im Train von der Lokomotive gezogen würde. Die Pierde schienen im Galopp davon zu rasen. Was geschah mit ihr?? — Etwas Furchtbares, wie sie ahnen mußiel — Endlich brachte sie ein Wort über die eisigen Lippen. „Um Gottes Barmherzigkeit willen! Wo bringt man mich hin? Das find nicht die Straßen der Stadt, hier können ja keine Gast höfe mehr sein! Kutscher! Kutscher!" Wiederum sprang sie auf und pochte an das Fenster, das sich hinter dem Gerufenen befand. Umsonst! Auch der Mann neben ihr saß laut los, wie ein Toter. Lieber hinausspringen und draußen zerschellen, als noch länger diese Angst ertragen, die mich wiederum zu lähmen droht, dachte sie und versuchte vergebens, die Thürklinke zu finden. „Bleiben!" ertönte da neben ihr eine tiefe männliche Stimme und ein kräftiger Arm zog sie wieder auf ihren Sitz. Dann aber war es wieder grausig still bis auf das Donnern und Rasseln der Räder und Schlagfenster. Noch einmal unternahm die Verlassene einen kräftigen Widerstand, nachdem sie ächzend längere Zeit in den Polstern der C a se ge legen halte — wie lange, das wußte sie selbst kaum. Abermals wollte sie den Schlug mit Gewalt ausreißen und versuchte von dem Arm, der sie daran zu hindern strebte, mit Aufbietung ihrer letzten Muskelkraft sich losuimuchiN. Es gelang n'cht, und willenlos mußte sie sich in die schreckl che Lage fügen. Es war zu viel für ein Weib ihres Alters — bald umfing sie eine tieie Ohnmacht, aus welcher sie erst langsam erwachte, als der Wagen sich nicht mehr bewegte. Aber noch war sie be täubt und an allen Gliedern gelähmt. Im Erwachen kam es ihr vor, als ob sie nun getragen statt ge'abren werde, und jetzt war alles um sie herum stockdunkel. Sie glaubte, wieder oM ihren eigenen Füßen zu stehen und hörte ein klopfendes Geräusch, dann wiederum ein tolles Lachen und verworrene Stimmen. War sie wirklich wach, oder geschah dies alles nur im Traume? Fubr sie noch im Esen- bahnkoupee, war eingeschla'en, trotzdem daß sie sich gegen den Schlummer so gesträubt hatte, und hatte nun nur geträumt, daß der unheim liche Mitpassagier sie in einem Pferdebahn- Wagen entführt habe? — Nein! Sie wachte, sie stand wirklich und zwar ganz im Dunkeln. Aber nun? Da öffnete sich eine Thür, eine häßliche Alte trat aus derselben mit einem flackernden und qualmenden Oellämpchen in der Hand, und zu dieser sprach der vermummte Fremde leise einige Worte. Himmlischer-Gott! Es war ja kein Traum, es war ja schreckliche, grausige Wahrh-it! In einem schwach erleuchteten Hausflur stand sie, und der dort war wirklich der Reisende aus dem Koupee mit semem großen, laugen, dicken Pe zwantel und bis zur Mütze ausgeschlagenen Kiagen, von dessen Gesicht man gar nichts er blicken konnte, als einen Büschel dunkler Barthaare. Der Fremse verschwand durch die Tlür, aus ^er jetzt wieder ein Lachen und Johlen herübertöme. Liddy stand im Hausflur allein mit der häßlichen allen Frau, die sich ihr nun näherte. Nun war sie wieder im Besitze ihres vollen klaren Bewußtseins und ihrer Willens kraft, sie mußte handeln — sofort! „Oeffnen Sie mir augenblicklich die Haus thür, F au! Oeffnen Sie! Ich will es!" sprach Liddy jetzt mit fester Stimme. „Wo ist der Wagen, der mich hierher gebracht hat? Er soll mich augenblicklich und ohne Verzug zur Stadt zurückfahren! Hören Sie? Ich will!" „Ei, mein schönes Fräulein, die Hausthür soll ich öffnen? Wollen Sie vielleicht in dem dichten, schwarzen, stockfinsteren Walde da draußen herumlaufen? Wäre doch schade um die hübschen Füßchen. Würden kaum wett kommen, ohne vielleicht von ein paar Strolchen angeiallen zu werden, denn sicher ist es da draußen wahrhaftig nicht, der Kutscher aber — der ist schon lange wieder foAgeiahren." „Ich bleibe nicht in diesem Hause, in das man mich mit schändlicher List und Gewalt ge bracht hat. Oeffnen Sie, ich befehle es! Lieber will lch die ganze Nacht im Walde umherirren, als hier bleiben." „Thut mir leid, wenn das liebe Fräulein sich unnötig ängstigt. Es ist keme Ursache dazu da, denn in meinem Hause ist es noch keinem ans Leben gegangen. Seien Sie doch ver nünftig und kommen Sie mit herauf in das schöne Stübchen da droben, bis es wieder Tag wird. Dann können Sie ja hingehen, wohin
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)